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Vierzig Minuten vorher war Tanya Acocella in einer Mitteilung darüber informiert worden, dass Dr. Sam Gaddis – er hatte inzwischen den Codenamen EISBÄR bekommen, weil er, wie Brennan gescherzt hatte, »auch vom Aussterben bedroht war« – ein Internetcafé in der Uxbridge Road aufgesucht und von dort einen easyJet-Flug nach Berlin gebucht hatte. Er würde am Freitagmorgen um 8.35 Uhr von London Luton abfliegen und am übernächsten Tag zurückkehren. Gaddis hatte seine Mastercard mit dem Flugpreis und – im Rahmen eines Pauschalangebots der Fluggesellschaft – mit zwei Übernachtungen im Novotel am Tiergarten belastet. Aus der Tatsache, dass Gaddis einen öffentlichen Computer statt den PC bei ihm Hause benutzt hatte, zog Tanya den Schluss, dass ihm inzwischen klar geworden war, dass mit seinem Interesse an ATTILA die Gefahr einherging, observiert zu werden.

Als die Sonne nach einem kristallklaren Londoner Tag unterging, rief sie Sir John Brennan an.

»Können Sie im Zusammenhang mit ATTILA etwas mit den Namen Robert Wilkinson und Dominic Ulvert anfangen?«

Brennan kam gerade aus einem Squashcourt in Vauxhall und war in Schweiß gebadet. Er ließ Tanya die Namen wiederholen, um dann einen so lauten Fluch auszustoßen, dass eine Putzfrau drüben im Damen-Umkleideraum zusammenzuckte.

»Gottverfluchter Scheißdreck, wie kommt Gaddis an diese Informationen?«, bellte er. »Wir treffen uns im Hof. In einer halben Stunde.«

Während Brennan duschte und sich wieder in seinen grauen Anzug warf, startete Tanya eine Suche nach Wilkinson und Ulvert und stieß auf dieselbe Mauer aus Zugangsbeschränkungen wie schon bei ihren Recherchen der Namen Edward Crane und Thomas Neame. Irgendwo versuchte jemand, sie daran zu hindern, ihre Arbeit zu machen. Es war das Erste, das sie zu Brennan sagte, als sie sich mit ihm im Hof traf. Er hatte die Tür zum Gebäude verriegelt, damit sie in dem normalerweise von Rauchern bevölkerten Bereich allein blieben. Offensichtlich wollte der Chef von niemandem gestört werden.

»Mit Verlaub, Sir, aber ich glaube, Sie verschweigen mir noch ein paar Dinge über ATTILA

Brennans Blick ruhte auf Tanyas Beinen. Beim Squash hatte er sich einen Muskel im Arm gezerrt.

»Vielleicht verschweigen Sie mir auch ein paar Dinge«, erwiderte er und drehte sich um. Er hielt es keineswegs für akzeptabel, dass Acocella seine Methoden kritisierte. »Bei unserem letzten Gespräch hieß es, Gaddis sei hinter Harold Wilson her. Und jetzt soll er auf einmal über Robert Wilkinson gestolpert sein?«

»Haben Sie nicht selber gesagt, dass AGINCOURT eine falsche Fährte war, Sir?«

»Schon gut, schon gut.« Plötzlich klang er versöhnlicher. Schon beim Ankleiden nach dem Duschen hatte Brennan gewusst, dass er ein paar Aspekte von ATTILAS Tarnung nicht länger unter Verschluss halten durfte. Man konnte von Tanya keine ordentliche Arbeit verlangen, wenn man ihr eine Hand auf den Rücken band. »Vielleicht hätte ich von Anfang an etwas offener sein sollen.«

Tanya wunderte sich, wie schnell Brennan klein beigab.

»Beim Fall der Mauer war Bob Wilkinson Leiter des Berliner Stützpunkts. Er hatte fast ein Jahrzehnt in Ostdeutschland operiert. Ulvert war eines seiner Pseudonyme. 1992 wollte der FSB ihn in London ermorden. Der Versuch schlug fehl, aber Wilkinson zog die Konsequenzen und wanderte nach Neuseeland aus, so weit fort von seinem alten Leben wie überhaupt möglich.«

»Warum wollte der FSB ihn töten?«

»Weil er ATTILA gekannt hatte.« Tanya beobachtete beim Zuhören Brennans Gesicht. Irgendwie spürte sie, dass er immer noch mit etwas hinter dem Berg hielt. »Die Russen ertrugen es einfach nicht, über einen so langen Zeitraum verarscht worden zu sein. Sie fingen an, jeden zu eliminieren, der mit Crane in Verbindung gestanden hatte.«

»Jeden? Wären das nicht sehr viele Leute gewesen? Crane war fast ein halbes Jahrhundert lang aktiv.«

Insgeheim gab Brennan ihr recht, aber aus Gründen, die sie hoffentlich nie erfahren würde, durfte er im Moment nicht mehr sagen.

Er lavierte sich heraus: »Bei den Opfern handelte es sich vor allem um die dienstälteren Akteure, die in den achtziger Jahren direkt mit Crane zu tun hatten. Ein KGB-Offizier namens Fjodor Tretiak, zum Beispiel, war von 1984 an ATTILAS Führungsoffizier in Ostdeutschland gewesen. Tretiak wurde 1992 auf dem Heimweg in seine Petersburger Wohnung erschossen. Bob Wilkinson haben sie in Fulham eine Bombe unters Auto gelegt. Er überlebte, weil er es sich in seiner Zeit in Nordirland angewöhnt hatte, sein Auto minutiös abzusuchen, bevor er einstieg. Kurz darauf ist er nach Auckland ausgewandert, in großem Unfrieden, muss ich leider sagen. Seit zehn Jahren hat er mit keinem vom Service ein Wort gewechselt, und daran wird sich wohl auch nichts mehr ändern.«

»Warum im Unfrieden?«

Brennan murmelte seine Antwort so leise, dass der Wind sie verwehte. Tanya trat näher an ihn heran und fragte sich, warum er immer noch so störrisch war. Ihr Blick fiel auf ein paar hässliche Schrammen auf seinen eleganten Halbschuhen, als hätte jemand versucht, sie mit der Drahtbürste zu putzen.

»Bob war der Meinung, wir hätten nicht genug für seinen Schutz getan.« Offensichtlich war Brennan deswegen immer noch ehrlich zerknirscht. »Er war der Meinung, für ihn hätten ähnliche Schutzmaßnahmen wie für Edward Crane ergriffen werden müssen.«

»Was waren das für Maßnahmen?«

Ein kurzes Lächeln glitt über Brennans Gesicht, als er an das Glanzstück mit Douglas Henderson dachte. »Ich habe dafür gesorgt, dass Eddie eines natürlichen Todes sterben durfte.«

Es war schon immer Tanyas tiefste Furcht gewesen, für eine Organisation zu arbeiten, die genauso unbekümmert Menschen tötete wie sie Mittel der Tarnung oder Täuschung einsetzte. Aber sie hatte Brennan falsch verstanden. Er nahm ihr die Bedenken mit einer einlenkenden Handbewegung.

»Nein, nein. Keine Angst.« Tanya nickte, auch wenn ihr in den fünf Jahren, die sie nun schon für den SIS arbeitete, selten unbehaglicher zumute gewesen war. »Eddie war damals schon Mitte siebzig. Nach Jahrzehnten loyaler Arbeit, wie Sie richtig sagen. Er hatte sich einen friedlichen Lebensabend verdient, deshalb brachte ich ihn nach Paddington in ein Krankenhaus, stopfte ein paar Mäuler mit Bargeld und ließ ihn im Februar 1992 an einem Pankreaskarzinom versterben.«

»Gehörte eines der Mäuler zufällig einem Mann namens Meisner?«

Brennan zögerte für den Bruchteil einer Sekunde.

»Meisner, ja.« Tanya ließ ihn nicht aus den Augen. Was verschwieg er? »Ein Oberarzt, der an dem Tag Dienst hatte, als wir Crane ins Krankenhaus brachten. Wie haben Sie von ihm erfahren?«

»Gaddis nennt seinen Namen auf einem der Überwachungsbänder.« Es war seltsam, aber in diesem Augenblick meinte sie, Gaddis mehr Loyalität zu schulden als ihrem Chef. Tanya wusste, dass man sie belog, und das machte sie zornig. »Anscheinend fliegt er jetzt nach Berlin, um sich mit dem Mann zu treffen.«

»Sie könnten ihn dabei im Auge behalten«, schlug Brennan vor.

»Das ist längst arrangiert.« Tanya genoss seinen überraschten Blick. »Ich fliege morgen. Vor Ort erwartet mich ein Observationsteam.«

Die Überraschung war gelungen, keine Frage. Brennan nickte anerkennend. Tanya nahm es zur Kenntnis und nützte die Gelegenheit, ihm weitere Informationen zu entlocken.

»Und was ist mit Crane?«, fragte sie.

»Was soll mit ihm sein?«

»Wo hält er sich auf? Was ist nach dem Krankenhaus mit ihm passiert?«

Brennan richtete den Blick zurück zur Tür. Auf diese Frage wollten viele Leute eine Antwort haben.

»Eddie lebt in der Nähe von Winchester«, antwortete er, weil er wusste, dass Tanya es früher oder später sowieso herausfinden würde. »Tut mir leid, dass ich es Ihnen nicht früher erzählen konnte. Nach Paddington hat er von uns eine neue Identität bekommen. Sie finden ihn im Meredith Nursing Home in Headbourne Worthy. Dort lebt er unter dem Namen Thomas Neame.«