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Gaddis stand in demselben Zimmer, in dem er von Charlottes Tod erfahren hatte, aber diesmal war seine Reaktion eine völlig andere. Er unterbrach die Verbindung, drehte sich zu dem großen Bücherregal um, das eine Seite seines vollgestellten Arbeitszimmers einnahm, und fühlte nichts als nackte Angst. Für eine ganze Weile blieb er einfach nur bewegungslos stehen, sein blockiertes Gehirn wehrte sich gegen die unvermeidliche Logik dessen, was man ihm gerade mitgeteilt hatte. Wenn Calvin Somers ermordet worden war, dann war Charlotte mit hoher Wahrscheinlichkeit denselben Leuten zum Opfer gefallen. Was nichts anderes bedeutete, als dass sein eigenes Leben in Gefahr war, und auch das von Thomas Neame und Ludmilla Tretiak. Gaddis merkte, dass er begann, in der dritten Person an sich zu denken, so als wäre er von sich und seinem vertrauten, sicheren Leben abgetrennt; das war eine Art Denktrick, eine instinktive Abwehrreaktion, mit der sich die Wahrheit seines Dilemmas verleugnen ließ. Aber man entkam der Wahrheit nicht. Wer immer Somers getötet hatte, würde seine Aufmerksamkeit jetzt direkt auf ihn richten.

Er starrte immer noch auf das Bücherregal, sein leerer Blick sprang von Buchrücken zu Buchrücken. Sollte er zur Polizei gehen? Konnte er behaupten, dass Charlotte ermordet worden war? Wer würde ihm das glauben? In dem Haus in Hampstead hatte es keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung gegeben. Charlotte hatte ein schwaches Herz und führte einen ungesunden Lebensstil, da biss die Maus keinen Faden ab. Außerdem war sie verbrannt worden, für eine Autopsie war es zu spät. Gaddis wusste weder, warum Somers getötet worden war, noch, wer das Verbrechen ausgeführt hatte. Er vermutete, dass der russische Geheimdienst dahintersteckte, aber warum sollte man einen Mann töten, nur weil er gewusst hatte, dass Edward Cranes Tod vom MI6 vorgetäuscht worden war? Vielleicht waren die Briten selbst darin verwickelt. Doch würden sie wirklich einen ihrer Landsleute umbringen, nur weil er sich nicht an die Absprachen einer Geheimaktion gehalten hatte? Das erschien wenig wahrscheinlich.

Er versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, Logik in sein Denken zurückzuholen. Tatsache war: Der russische Geheimdienst rottete systematisch alle aus, die in Verbindung zu ATTILA standen. Aber wenn das so war, weshalb hatte die Londoner Botschaft ihm noch vor zehn Tagen ein Touristenvisum gewährt, ohne Fragen zu stellen? Warum hatten sie ihn in Scheremetjewo unkontrolliert die Sperre passieren lassen? Ein kleiner Gedanke, der Gaddis einen Augenblick des Trostes schenkte, bis er sich klarmachte, dass der FSB ihn womöglich absichtlich nach Moskau hatte einfliegen lassen, um ihn dort beschatten, seine Kontakte isolieren zu können. Wenn das so war, hatte er sie direkt zu Ludmilla geführt. Er wandte den Blick vom Bücherregal, öffnete das Fenster seines Arbeitszimmers, starrte in einen schwarzen, regenschweren Himmel und sog die nasskalte Londoner Luft tief in seine Lungen. Er hatte das Gefühl, dass ihm die Züge ausgegangen waren; die Verschwörung war zu groß, die wichtigsten Figuren entweder tot oder außerhalb seiner Reichweite. Mit wem konnte er reden, wer konnte ihn ins Bild setzen über das, was hier vor sich ging?

Neame.

Gaddis griff nach seinem Jackett und der Tasche, verschloss sein Büro und fuhr mit der U-Bahn zur Waterloo Station. Aus einer Telefonzelle in der Schalterhalle rief er Peter an, aber der ging immer noch nicht ran. Auf Gleis 6 stand ein Zug nach Winchester bereit, Abfahrt 11.39 Uhr, und auf dem Nebengleis am selben Bahnsteig einer nach Guildford, der fünf Minuten später abfuhr. In der Hoffnung, mit dieser Strategie eventuelle Verfolger abzuschütteln, stieg Gaddis zuerst in den Zug nach Guildford, setzte sich auf einen Klappsitz gleich neben der automatischen Tür, lief um 11.38 Uhr quer über den Bahnsteig und sprang in den Zug nach Winchester. Er hätte nicht beschwören können, dass ihm niemand gefolgt war, aber dreißig Sekunden später setzte sich der Zug in Bewegung, und als er sich in die Polster seines Sitzes zurücklehnte, schwante ihm, dass Flucht- und Täuschungsmanöver von nun an zu seinem Leben gehören würden, auch wenn er alles andere als darauf vorbereitet war.

Eine Stunde später versuchte er aus einer Telefonzelle vor dem Bahnhof in Winchester noch einmal, Peter anzurufen. Diesmal meldete er sich. Der Klang seiner Stimme kam Gaddis wie der erste Glückstreffer seit Wochen vor.

»Peter? Hier ist Sam. Ich muss mit unserem gemeinsamen Freund reden. Sofort.«

»Ich rufe zurück.«

Die Leitung war tot. Gaddis stand in einer Telefonzelle, in der es nach Urin und Männerschweiß roch. Er öffnete die Tür, um frische Luft hereinzulassen, und während er wartete, gegen das vom Alter trüb gewordene Glas gelehnt, wurde ihm klar, dass es nicht mehr das Geld war, das ihn hinter Crane herjagen ließ. Längst ging es nicht mehr um Alimentezahlungen und Steuerschulden oder Schulgeld. Es war zu einer Frage des Überlebens geworden – ohne das fertige, jedermann zugängliche Buch war er ein toter Mann.

Das Telefon klingelte. Gaddis griff zum Hörer, bevor der erste Klingelton verhallt war.

»Sam?«

»Ja?«

»Ich fürchte, das wird heute nichts. Dem alten Mann geht’s nicht gut. Schnupfen.«

Normalerweise hätte Gaddis ihm seine Genesungswünsche übermitteln lassen, aber nicht diesmal. Diesmal verlieh er seinem Anliegen mit lauter Stimme Nachdruck, damit Peter begriff, wie wichtig ihm dieses Treffen war.

»Es interessiert mich einen Scheißdreck, wie es ihm geht. Wenn er hört, was ich ihm zu berichten habe, wird er dankbar sein, dass er nur Schnupfen hat.«

»Es ist nicht nur ein Schnupfen, fürchte ich.« Behutsam bastelte Peter an seiner Geschichte. »Er hat Fieber. Er muss im Heim bleiben und das Bett hüten.«

»Und wo ist dieses Heim?«

»Das darf ich Ihnen leider nicht sagen.«

»Und was dürfen Sie mir sagen? Dürfen Sie mir zum Beispiel sagen, warum Calvin Somers ermordet worden ist?«

»Calvin wer?«

»Ach, vergessen Sie’s.« Es war sinnlos, mit Neames Türsteher das Streiten anzufangen, und wenn es noch so guttat, dem Ärger Luft zu machen. Stattdessen fragte er Peter, ob er etwas zu schreiben hätte.

»Ja.«

»Dann schreiben Sie jetzt mit, was Sie Tom erzählen sollen. Calvin Somers ist ermordet worden.« Er buchstabierte den Namen. »Auch Charlotte Berg ist ermordet worden. Und so wie die Dinge liegen, könnte Tom der Nächste sein.«

»Lieber Gott!« Zum ersten Mal hatte Gaddis das Gefühl, dass Peter die Ruhe verlor. »Sie bringen diese Leute doch nicht hierher zu uns, oder, Sam?«

Gaddis ignorierte die Frage. »Das ist noch nicht alles«, sagte er. »Ludmilla Tretiak« – wieder musste er den Namen buchstabieren – »ist von Sergej Platow persönlich dazu aufgefordert worden, mit niemandem über ATTILA zu reden. Tretiak steht höchstwahrscheinlich unter Beobachtung des FSB. Es gibt eine Verbindung zu Cranes Zeit in Berlin, aber ich weiß noch nicht, worum es da geht. Fragen Sie Tom, ob er etwas über Cranes Aktivitäten in Ostdeutschland gegen Ende der achtziger Jahre finden kann. Die Festplatten auf Charlottes Computer sind systematisch gelöscht worden. Jemand hat gewusst, dass sie an Crane dran war. Erzählen Sie ihm das alles.«

»Klingt ganz so, als sollten Sie ihm das lieber persönlich erzählen«, antwortete Peter, und einen Moment lang hoffte Gaddis, die Festung sturmreif geschossen zu haben. Aber er wurde enttäuscht. »Morgen und übermorgen wird Tom noch brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen. Könnten Sie am Wochenende zu uns rauskommen?«

»Am Wochenende fliege ich nach Berlin«, erwiderte Gaddis. Er hatte den Beschluss im Zug gefasst. Die Kosten würde er mit der Kreditkarte bestreiten. Benedict Meisner war seine letzte Hoffnung auf einen Durchbruch. »Montag?«

»Montag«, bestätigte Peter. »Seien Sie um elf in der Kathedrale. Ich verspreche Ihnen, dass wir da sein werden.«