19
»Das heißt, Crane war zu keiner Zeit der sechste Cambridge-Spion?«
Auf einmal fühlte Gaddis das ganze Projekt wieder in sich zusammenstürzen. Keine der Spuren der letzten Wochen war brauchbar. Sie mündeten alle in einem Gasthof in Hampshire in eine Sackgasse.
»Ich verstehe nicht?«
»Bei unserem letzten Treffen haben Sie mir in aller Ausführlichkeit erzählt, wie Crane am Trinity College von Arnold Deutsch rekrutiert wurde, wie gut er mit Burgess befreundet war und dass er Ende der dreißiger Jahre einen Ring von NKWD-Spionen in Oxford leitete. Und auf einmal soll er ein Doppelagent für den MI6 gewesen sein. Was denn nun?«
»Beides.«
Am Ende seiner Geduld angekommen, stützte Gaddis die Ellenbogen auf den Tisch, nahm den Kopf zwischen die Hände und starrte auf Neame. Er musste sich eine andere Strategie überlegen, um seine Steuerschulden und Mins Schulgeld zu bezahlen. Dann lieferte er der BBC eben ein Buch über Oligarchen, eine blutrünstige Abramowitsch-Doku oder so etwas. Neames Aussagen waren in etwa so verlässlich wie die Peter Wrights.
»Was wollen Sie damit sagen, Tom? Beides?«
Zum ersten Mal wurde Gaddis ihm gegenüber etwas laut. Neame lehnte seinen Gehstock gegen die Wand und schlürfte sein Glas mit behutsamen Schlucken leer. Die Suppenschüsseln waren endlich von der Wirtin weggetragen worden.
»Nach dem Krieg machte Eddie eine Krise durch.« Neame sprach langsam, knapp, aber ohne den leisesten Anflug von Verdruss; fast so, als könnte er Gaddis’ Enttäuschung verstehen und wollte ihn beruhigen. »Er bedauerte seine Zusammenarbeit mit den Sowjets zutiefst, hatte das Gefühl, er hätte außer ein paar Informationen aus dem ULTRA-Programm keine Geheimnisse der Alliierten an Moskau weitergeben dürfen. Er wusste inzwischen, welchen Weg Stalin einschlug, und war ganz und gar nicht damit einverstanden. Und deshalb stellte er sich, kurz nachdem Guy und Donald verschwunden waren.«
Gaddis spürte ein leises Pulsieren von Hoffnung, in einen toten Kreislauf kehrte Leben zurück.
»Eddie hatte einen guten Freund beim MI5, einen Mann namens Dick White. Sie haben sicher von ihm gehört. Direktor Bereich B, Spionageabwehr. Später wurde er dann Chef des SIS. Dieser Golden Boy der Nachkriegsgeneration im britischen Geheimdienst war genau der richtige Ansprechpartner für Eddie.«
Am anderen Ende des Gastraums war ein Fensterputzer aufgetaucht, der sich an der Frontseite des Pubs zu schaffen machte. Der Mann war Ende zwanzig und trug iPod-Kopfhörer in seinen mehrfach gepiercten Ohrmuscheln. Nachdem Neame auf ihn aufmerksam geworden war, winkte er die Wirtin zu sich, die sich ihm mit der Beflissenheit einer Hofdame näherte, die an das Bett des siechen Monarchen gerufen wird.
»Na, mein Lieber, was kann ich für Sie tun?«
Sie legte dem alten Mann eine Hand auf die Schulter, und Gaddis bekam eine Ahnung von Neames Leben im Pflegeheim: der Demütigung, die es bedeuten muss, von Pflegern, die nur so überfließen vor gutem Willen, wie ein Kind behandelt zu werden.
»Ihr Fensterputzer«, sagte Neame, »ist der vielleicht hier aus der Gegend?«
Die Wirtin schaute quer durch den Raum zu dem Mann hinüber, der gerade die Scheiben einer Fenstertür ablederte.
»Wer? Danny?«
»Ja, Danny. Hat er schon öfter für Sie gearbeitet?«
Gaddis wusste, was Neame gerade tat. Er überprüfte die Vertrauenswürdigkeit des Fensterputzers. Handelte es sich um einen redlichen Handwerker oder einen MI5-Spitzel?
»Ja, der wohnt hier in der Straße. Und macht das schon eine ganze Weile für uns. Warum? Brauchen Sie einen Fensterputzer?«
Neame lächelte dankbar. »Na ja, wenn Sie ihn empfehlen, warum nicht?« Es war eine überaus überzeugende Vorstellung. »Geben Sie mir seine Nummer?«
»Mit Vergnügen, mein Lieber.«
Die Wirtin ging die Telefonummer holen, und Neame war überzeugt, dass unser Tisch nicht abgehört wurde.
»Wie ich gesagt habe«, fuhr er fort, und der vorhergehende Wortwechsel war wie ausgelöscht; kein Seitenblick, kein vielsagendes Lächeln. »White war ein alter Freund von Eddie aus Kriegszeiten. Eddie ging zu ihm und erzählte, was er getan hatte. Es war ein privates Gespräch und fand im Reform Club statt. Es beinhaltete ein vollständiges Geständnis.«
»Wie vollständig?«
»Er berichtete alles, was er je getan hatte. Nannte jeden Namen, jeden Agenten, jeden sowjetischen Führungsoffizier. Er lieferte ihnen Wynn, er lieferte ihnen Maly und auch Cairncross.«
»Ich dachte, Cairncross hätte sich ’51 gestellt?«
»Das ist die Version für die Geschichtsbücher. Gestellt hat er sich erst, nachdem er von Eddie enttarnt worden war.«
»Und Blunt? Philby?«
»Leider nicht. Weil ATTILA am Trinity College vom NKWD abgeschottet und vom Fünferring isoliert worden war, wusste Eddie nicht, dass Kim für Moskau arbeitete. Und Anthony hielt er für einen Kunststudenten. Wie wir alle. Nur über Guy wusste er Bescheid, und auf Burgess und Maclean musste er London ja nicht mehr aufmerksam machen. Die süffelten ihren Wodka längst am Dserschinski-Platz. Nein, Eddies eigentliche Domäne war Oxford gewesen.«
»Und von ihm hat White die Namen des dortigen Rings erfahren? Die Floud-Brüder, Jennifer Hart? Er hat sie auffliegen lassen?«
»Spekulation«, murmelte Neame und warf noch einen strengen Blick zu dem Fensterputzer hinüber. Gaddis hörte das Quietschen des Leders auf Glas. »Aber er hat Leo Long, Victor Rothschild, James Klugmann und Michael Straight als potentielle Quertreiber genannt. Einige Namen wurden gestrichen, andere nicht. Inzwischen war Straight in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, wo er das Leben eines vorbildlichen Staatsbürgers lebte. Zehn Jahre später legte er seinerseits ein ähnliches Geständnis gegenüber der amerikanischen Regierung ab, das zur Enttarnung von Blunt führte.«
»Und White kaufte ihm das ab? Er wollte ihn nicht einfach nur aufknüpfen?«
»Da haben mehrere Faktoren eine Rolle gespielt, Sam. White mochte Eddie und konnte verstehen, warum er sich in den Kommunismus verguckt hatte. Viele von uns konnten das verstehen. Die Zeiten waren aufregend, und in mancher Hinsicht war es eine achtbare und in gutem Glauben getroffene Entscheidung, Mütterchen Russland helfen zu wollen. Und Dick vermochte die Persönlichkeiten der jeweiligen Beteiligten durchaus differenziert einzuschätzen. So hegte Donald zum Beispiel einen tiefen und sehr fundierten Hass auf die USA. Später musste White erfahren, dass Kim ein Soziopath war. Und auch Anthony war, wie sich zeigte, außerordentlich eigennützig. Was man von Guy oder Cairncross wiederum nicht sagen konnte. Die beiden waren zusammen mit Eddie die ideologisch Gefestigsten, Spione aus Überzeugung, nicht aus fehlgeleitetem Geltungsbedürfnis. White wusste auch, dass Edward Crane ein brillanter Geheimdienstler war. Und letztendlich konnte sich das Land keinen weiteren Spionageskandal leisten. Wäre Eddie nach dem Überlaufen von Burgess und Maclean enttarnt worden, hätte das zum Sturz der Regierung führen können. Und deshalb war es in jedermanns Interesse, die Akte ATTILA unter Verschluss zu halten und, ja, diese wunderbare Gelegenheit zum Gegenschlag gegen Moskau wahrzunehmen. Unterschätzen Sie nicht die Erbitterung, mit der sich SIS und Moskau gegenseitig hassen. Das ist Feindschaft bis aufs Blut.«
»Sie haben etwas vergessen.«
»Und das wäre?«
Gaddis zog sein Jackett aus und hängte es über die Lehne seines Stuhls.
»Warum hat Crane White nichts von AGINCOURT erzählt?«
»Und wer sagt, dass er es nicht getan hat?«
Neames Antwort war faul. Es war ein Sprung in der Logik.
»Weil AGINCOURTS Identität enttarnt worden wäre, wenn er es getan hätte, und wir jetzt alles über ihn wüssten. Aber Sie haben mir von jemandem erzählt, dessen Talent von Crane entdeckt worden war, jemand, der in den Sechzigern und Siebzigern zu einer großen Figur in der Labour Party aufstieg. Wer war das? Harold Wilson?«
»Das wäre eine Sensation«, antwortete Neame, als sei ihm noch nie ein solches Gerücht zu Ohren gekommen.
Über so viel Chuzpe musste Gaddis lachen. »Ein sowjetischer Überläufer namens Anatoli Golizyn hat Wilson ’63 als KGB-Agenten bezeichnet. Haben Sie das nicht gewusst?«
Neame nickte. Zum ersten Mal sah Gaddis ihn verunsichert.
»Wilson hieß mit erstem Vornamen James. Harold war sein zweiter«, fuhr Gaddis fort. »Geboren in Yorkshire. Laut Spycatcher war der MI5 davon überzeugt, dass er ein feindlicher Spion war.«
»Na los, dann bringen Sie die Story.« Neame riss theatralisch die Augen auf und warf die Hände in die Luft.
»Ach, kommen Sie, Tom, Sie wissen doch genau, was ich von Ihnen will. Wird Wilson von Eddie erwähnt oder nicht?«
»Und ich sage Ihnen, dass ich es nicht weiß. Alles, was ich Ihnen erzähle, basiert auf einem Gespräch, das vor über zehn Jahren stattgefunden hat, und auf einem Dokument, von dem Eddie wollte, dass ich es vernichte. Mein ganz spezielles Fachgebiet ist ATTILA. Alles, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass Edward Crane von MI5 und MI6 zwischen 1951 und den späten achtziger Jahren für eine Vielzahl von Aufgaben eingesetzt wurde, zum Beispiel dafür, Moskau mit Falschinformationen zu füttern. Er fand heraus, was die Sowjets wissen wollten, und vermittelte London damit eine Vorstellung von den Wissenslücken des Feindes. Alles kam aus dieser einen Quelle.«
»Alles kam aus dieser einen Quelle«, wiederholte Gaddis verächtlich. Er hatte die Nase voll von Ausflüchten und falschen Spuren. Er war davon überzeugt, dass AGINCOURT ein reines Ablenkungsmanöver war und dass Neame ihn zu seinem persönlichen Vergnügen an der Nase herumführte. Die Geschichte war zu alt; die Verschwörungstheorie um Wilson war in den achtziger Jahren zu Tode getrampelt worden. Er hatte Neame die Theorie aufgetischt, weil sein Stolz auf dem Spiel stand.
»Wissen Sie, was ich glaube, Tom? Ich glaube, dass AGINCOURT niemand anderer als Harold Wilson war und dass in Eddies Erinnerungen nichts Neues über ihn steht. Ich glaube, dass Wilson in Oxford mit den Russen getanzt hat, ohne jemals die Hosen runterzulassen. Mit anderen Worten, Sie haben AGINCOURT ins Spiel gebracht, um Ihre Geschichte überzeugender klingen zu lassen und weil Sie dachten, dass ich es schon nicht nachprüfe. So gesehen entspricht wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte von dem, was Sie mir erzählen, den Tatsachen. War Crane der sechste Mann? War Crane ein Doppelagent? War Thomas Neame sein bester Freund, oder macht es Thomas Neame Spaß, neugierige Historiker zu veräppeln, um sich in den Mittagspausen die Langeweile zu vertreiben?«
Neame starrte ihn mit bewegungslosem Gesicht an. Und auf einmal sah Gaddis den Mann so, wie er mit dreißig oder vierzig Jahren ausgesehen haben musste, die Augen funkelnd vor Entrüstung. Vielleicht hatte eben gerade zum ersten und einzigen Mal in einem Menschenalter jemand den Mut gefunden, an Thomas Neames Integrität zu zweifeln.
»Sie glauben mir nicht«, sagte er. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Ich glaube Ihnen nicht«, antwortete Gaddis rundheraus.
Ein längeres Schweigen entstand. Es war seltsam, aber irgendwie fühlte Gaddis sich erleichtert. Er hatte reinen Tisch gemacht, Tacheles geredet. Wenn Neame sich jetzt vom Tisch erhoben, ihm die Hand gegeben hätte und in die untergehende Sonne verschwunden wäre, hätte es ihn nicht umgeworfen. Auf einer solchen Basis, den Aussagen eines unglaubwürdigen Zeugen, konnte man kein Buch schreiben; lieber der Sache ein Ende machen, als seinen Ruf für eine Geschichte mit zu vielen offenen Fragen aufs Spiel zu setzen.
»Mea culpa«, verkündete Neame plötzlich. Sein Gesicht drückte jetzt reuevolle Zerknirschung aus, und um zu zeigen, dass es ihm ernst war, hob er zwei zitternde Hände über den Tisch. Gaddis sah tiefe, in die Handflächen gezeichnete Linien. »Sie haben recht, mein Freund«, sagte er, »ich bin zu weit gegangen. Ich hätte nicht auf AGINCOURT herumreiten dürfen. Ich muss gestehen, dass ich fasziniert war von den Anspielungen in Eddies Erinnerungen. Tatsächlich hat er es in Oxford bei Wilson versucht, aber er stellt kategorisch fest, dass Wilson nie ein sowjetischer Agent war. Ich wollte es eben noch einmal von einem Experten bestätigt haben. Die Sache Wilson ist seitdem bis zum Erbrechen untersucht worden, und dabei hat keiner ihn jemals dingfest machen können.« Gaddis erwiderte nichts. Zufrieden hörte er zu, wie Neame ihm endlich reinen Wein einschenkte. »Ich wollte auch Ihre Grenzen austesten. Ich muss wissen, was Sie alles schlucken. Wenn ich Sie ohne untermauernde Fakten davon überzeugt hätte, dass Wilson ein sowjetischer Spion war, wer weiß, was andere Ihnen dann erst für Bären aufbinden könnten? Ich brauche einen Mann, auf den ich mich verlassen kann, Sam. Ich brauche jemanden, der nicht bei der ersten Erwähnung des NKWD nervös wird. Was ich Ihnen erzählt habe, ist erst der Anfang. Sie haben gewissermaßen einen Test bestanden. Glückwunsch.«
Gaddis war wie vor den Kopf geschlagen. Er versuchte sich an einem Blick, von dem er hoffte, dass er angemessen despektierlich war.
»Hören Sie, das hier ist kein Spiel, Tom. Ich mache das nicht zu meinem Vergnügen. Ich kann meine Zeit nicht mit Navis und Fensterputzern und chiffrierten E-Mails verplempern, um Ihr Ego aufzupolieren. Ich bin hier, weil ich überzeugt davon bin, dass Edward Crane der sechste Cambridge-Spion war und dass Sie der Schlüssel zu seiner Enttarnung sind. Aber wenn ich das Gefühl bekomme, benutzt zu werden, bleibe ich keine Minute länger hier sitzen. Für alte Männer, die Spaß daran finden, Hochschullehrer dem eigenen Schwanz nachjagen zu sehen, setze ich meinen Ruf nicht aufs Spiel. Überzeugen Sie mich davon, dass diese sogenannten Erinnerungen wirklich existieren, beweisen Sie mir, dass Edward Crane der sechste Mann war, oder rufen Sie Peter an, damit er Sie nach Hause fährt. Weil unser Deal dann geplatzt ist.«
»Oh, das bezweifle ich ganz entschieden«, erwiderte Neame mit einem Anflug von Boshaftigkeit, und Gaddis meinte die Stimme eines Mannes zu hören, der sein Leben lang andere an der Nase herumgeführt hat und der Meute immer einen Schritt voraus war. Er blickte dem Mann in die festen blauen Augen, und plötzlich meinte er mit einem ihm ins Mark gehenden Schaudern zu wissen, dass Thomas Neame und Edward Crane ein und dieselbe Person waren. Konnte das sein? Der Gedanke ließ ihm den Kopf schwirren, Hitze in den Nacken steigen. Er hatte ihn unvorbereitet getroffen, und Gaddis versuchte sich zu beruhigen, indem er angesichts von Neames Antwort standfest blieb.
»Stellen Sie mich auf die Probe«, sagte er.
Neame atmete flach, und plötzlich schien ihn wieder dieser Schmerz zu packen, der ihm in der Kathedrale ein paar Mal in den Rücken gefahren war. Er zuckte zusammen, führte eine Hand zur Schulter, fasste in den dicken Tweedstoff und rieb sich den Knochen. Instinktiv beugte Gaddis sich vor und legte Neame eine Hand auf den Arm. Aber wen berührte er? Thomas Neame oder Edward Crane?
»Geht es?«
Neame hielt den Blick gesenkt, wog seine Optionen ab, und Gaddis meinte beinahe, seine Gedanken lesen zu können. Soll ich mit dem Mann weitermachen oder mir einen anderen Abnehmer für die Geschichte suchen? Dann fing er an zu reden.
»Dick White ordnete eine vollständige interne Überprüfung Eddies an, mit dem Ziel, ihn vom Verdacht der Verbindungen zum Kommunismus freizusprechen.«
Neame war offenbar zu dem Schluss gekommen, dass er noch mehr preisgeben musste.
»Es traf sich also gut, dass Eddie nie Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war«, fuhr er fort. »Auch sein Jahr in Oxford wurde sorgfältig unter die Lupe genommen. Und über seine Freundschaft mit Burgess am Trinity College war in den Akten nichts mehr zu finden.«
Was blieb Gaddis anderes übrig, als sich darauf einzulassen?
»Trotzdem grenzt es an ein Wunder, dass er so lange unentdeckt blieb – auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Zumindest die Yanks hätten Lunte riechen müssen. Und auch die sowjetischen Überläufer der nächsten Jahre hätten über ATTILA Bescheid wissen müssen. Allen voran Golizyn.«
Neame genoss diesen Einwand.
»Und ob sie Bescheid wussten. Aber das spielte keine Rolle. Golizyn erzählte den Yanks von Crane, und die Yanks kamen zu uns – nervös, um es vorsichtig auszudrücken. Wir setzten sie über ATTILAS Doppelleben ins Bild, und Eddies Name wurde aus den Abschriften von Golizyns Berichten entfernt. Genau die gleiche Prozedur, als Gordijewski herüberkam. ›Aha, Sie haben von Crane gehört? Kein Wort darüber.‹ Ganz einfach.«
›… kamen zu uns.‹ Warum rückte Neame seine Person ins Zentrum des Vorgangs?
»Aber Golizyn ist ’61 übergelaufen«, erwiderte Gaddis. »Danach hat Crane noch fünfundzwanzig Jahre weitergemacht. Und die Sowjets sollen nicht einmal Lunte gerochen haben, als ihre Agenten im Westen einer nach dem anderen aufflogen? Lonsdale? Vassell? Blake? Fanden die es gar nicht seltsam, dass ATTILA noch da draußen war, quicklebendig und gesund, und seiner Arbeit für Mütterchen Russland nachging?«
Neame blieb ungerührt.
»Junger Mann, ich denke, diese Fragen sollten Sie besser einem ehemaligen Mitarbeiter des KGB stellen. Ich habe keine Ahnung, was die sich gedacht haben. Ich stelle mir vor, dass die Sowjets Tausende von Agenten überall auf der Welt beschäftigten. Und nur weil zwei oder drei von ihnen in Europa aufgeflogen waren, mussten sie ja nicht gleich an einer Quelle zweifeln, die seit dem Krieg für sie lieferte.«
»Warum ist Cranes Geschichte dann nie öffentlich geworden? Wenn die Russen immer noch glaubten, dass ATTILA einer von ihnen war, dann hätten sie das den Briten doch längst unter die Nase gerieben.«
»Ah.« Dass Gaddis den Zusammenhang herstellte, schien den alten Mann zu freuen. »Meine private Theorie ist, dass Moskau kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entdeckt hat, dass ATTILA ein Doppelagent war.«
»Erst 1991? Was bringt Sie zu der Vermutung?«
»Denken Sie nach, Sam. Das Datum.«
Gaddis brauchte ein paar Sekunden, bis es klick machte.
»St. Mary’s. Anfang 1992 hat der MI6 Eddies Tod vorgetäuscht.«
»Ganz genau. Weil sie fürchteten, dass der KGB ihm zu Leibe rücken würde.«
»Hat Eddie Ihnen das erzählt?«
»Natürlich hat Eddie mir das erzählt. Wenn Ihr bester Freund Ihnen verrät, dass der MI6 seinen Tod vortäuschen will, dann fragen Sie ihn doch wohl nach dem Grund, oder? Eddie hat gesagt, dass ATTILA in Moskau aufgeflogen war und alle, die mit ihm zu tun hatten, einer nach dem anderen kaltgemacht wurden.«
Auch wenn Gaddis sich der Logik dieser Version nicht verschließen konnte, fand er ein Haar in der Suppe.
»Okay, aber mit dem gleichen Recht kann man fragen, warum die Briten nicht ihre Version der Geschichte erzählt haben. Sie haben gesagt, ATTILA sei einer der großen Geheimdienstcoups des Kalten Krieges gewesen. Warum hat London nicht die Gelegenheit ergriffen, Moskau bloßzustellen?«
»Wegen der Kriegsjahre. Edward Crane war ja ein sowjetischer Agent. Solche Dinge macht man nicht publik, schon gar nicht nach dem Fiasko mit Blunt. Abgesehen davon hatte eine neue Ära in den britisch-russischen Beziehungen begonnen. Warum unnötig Staub aufwirbeln? Der SIS behält seine Geheimnisse gerne für sich. Das Agentenspiel ist keine PR-Veranstaltung. Eddie hätte liebend gerne in Erfahrung gebracht, wer ihn auffliegen ließ. Wie die Russen ihm schließlich doch noch auf die Schliche gekommen waren.«
Einen Moment lang dachte Gaddis, Neame erwarte eine Antwort von ihm, aber dann sprach der alte Mann weiter.
»Bis zu diesem Punkt war ich mit Miss Berg gekommen«, sagte er. Während eines kurzen Blickwechsels mit Gaddis wirkte er ehrlich betroffen über den Verlust. »Sie suchte nach einer Antwort auf diese Frage, als der Tod sie geholt hat.«
»Und, war sie schon fündig geworden?«
»Sie war Ihre Freundin, Sam. Ich weiß es nicht.«
Es entstand ein längeres Schweigen. Gaddis ahnte, dass Neame noch mit etwas hinter dem Berg hielt.
»Tom?«
»Ja?«
»Sie sehen aus, als würden Sie mir etwas erzählen wollen. Etwas über Charlotte?«
Neame blickte hinüber zur Bar, dann auf seine zittrigen, fleckigen Hände. »In Moskau lebt eine Frau namens Ludmilla Tretiak. Sie ist die Witwe von ATTILAS drittem und letztem KGB-Führungsoffizier, Fjodor Tretiak. Ich habe Charlotte vorgeschlagen, sie ausfindig zu machen.«
»Und? Hat sie das getan?«
Neames Blick wanderte hinüber zur Bar. »Ich weiß es nicht. Ludmilla war eine Spur, die Eddie verfolgen wollte, bevor er untertauchen musste. Ich habe Charlotte allerdings gewarnt und sie gebeten, vorsichtig zu sein.«
»Warum?«
»Tretiak wurde 1992 in St. Petersburg ermordet.«
»Im selben Jahr, in dem Eddie im St. Mary’s vermeintlich vor seinen Schöpfer getreten war.«
»So ist es. Und wer glaubt da schon an einen Zufall? Falls Ludmilla Tretiak der Überzeugung ist, dass ihr Mann vom KGB ermordet wurde, könnte sie auch bereit sein, mit jemandem darüber zu reden. Das würde allerdings bedeuten, dass sie observiert wird. Auch heute noch.« Neames resigniertes Lächeln sollte Gaddis warnen. »Wenn Sie nach ihr suchen, dann mit der gebotenen Vorsicht. Mehr will ich nicht sagen. Sorgen Sie dafür, dass niemand ihr Gespräch mit einem neugierigen Historiker belauscht.«