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Es war ein Liebesbrief.

Meine geliebte Katya,

hier kommt die letzte Lieferung des versprochenen Materials. Arbeite es gründlich durch, dann findest Du vielleicht ein paar Sachen, die auch die Öffentlichkeit interessieren könnten. Halte bitte die Augen nach Platow offen. Um ihn geht es in erster Linie. Mehr darf ich dazu nicht sagen.

Hier gleicht ein Tag dem anderen. Ich gehe spazieren, ich lese, ich fühle mich sehr fern von zu Hause. Die meiste Zeit macht mir das nichts aus. Rachel sehe ich oft, sie wohnt nur ein paar Stunden entfernt und hat mir zwei wunderbare Enkelkinder geschenkt. So nach und nach gewöhne ich mich sogar an ihren Mann – ich scheine mit den Jahren milder zu werden.

Aber Catherine fehlt mir, und Du fehlst mir, mein Liebling. Ich denke immerzu an Dich, und das, obwohl ich kein sentimentaler Mensch bin. Das weißt Du. Der Gedanke, dass Du nie mehr in meinen Armen schläfst, dass wir für immer getrennt sind, ist manchmal schwer zu ertragen. Ich habe viele Fehler gemacht, und jetzt ist es wohl zu spät.

Ich bedaure vieles, und am meisten von allem, dass ich meine Karriere über ein glückliches Leben mit Dir gestellt habe. Aber dieses Lamento hab ich Dir schon so oft vorgesungen. Bedauern hilft einem nicht weiter. Ich möchte Dich nur darum bitten, wenigstens einmal darüber nachzudenken, ein letztes Mal, ob Du nicht doch nach Neuseeland kommen könntest, und wenn es nur für ein, zwei Wochen wäre. Ich verspreche Dir, dass es Dir hier gefallen wird.

Viel Glück mit Deinem Buch, Katty. Ich habe versucht, Dir zu helfen, und wünschte, ich könnte mehr tun.

In tiefer Liebe, immer Dein

Robert x

Am Schluss ihres ersten gemeinsamen Wochenendes hatte Holly Gaddis erzählt, dass ihre Mutter das Material über den KGB von einem früheren Freund beim MI6 erhalten hatte. Das musste er sein. Dieser Robert Wilkinson war die Quelle des Archivs. Der Brief trug das Datum vom 5. Mai 2000. Aber was hatte er mit den Sätzen im ersten Absatz gemeint? »Halte die Augen nach Platow offen. Um ihn geht es in erster Linie.«

Es ging auf halb fünf zu. Gaddis las den Brief ein zweites Mal, versuchte sich einen Reim auf den Charakter der Beziehung zwischen Wilkinson und Katya Levette zu machen. Waren sie verheiratet gewesen? Lieber Gott, womöglich war er Hollys Vater. Darauf konnte ihm nur Holly eine Antwort geben, aber sollte er sie deshalb mitten in der Nacht aufwecken? Seine Fragen würden bis zum Frühstück warten müssen.

»Was machst du?«

Mit zusammengekniffenen Augen und schlafzerzaustem Haar, von dem eine Strähne ihr an der Wange klebte, stand sie auf der anderen Seite des Zimmers. Beim Klang ihrer Stimme war er zusammengezuckt. Er legte den Brief auf den Tisch, als hätte Holly ihn beim Lesen ihrer privaten Korrespondenz ertappt. Sie trug seinen Morgenmantel, die Kordel hing zu beiden Seiten herunter.

»Hab ich dich geweckt?«

»Nein. Ich hatte Durst. Und du warst nicht da. Ich wollte wissen, wo du bist.« Sie blinzelte in das Licht. »Warum bist du schon auf? Wie spät ist es?«

Hinter ihr sah Gaddis die Handtasche auf dem Boden liegen und spürte einen Stich der Reue. »Gleich halb fünf«, sagte er. Er war wieder hellwach, die einschläfernde Wirkung von Wein und Paracetamol war schon lange verflogen. »Wer ist Robert Wilkinson?«

»Was?«

Ihr Kopf war auf die Seite gekippt. Sie wirkte überrascht.

»Du kennst ihn also?«

»Bob? Und ob ich ihn kenne. Er war Mums Freund. Wie kommst du auf seinen Namen?«

»Ich habe einen Brief gefunden.« Er hielt ihn ihr entgegen, damit sie ihn las. Aber sie schlief noch halb und sagte: »Kann ich ihn nicht morgen lesen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, es ist wichtig. Hat deine Mutter das Zeug von ihm bekommen?«

Er deutete auf die Kartons auf dem Tisch. Schon ein außergewöhnlicher Zufall, dass sich ein Brief dieses Robert Wilkinson die ganze Zeit in einem Schuhkarton im Kofferraum ihres Autos versteckt hatte. Und warum brachte sie ihm den ausgerechnet heute? Holly zog die Stirn in Falten, ihre halbgeschlossenen Augen wehrten sich noch gegen das grelle Licht in der Küche.

»Scheiße, Sam, es ist mitten in der Nacht. Du hast das Zeug seit Wochen hier rumliegen.«

»Den hier nicht.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf den Brief. »Der ist erst heute gekommen.«

»Komm wieder ins Bett«, sagte sie. »Bob war verliebt in Mum. Verrückt nach ihr. Beim Frühstück erzähl ich dir von ihm.«

»Was meinst du damit, verrückt‹?«

Sie tat einen Schritt nach vorn, fasste seinen Arm. »Beim Frühstück.«

»Nein. Bitte.« Er hatte eine Hand um ihre Hüfte gelegt, hielt sie fest. Plötzlich wehte der Geruch ihrer Weiblichkeit ihn an, und er dachte an Tanyas Betrug. »Ich muss es wissen. Du musst es mir sagen. Wach endlich auf. Soll ich uns Tee machen? Oder Kaffee?«

»Das ist lächerlich.« Sie gestattete ihm, sie auf einen Stuhl zu ziehen. »Wenn ich es dir erzähle, lässt du mich dann weiterschlafen?«

»Dann lass ich dich weiterschlafen.«

»Gut.« Sie stützte die Ellenbogen auf den Küchentisch, die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt, als wollte sie sich zum Gebet bereitmachen. »Bob Wilkinson«, murmelte sie leise. Offenbar fiel es ihr schwer, sich an Einzelheiten zu erinnern. »Er war Mums letzter Geliebter vor Dad. Vielleicht sogar ihre große Liebe. Das weiß ich nicht mehr.«

»Und du hast ihn kennengelernt?«

»Sicher.«

»Was ist er für ein Mann?«

Sie hob den Blick, sah Gaddis verärgert an, als betrachtete sie es als ungeheure Zumutung, morgens um halb fünf Uhr eine Kurzcharakteristik von ihr zu verlangen.

Er gab nach. »Okay, gut. Sag mir wenigstens, seit wann sie miteinander zu tun hatten.«

Er war aufgestanden, während er die Frage gestellt hatte, und schaltete ein kleines Digitalradio in der Ecke an. Um zu verhindern, dass jemand ihr Gespräch mithörte. Klassische Musik ergoss sich in den Raum. Holly runzelte die Stirn, aber sie war zu müde, um sein seltsames Benehmen zu hinterfragen. »Ach, das weiß ich nicht, Sam. Seit den frühen Siebzigern, vermute ich.« Sie schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Mum dürfte ungefähr in meinem Alter gewesen sein. Sie waren so gut wie verlobt, da wurde Bob vom Foreign Office oder so etwas ins Ausland geschickt, und ihre Geschichte war zu Ende.«

Das gefiel Gaddis nicht. »Vom Foreign Office oder so etwas.« Das klang beinahe so, als wollte sie ihm als Entschädigung für eine Lüge etwas hinwerfen.

»Er hat seine Karriere über deine Mutter gestellt?«

»Na ja, so kann man es auch sehen.« Sie lachte. »Mum war sogar erleichtert. Sie lernte meinen Vater kennen, kurz darauf heirateten sie und bekamen mich. Und wir lebten alle glücklich und zufrieden.« Sie fing an, mit dem Deckel eines der Schuhkartons herumzuspielen. »Aber Bob konnte sie einfach nicht vergessen. Er hat geheiratet, sich wieder scheiden lassen und ist immer in Kontakt mit Mum geblieben, und nachdem Dad gestorben war, hat er ihr beruflich sehr geholfen.«

Gaddis bemerkte, dass sie die Stirn in Falten zog.

»Was ist?«

Holly schüttelte den Kopf. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie, so vor etwa zehn Jahren, eine Art Neuauflage ihrer Affäre hatten.« Sie drehte sich zu dem Radio um. »Warum stellst du das Scheiß-Klassikradio an?«

»Das ist immerhin das Klassikprogramm der BBC. Radio 3.«

Holly stand auf, schenkte sich ein Glas Mineralwasser aus einer Flasche im Kühlschrank ein und drehte das Radio leiser. Gaddis wollte protestieren, aber er ließ es. Er wollte sie nicht auch noch mit einer paranoiden Tirade über Abhörsysteme verstimmen. Stattdessen sah er ihr zu, wie sie ihr Wasser trank – in einem Zug, wie eine Kur gegen den Nachdurst –, bevor sie zurück zu ihrem Stuhl ging.

»Mum hat über politische Themen geschrieben, Spionage.« Holly war zu Bühnenflüstern übergegangen, den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Sie bekam Spaß an der Sache. »Bob war ein großer Spion. Eiserner Vorhang. Kalter Krieg. Fürchtest du dich deshalb, abgehört zu werden?« Jeden Moment schien sie in lautes Gelächter ausbrechen zu wollen. »Benutzt du Mums Material, um ein Buch über den MI6 zu schreiben?«

Er forderte sie mit einer Handbewegung zum Weiterreden auf.

»Soviel ich weiß, fütterte Bob meine Mum ständig mit kleinen Leckerbissen, Agentenklatsch, Gerüchten aus Washington und Westminster.« Sie klopfte mit den Knöcheln auf den Tisch. »Fünfzig Prozent des Zeugs dürften von ihm stammen. Es war seine Art, Zuneigung auszudrücken. Oder er wollte sein schlechtes Gewissen beschwichtigen, weil er zu den Russen übergelaufen war. Es war sein Wunsch, dass sie ein großes Buch über die westlichen Geheimdienste schreiben sollte, über all die Dinge, die Bob Wilkinson nicht aussprechen durfte, weil das Gesetz ihn zum Schweigen verpflichtete.« Sie nahm Gaddis’ Hand in ihre, und plötzlich schien alle Lebhaftigkeit wieder aus ihr gewichen zu sein. »Aber Mum war dazu gar nicht in der Lage. Wahrscheinlich hat sie das Material nicht einmal gelesen. Irgendwann ging Bob ihr auf die Nerven. Er war wie eine lästige Fliege, die sich nicht vertreiben lässt. Es ging ihr ja nie so gut, dass sie hätte arbeiten können. Ich glaube, Bob lebt jetzt in Neuseeland. Ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«

»Ist er nicht zum Begräbnis deiner Mutter gekommen?«

Holly schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht mehr. Zu der Zeit hab ich einen neuen Weltrekord im Valiumkonsum aufgestellt. Kann sein. Kann auch sein, dass er nicht mal weiß, dass sie tot ist.«

Gaddis nahm den Brief zur Hand und reichte ihn ihr. Ein Lastwagen rumpelte mitten in der Nacht über die Temposchwellen draußen auf der Straße. Er deutete auf die Zeilen über Platow. »Was denkst du, was könnte er damit gemeint haben?«

»Hier?« Holly kniff die Augen zusammen wie eine alte Frau, die ihre Brille verlegt hatte. »Platow? Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

Gaddis studierte ihr Gesicht, immer noch nicht überzeugt, dass er hier nicht manipuliert wurde. »Deine Mutter hat nie darüber gesprochen, dass sie über jemanden im Kreml recherchierte?«

»Nie.« Holly lehnte sich mit einem fragenden Stirnrunzeln zurück in ihren Stuhl. »Ich dachte, du bist hier der Platow-Experte. Was läuft hier, Sam?«

»Das frag ich dich.«