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Zwei Tage später flog Gaddis mit einer Abendmaschine von Heathrow nach Barcelona. Die Passabfertigung ging reibungslos vonstatten, aber er vermutete, dass der SIS Natashas Wohnung unter strikter Observation hielt. Sein Plan war einfach: Er würde ein paar Tage mit Min in Spanien verbringen und dann mit dem Zug nach Österreich fahren. Das Schengener Abkommen machte es möglich, von Barcelona bis Wien zu reisen, ohne ein einziges Mal den Pass vorzeigen zu müssen; Gaddis war zuversichtlich, dass dieser Umstand seine Observation wesentlich verkomplizierte. Es war sein Plan, am Freitagabend früh genug im Radisson einzutreffen, um sich unter die anderen Gäste zu mischen. Er würde sich als Freund der Familie Drechsel ausgeben, den Ort des Hochzeitsempfangs ausfindig machen und am nächsten Tag womöglich in Begleitung einiger neuer Freunde zur Trauung gehen. So könnte er an Robert Wilkinson herankommen.

Es stellte sich heraus, dass der SIS knapp an Personal war und die Observation des EISBÄRS in Barcelona an zwei ortsansässige Mitarbeiter übertragen musste, die dem britischen Generalkonsulat in der Avenida Diagonal angehörten. Ihre Überwachungsberichte, die direkt an Sir John Brennan in London übermittelt wurden, dokumentierten eine erstaunlich banale Folge von Ereignissen: Besuche auf Spielplätzen oder in Filialen von VIP-Restaurants, schlotternde Strandbesuche bei herbstlichen Wassertemperaturen an der Playa Icaria und Vater-Tochter-Spaziergänge über die Ramblas. Brennan bekam Fotos von Min huckepack auf Papas Schultern oder mit Eiscremetüte beim Verlassen eines Kinos zu sehen. Es gab Belege für einen erhitzten Streit zwischen EISBÄR und seiner Frau in einem Restaurant namens Celler de la Ribera, aber den durfte man als nicht weiter ungewöhnlich nach einer schmutzigen Scheidung abbuchen. EISBÄR schien jegliches Interesse an einer Verfolgung Cranes oder Wilkinsons verloren zu haben.

Natürlich hatte Gaddis seinen Teil dazu getan, die Damen und Herren beim GCHQ von seiner Geläutertheit zu überzeugen. So hatte er zum Beispiel eine Facebook-Message an Charlottes Ehemann Paul geschickt und ihm mitgeteilt, er habe keinerlei Fortschritte mit Charlottes Buch gemacht und deshalb beschlossen, »es auf die Seite zu legen, jedenfalls fürs Erste«. Per E-Mail traf er für Freitagvormittag den vierundzwanzigsten eine Scheinverabredung mit einem Doktoranden am UCL. Mit seinem regulären Mobiltelefon rief er Holly in London an, beteuerte, wie sehr er sie vermisste, und verabredete sich für Samstagabend mit ihr zum Abendessen im Quo Vadis.

Auch wenn sich Brennan natürlich der Möglichkeit bewusst war, dass EISBÄR eine ausgetüftelte Falle konstruieren könnte, die in Wien zuschnappen sollte, galt seine unmittelbare Sorge dem Bericht von Christopher Brooke, in dem er seine Begegnung mit Robert Wilkinson schilderte. Insbesondere zwei Absätze alarmierten ihn bis an die Grenze eines Tobsuchtsanfalls:

VERTRAULICH / WARNSTUFE C / AUS6HAW

… Wilkinson nimmt Bezug auf den Zwischenfall, der ihn aus seiner Sicht zu dem neuseeländischen Exil zwang. Zweifellos macht er den Dienst für den Anschlag auf sein Leben verantwortlich und deutet an – ohne unterstützendes Beweismaterial –, dass der SIS den Anschlag entweder selbst arrangiert hat oder es – im besten Fall – am Schutz seiner Person hat fehlen lassen. Ich muss dazu bemerken, dass Mr. Wilkinson sich auf eine Weise verhalten hat, die nicht anders als aggressiv und paranoid bezeichnet werden kann.

… Wilkinson beendete unser kurzes Gespräch mit der unverhohlenen Drohung, Gaddis, wie er es ausdrückte, »hieb- und stichfeste Fakten zu ATTILA« zu liefern. Text einer digitalen Aufnahme des Gesprächs: »Es ist ohnehin höchste Zeit, dass die ganze Geschichte erzählt wird. Himmel, die britische Regierung würde wahrscheinlich davon profitieren [hervorgehoben]. Es könnte denen nicht schaden, auch mal die andere Seite dieses Verrückten [Platow] zu sehen.«

Brennan glaubte, keine Wahl zu haben; alle anderen Optionen waren ausgeschöpft. Er griff zum Telefonhörer und gab seiner Sekretärin den Auftrag, ihn mit Maxim Kepitsa – Zweiter Sekretär der russischen Botschaft und einer von drei offiziell in London arbeiteten FSB-Mitarbeitern – zu verbinden.

Das Gespräch wurde auf Kepitsas Privatleitung gelegt.

»Maxim? Hier spricht John Brennan.«

»Sir John! Welche Freude, Ihre Stimme zu hören.«

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir bei einem stillen Abendessen Gesellschaft leisten mögen. Ich müsste mit Ihnen über einen Mann sprechen, den Ihre Regierung seit 1992 sucht. Einen der unseren. Einen Mann namens Ulvert …«