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In dem Transkript des Gesprächs, das Sir John Brennan am nächsten Morgen auf dem Schreibtisch liegen hatte, hatte die simple Floskel »GESPRÄCH BEENDET« den abrupten Abbruch der telefonischen Unterredung zwischen EISBÄR und Robert Wilkinson markiert.

Brennan, den man in dem Glauben gelassen hatte, Gaddis habe sein Interesse an ATTILA ad acta gelegt, bekam einen Wutanfall, zitierte Tanya Acocella zu sich und hielt ihr vor, es versäumt zu haben, »diesem Scheißprofessor in aller Deutlichkeit klarzumachen, dass wir ihn den Moskauer Wölfen vorwerfen, wenn er noch einmal die Finger nach Edward Crane ausstreckt«. Er habe schließlich »nicht das halbe Wochenende vor dem Chef des BND auf den Knien gelegen, damit er gegenüber Gaddis’ Teufelswerk in Berlin beide Augen zudrückt, nur damit der Schwachkopf zum nächsten Telefonhörer greift und Bob Wilkinson anruft.«

Tanya hatte versucht einzuhaken, aber Brennan war noch nicht fertig gewesen.

»Hat dieser Gaddis eigentlich die leiseste Ahnung, was die Russen mit ihm machen, wenn sie dahinterkommen, wer er ist? Weiß er, was auf dem Spiel steht? Haben Sie ihm das nicht klargemacht, bevor ihr in Gatwick gelandet seid? Worüber habt ihr euch unterhalten? Die Grundstückspreise? Speiselokale? Hatten Sie, liebe Tanya, zu irgendeinem Zeitpunkt der Scheißoperation vor, Ihren Job ordentlich zu machen?«

Richtig in Rage hatte sie die Bemerkung gebracht, mit der Brennan sie am Ende abkanzelte.

»Und jetzt zu Ihnen. Sie kümmern sich wieder um CHESAPEAKE. Ihre Affäre mit EISBÄR dürfen Sie als beendet betrachten. Wenn Sie mit einem simplen Problem wie Sam Gaddis nicht fertigwerden, muss ich mich wohl persönlich darum kümmern.«

Noch in Acocellas Gegenwart hatte Brennan im Fahrstuhl Kontakt zur britischen Botschaft in Canberra aufgenommen und Christopher Brooke, den 35-jährigen Chef des australischen Stützpunkts, angewiesen, den nächsten Flieger nach Neuseeland zu besteigen, um dort »ein vertrauliches Wort mit einem unserer früheren Mitarbeiter« zu wechseln. In Wellington waren die Aktivitäten des SIS im Zuge von Sparmaßnahmen heruntergefahren worden, was bedeutete, dass Brooke ein siebenstündiger Flug via Sidney nach Christchurch bevorstand. Anschließend erwarteten ihn dann noch fünfundvierzig Flugminuten von Christchurch nach Dunedin und eine dreistündige Fahrt im Toyota Corolla von Dunedin nach Alexandra, das im Herzen von South Island lag. Rechnete man Verzögerungen und Transfers hinzu, kostete Brooke diese Reise – vom Verlassen seines Hauses in Canberra bis zum Eintreffen in Alexandra – knapp vierzehn Stunden Zeit und als Zugabe einen heftigen Streit mit seiner schwangeren Frau, die sich auf eine heiß ersehnte fünftägige Auszeit an der Goldküste gefreut hatte. Brooke war praktisch direkt nach seiner Ankunft im Hotelzimmer eingeschlafen, und als er im Morgengrauen wieder erwacht war, musste er feststellen, dass kein Mensch hier in Alexandra je von einem Robert Wilkinson oder einem Anwesen namens Drybread gehört hatte.

»Wir kennen so ziemlich jeden hier draußen«, sagte die Geschäftsführerin des Dunstan House. »Drybread war früher einmal eine Goldmine. Dort lebt seit Jahren niemand mehr.«

»Sie sind sicher, dass wir vom selben Ort reden, Chef?«, fragte der Besitzer einer Tankstelle am Stadtrand von Alexandra.

Brooke war den ganzen Vormittag unterwegs. In drei Stunden begegneten ihm drei Menschen, von denen keiner ihm weiterhelfen konnte. Er suchte Straßenkarten ab, aber ohne Internetzugang und Fotos von Google Earth ließ sich kein Weg nach Drybread herauslesen. Obwohl die Reise ihn durch eine der spektakulärsten Landschaften führte, die er je gesehen hatte, war das Innere des Toyota der Firma Hertz fast ununterbrochen von den Kraftausdrücken erfüllt, mit denen ein erschöpfter britischer Spion die Ungerechtigkeit verwünschte, die ihn an den Arsch der Geheimdienstwelt verschlagen hatte. Er ärgerte sich, drei Tage seines Lebens mit der Suche nach einem pensionierten Spion des Kalten Krieges zu vertun, der – glaubte man den Einheimischen – nie auch nur einen Fuß auf neuseeländischen Boden gesetzt hatte.

Schließlich fuhr Brooke zurück nach Alexandra, suchte die öffentliche Bibliothek auf und fand in einem historischen Führer durch Otago aus dem Jahre 1947 einen Hinweis auf »Drybread«. Wilkinsons Anwesen war ursprünglich eine Siedlung für Goldminenarbeiter, später dann eine Farm gewesen. Nach der Beschreibung in dem Führer lag sie ganz am Ende der Drybread Road in einer Senke am Fuß der Dunstan Range, vierundfünfzig Kilometer nordwestlich von Alexandra.

Von der Bibliothek aus machte er sich auf den Weg. Er fuhr durch eine trockene, karge Landschaft – auf der Landkarte trug sie den Namen Maniototo –, machte halt in Omakau, einer winzigen Siedlung, die kaum mehr als ein Pub und einen Laden zu bieten hatte, ließ den Tank auffüllen und aß etwas. Gegen vier Uhr bog er vom Highway S85 auf eine nicht asphaltierte, einspurige Straße, flankiert von Flüssen und Bächen, die unter der Sonne des späten Nachmittags in einem tiefen, zum Himmel passenden Blau leuchteten. Alle paar hundert Meter musste er anhalten, um Gatter zu öffnen, mit jedem Kilometer wurde die Straße holpriger. Er rechnete jede Sekunde damit, dass der Toyota eine Reifenpanne hatte und er in einer weiten, menschenverlassenen Ebene festsaß, über die in Kürze Dunkelheit hereinbrechen würde. Kurz nach sechs, ungefähr zehn Kilometer landeinwärts von der Hauptstraße, erblickte er endlich ein verbeultes Schild mit der Aufschrift »Drybread« und bog auf einen schmalen, mit Schlaglöchern übersäten Weg, der durch kultivierte Flächen auf eine Kette gezackter Berge zuführte. Bei dem Anwesen handelte es sich um ein kleines, zweistöckiges Gehöft, eine halbe Meile den Weg hinauf, von einem Rechteck aus Weidenbäumen eingerahmt. Als Brooke den Wagen durch das Tor lenkte, sah er auf der Ostseite des Hauses eine männliche Gestalt in einer uralten Barbour-Jacke Holz hacken. Erste Regentropfen klatschten auf die Frontscheibe. Er hielt an, stieg aus und wollte eine Hand zum Gruß heben, als er Robert Wilkinson mit eisigem Blick und einer doppelläufigen Schrotflinte auf sich zukommen sah.

»Wer zum Teufel sind Sie?«

Brooke hatte in Sekundenschnelle die Hände erhoben.

»Befreundete Truppen!«, rief er, eine Angewohnheit aus drei ereignisreichen Jahren Einsatz in Basra. »Ich bin vom Dienst. Ich komme aus Canberra, um mit Ihnen zu reden.«

»Wer schickt Sie?« Wilkinson blieb in fünfzig Metern Entfernung stehen, hob die Flinte an die Schulter, die Mündung auf Brookes Bauch gerichtet.

»Sir John Brennan. Es handelt sich um ATTILA. Ich habe Ihnen eine Botschaft zu übermitteln.«

Wilkinson ließ die Flinte sinken, knickte den Lauf ab und legte ihn sich über das Handgelenk.

»Dann mal los«, sagte er.

Brooke sah sich um. Man hatte ihn gewarnt, Wilkinson könnte »etwas eigen« geworden sein, aber eine Tasse Tee hatte er eigentlich schon erwartet.

»Hier draußen?«

»Hier draußen«, erwiderte Wilkinson.

»Also gut.« Er nahm einen North Face Parka vom Rücksitz des Toyota, zog ihn über, schloss gegen das schlechter werdende Wetter den Reißverschluss und klappte die Autotür wieder zu. »Sir John befürchtet, Sie könnten eine Beziehung zu einem englischen Hochschullehrer namens Sam Gaddis aufbauen.«

»Eine Beziehung aufbauen? Soll das ein Witz sein?«

Jetzt wusste Wilkinson, dass der SIS Gaddis’ Anruf abgehört hatte. Lange Jahre sorgfältig gehüteter Anonymität waren von einem gedankenlosen Professor in einer Londoner Telefonzelle in Sekundenschnelle nutzlos gemacht worden.

»Dr. Gaddis hat die Wahrheit über ATTILA herausgefunden. Nach unseren Informationen weiß er, dass Sie in den achtziger Jahren Cranes Führungsoffizier in Ostdeutschland waren. Der Dienst befürchtet, Sie könnten sensible Informationen an Gaddis weitergeben, was einem Bruch Ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Bewahrung von Staatsgeheimnissen gleichkäme.«

Wilkinson trat einen Schritt vor. Er war Anfang sechzig, von stämmiger, respekteinflößender Gestalt. Sein Gesicht zeigte – besonders im schwindenden Licht eines kühlen Frühlingsabends – eine Art Unbarmherzigkeit, die schon mutigeren Männern als Christopher Brooke einen Schrecken eingejagt hatte.

»Wie heißen Sie, junger Mann?«

»Christopher Brooke. Ich bin Leiter des Stützpunkts in Canberra.«

»Sie sind also extra von Australien herüberkommen, um mir diese Mitteilung zu machen, richtig, Chris?«

Brooke dachte an seine schwangere Frau, an den Insektenmittelgeruch in der Qantas-Kabine, die aufgewärmten Bordmahlzeiten und die nicht endenden Straßen Central Otagos. »Das ist richtig«, sagte er.

»Und in Fort Monckton hat Ihnen niemand beigebracht, sich an zivilisierte Tageszeiten zu halten? Was fällt Ihnen ein, hier in der Abenddämmerung aufzukreuzen? Sie hätten wer weiß wer sein können.«

Brooke war gewarnt worden, Wilkinson leide »bis in die Haarspitzen unter Verfolgungswahn vor russischen Attentätern«, und hoffte, der Mann würde in dem gesicherten Wissen, dass sein überraschender Besucher kein Abgesandter des FSB war, einigermaßen die Fassung bewahren.

»Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte er. »Niemand von den Leuten in der Stadt hat je von Ihnen gehört. Ich habe Ihre Adresse nur unter größten Schwierigkeiten ausfindig machen können. Die Gegend hier ist so einsam wie das Meer der Ruhe.«

Wilkinson schnaubte verächtlich. »Ist das euer Humor, ja? Auf die Art versucht ihr, die Leute weichzukochen? Mit einem Schuss galaktischer Ironie. Ein paar Mondwitzen?«

Brooke hatte verstanden, dass der Fall aussichtslos war. Er steckte die ausgestreckte Hand wieder in die Tasche seines Parkas und beschloss, jede Anspielung auf Kameradschaft zu vermeiden. Er wollte nur noch zurück nach Dunedin, sich ausschlafen und den nächsten Flieger nach Canberra erwischen. Er wollte so schnell und so weit wie möglich weg von diesem flintenschwingenden Verrückten. Er wollte seinen Bericht an Brennan abschicken, eine Flasche Pinot Noir trinken und mit seiner Frau grünen Curry essen. Aber erst musste er seinen Job erledigen.

»Folgende Lage«, sagte er. »Ich rücke lieber gleich damit heraus, denn zu einem zivilisierten Gespräch wird das hier sowieso nicht mehr. Ich hatte keine Einladung zum Dinner erwartet, Mr. Wilkinson. Auch kein Bett für die Nacht. Aber wenn Sie es hier draußen erledigen wollen, dann erledigen wir es hier draußen.« Wie auf ein Stichwort fauchte ein Windstoß über die Ebene und brachte die Blätter des Weidenbaums zum Rascheln. »Soviel ich weiß, ist dieser Gaddis im Begriff, zwei der bestgehüteten Geheimnisse des Kalten Krieges aufzudecken, Geheimnisse, die meine Kollegen – Sie eingeschlossen – mit einem Höchstmaß an Kompetenz über die letzten sechzig Jahre bewahrt haben. Der Chef hat mich gebeten, Sie daran zu erinnern, dass es während der letzten Jahre von Edward Cranes Karriere zu gewissen Unregelmäßigkeiten gekommen ist – um sein Wort zu benutzen –, die massive Auswirkungen auf unser Verhältnis zu Moskau haben werden, wenn sie ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Ich weiß nicht, um was für Unregelmäßigkeiten es sich dabei handelt, aber man hat mir versichert, dass Sie es wüssten.« Er erkannte im schwindenden Licht, dass Wilkinsons Züge sich etwas aufhellten, und deutete das kurze Aufschnaufen des Mannes als Geste der Zustimmung. »Es war Sir John immer eines seiner größten Anliegen, dafür Sorge zu tragen, dass sich pensionierte Geheimdienstler nicht gezwungen sehen, ihre kleinen Geschichten an den höchsten Bieter zu veräußern.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Ich denke, Sie wissen, wie das zu verstehen ist. Es ist dem SIS nicht entgangen, dass Sie im Lauf der Zeit immer mal wieder sensible Informationen an eine gewisse Katya Levette weitergegeben und auf diesem Weg politisch schädliches Material der Presse zugänglich gemacht haben. Ihre eigenen autobiografischen Reminiszenzen sollten so wohl Verbreitung finden.«

»Sie sollten Ihre Zunge besser im Zaum halten, junger Mann«, sagte Wilkinson und wechselte die Flinte hinüber in die rechte Hand. »Sie könnten sich sonst gewaltigen Ärger einhandeln.«

Es hatte inzwischen zu regnen begonnen, und Brooke zog sich die Kapuze über den Kopf.

»Sie haben mit Mrs. Levette also nicht über Ihre Idee geredet, dass sie als Ghostwriter für Ihre Memoiren fungieren könnte?«

Wilkinson hatte genug gehört. Er tat ein paar Schritte vorwärts, bis er Auge in Auge mit Brooke stand und ihn taxierte wie ein Krokodil seinen Happen zur Teestunde.

»Jetzt werde ich Ihnen etwas erzählen. Vor drei Tagen bin ich aufgestanden und hatte mir gerade eine Kanne Tee gemacht, als das Telefon klingelte und ich den Hörer abnahm. Dieser Doktor Gaddis war dran. Er rief mich aus London an, aus einer Telefonzelle, um mich nach Eddie Crane auszufragen. Dieser Gaddis war mir vollkommen unbekannt. Verstehen Sie, ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass ATTILA plötzlich öffentlicher Gesprächsstoff ist. Genauso wenig kann ich mir erklären, wie ein opportunistischer englischer Hochschullehrer an meine Telefonnummer kommen konnte. Ich darf Ihnen versichern, dass ich nicht die geringste Neigung verspüre, mit dem Mann über mein Berufsleben zu plaudern. Ich vermute, meine private Unterredung mit dem Mann wurde als Gefälligkeit an die alte Heimat vom neuseeländischen Nachrichtendienst aufgezeichnet. Ist das der Fall?«

»Ich weiß nicht, welche Rolle, wenn überhaupt, der hiesige Nachrichtendienst bei der Sache gespielt hat.«

»Nein?« Wilkinson sah den Regen über Brookes Wangen strömen. »Natürlich nicht. Sie sind ja nur Stützpunktleiter in Canberra.«

Er hob die Hand, als Brooke zu einer Antwort ansetzte.

»Moment. Ich bin noch nicht fertig.« Er war jetzt verärgert, stinkwütend über die Störung seiner Privatsphäre und noch wütender darüber, dass seine Beziehung zu Katya wieder einmal durch den Dreck gezogen wurde. »Wenn Sie bitte Sir John, den ich noch als schlichten John kannte, auch wenn sein Blick schon damals steil nach oben gerichtet war, wenn Sie also Sir John bitte mitteilen würden, dass ich in meinem Rentnerdasein tue und lasse, was mir verdammt noch mal gefällt. Und wenn dazu Plaudereien mit überforderten Londoner Hochschullehrern gehören, dann ist es eben so. Ich habe nicht vergessen, wie alles zu Ende ging, verstehen Sie? Ich habe die Bombe unter meinem Auto nicht vergessen. Und genauso wenig habe ich vergessen, dass es damals den Anschein hatte, als wäre es dem Dienst lieber gewesen, Bob Wilkinson wäre von Sergej Platow in den Himmel über Fulham gesprengt worden.« Brooke wischte sich das Regenwasser aus den Augen. »Sie wirken ein wenig verwirrt, Christopher.«

»Ich kann nichts dazu sagen«, antwortete er, »weil ich nicht die leiseste Ahnung habe, wovon Sie reden.«

»Das glaube ich Ihnen sogar«, sagte Wilkinson. Die nächste Windbö fegte über die Ebene. »Dafür weiß Sir John Brennan umso genauer, wovon ich rede. Vergessen Sie nicht, ihm zu sagen, dass die Definition von Loyalität mir bekannt ist. Er hat sich nicht um mich gekümmert, warum sollte ich mich jetzt um ihn kümmern? Wenn Gaddis hieb- und stichfeste Fakten zu ATTILA braucht, warum sollte ich sie ihm nicht liefern? Es ist ohnehin höchste Zeit, dass die ganze Geschichte erzählt wird. Himmel, die britische Regierung würde wahrscheinlich davon profitieren. Es würde ihnen bestimmt nicht schaden, auch mal die andere Seite dieses Verrückten zu sehen.«

»Welches Verrückten?«

»Platow«, erwiderte Wilkinson vernichtend, als hätte Brooke seine Ahnungslosigkeit offen dargelegt. »Man hat Sie wirklich nicht ins Bild gesetzt, oder? Sie haben tatsächlich keine Ahnung, worum es geht.«