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Gaddis hatte das Kleine Café nach einem Foto im Phaidon-Wienführer ausgesucht, den ein Hotelgast im Frühstücksraum der Goldenen Spinne vergessen hatte. Das Foto vermittelte den Eindruck, dass es sich bei dem Café um den unauffälligen Treffpunkt handelte, nach dem er suchte, und dieser Eindruck schien sich bei einem Besuch am Franziskanerplatz am Samstagmorgen zu bestätigen. Der kleine, verkehrsberuhigte Platz, etwa einen halben Kilometer westlich des Radisson, hatte einen Brunnen in der Mitte, in dessen Wasser Spatzen planschten, und um den herum die Anwohner des Viertels in der Sonne saßen, Kaffee tranken und Zeitungen lasen. Das Kleine Café befand sich im Erdgeschoss eines frisch renovierten Eckhauses, wenige Meter von dem Brunnen entfernt. Es hatte zwei Eingänge: Der eine führte direkt auf den Platz, wo etwa ein halbes Dutzend Tische ordentlich aufgereiht standen, der Seiteneingang ging auf die abschüssige, mit Kopfstein gepflasterte Singerstraße hinaus.

Gleich neben dem Seiteneingang befand sich eine einzelne Sitznische. In ihr richtete es sich Gaddis am Samstagabend um neun ein, weil sie ihm als idealer Ort für eine ungestörte Unterredung mit Wilkinson erschien: keine anderen Tische oder Sitzplätze in unmittelbarer Nähe, nur ein paar Pappkartons und leere Bierfässer. In einer Neuauflage seiner komplizierten Fahrt zum Estacio Sants in Barcelona hatte er auch zum Kleinen Café eine umständliche Route gewählt und versucht, durch die Verwendung dreier verschiedener Fortbewegungsmittel – Schusters Rappen, Taxi, U-Bahn – potentielle Verfolger abzuschütteln. Dafür hatte er fast eine Stunde gebraucht, aber jetzt war er immerhin sicher, dass ihm niemand auf den Fersen war.

Bei dem Mann am Ausschank bestellte er ein Bier und wartete. Er hatte eine neue Jelzin-Biografie als Lektüre und ein Päckchen Zigaretten dabei und war zuversichtlich, dass Wilkinson auftauchen würde, sobald er auf der Hochzeit abkömmlich war. Aber Gaddis hatte nicht mit den vielen Gästen gerechnet, die ab halb zehn durch den Seiteneingang das Lokal zu füllen begannen. Offensichtlich war das Kleine Café eines der beliebtesten Lokale in Wien: Um zehn Uhr vermochte Gaddis von seinem Platz hinten in der Ecke den Eingang kaum noch im Auge zu behalten, obwohl er nur ein paar Meter von der Straße entfernt saß. Allein in dem tiefer gelegenen Bereich um ihn herum drängten sich um die dreißig Gäste, und er schätzte, dass im Hauptbereich des Lokals noch einmal doppelt so viele waren. Wenn Wilkinson jetzt hereinkam, bestand die Gefahr, dass Gaddis ihn verpasste.

Er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Als Gaddis um zwanzig nach zehn hochschaute, sah er Wilkinsons Kopf hinter dem eines korpulenten Wiener Geschäftsmanns mit Drahtbrille auftauchen. Er gab sich ihm mit einem Kopfnicken zu erkennen, und Wilkinson zwängte sich zwischen dicht stehenden Gästen hindurch, bis er vor der Nische stand, die Gaddis seit neun Uhr eisern verteidigte.

»Lassen Sie mich raten«, sagte er. Sein Gewicht ließ den kleinen runden Tisch erzittern, als er sich setzte. »Sie haben nicht mit meinem Kommen gerechnet.«

»Zumindest bin ich sehr froh, Sie zu sehen«, antwortete Gaddis.

Es war nicht leicht, Wilkinsons Ausdruck zu deuten. In sein normalerweise teilnahmsloses Gesicht stand eine merkwürdige Verschmitztheit geschrieben. Wilkinson hatte den dunklen Anzug gegen braune Cordhosen, Oberhemd und einen Pullover mit V-Ausschnitt getauscht. Er zog dieselbe verbeulte Barbourjacke aus, die schon Zeuge des unangekündigten Besuchs von Christopher Brooke geworden war, und legte sie neben sich auf die Bank.

»Sie haben Nerven, Doktor Gaddis. Man hat mich vor Ihnen gewarnt.«

»Ach, ja?«

»Gewisse Leute sehen es nicht gerne, wenn wir miteinander reden. Gewisse Leute befürchten, das könnte Ärger bringen. Wie komme ich hier an einen Whisky?«

Er hatte den Verdacht, dass Wilkinson etwas angeheitert von den Festlichkeiten war. Statt ihn mit Vorhaltungen wegen des Anrufs neulich zu traktieren, schien der pensionierte Spion entspannt, ja sogar nachsichtig zu sein. Hatte er auf dem Weg hierher wohl die nötige Vorsicht walten lassen, an das Risiko gedacht, observiert zu werden?

»Ich geh schnell rüber zur Bar«, antwortete Gaddis. »Wie mögen Sie ihn?«

Er brauchte zehn Minuten, um sich zum Tresen vorzuarbeiten, zwei Jamesons auf Eis zu bestellen und an den Tisch zurückzukehren. Wilkinson blätterte in dem Buch über Jelzin.

»Taugt es was?«

»Nicht viel.« Gaddis nahm Platz und stellte die Whiskys vor sich auf den Tisch. »Fliegenbeinzählerei.«

Im Hintergrund spielte Musik, Lounge Jazz, aber in keiner Lautstärke, die Gespräche behindert hätte. Sie mussten nicht lauter sprechen, um Musik und Gemurmel der Gäste zu übertönen. Nach einem kurzen Austausch über die Hochzeit bat Wilkinson Gaddis um »den Hintergrund« seiner Verbindung zu Katya, wie er sich ausdrückte. Noch immer war seine Art unerwartet angenehm und kooperativ, und Gaddis verstand die Frage als weiter gefasste Aufforderung, alles darzulegen, was er über ATTILA wusste. Also erzählte er die ganze Geschichte: von Charlottes plötzlichem Tod bis hin zu den Morden an Calvin Somers und Benedict Meisner; dass Tanya Acocella eine MI6-Agentin war, die sich als Archivarin in Kew getarnt hatte. Wilkinson unterbrach ihn nur selten, entweder um eine Einzelheit zu klären oder um Gaddis zu bitten, den einen oder anderen Satz zu wiederholen, der in einem kurzzeitigen Anstieg des Lärmpegels im Lokal untergegangen war. Er schien über nichts, was Gaddis ihm berichtete, sonderlich überrascht zu sein, und blieb die ganze Zeit über unergründlich in seinen Reaktionen. Als Gaddis zum Beispiel davon erzählte, was sich in Meisners Wohnung in Berlin zugetragen hatte, nickte er nur mit dem Kopf, murmelte: »Verstehe«, und starrte dabei in das Eis am Boden seines Glases. Gaddis wurde zunehmend klarer, dass er in Augenschein genommen wurde, wie von einem Vater, der sich ausführlich Zeit nimmt, etwas über die Stärken und Schwächen seines zukünftigen Schwiegersohns zu erfahren. Zweifellos hatte Wilkinson noch nicht entschieden, ob er das Füllhorn seines Wissens über einem Autor ausschütten sollte, den er nicht kannte und zu dem er folglich auch kein Vertrauen hatte. Also trug er das leicht überhebliche Selbstbewusstsein eines Mannes zur Schau, der jederzeit problemlos aus diesem Gespräch aussteigen konnte.

»Und dann sind Sie dahintergekommen, dass es sich bei Neame und Crane um ein und denselben Mann handelt?«

Wilkinson Frage klang nicht offen herablassend, doch war klar, dass er sich über Gaddis mokierte: Ein angeblich intelligenter Akademiker hatte sich von einem pensionierten Spion hinters Licht führen lassen.

»Was soll ich dazu sagen?«, erwiderte er und hob in gespielter Kapitulation beide Hände. Er hielt es für die vernünftigste Strategie, möglichst offen und ehrlich zu sein. Einen mit allen Wassern gewaschenen Mann wie Wilkinson täuschen zu wollen, schien ihm wenig sinnvoll. »Ich bin auf einen Meisterlügner hereingefallen. Mein einziger Trost ist es, dass ich wahrscheinlich nicht der Erste war, der seiner Eloquenz auf den Leim gegangen ist.«

»Nein«, bestätigte Wilkinson. »Das sind Sie ganz gewiss nicht. Und vermutlich auch nicht der Letzte.« Er nippte an seinem Glas und schien Blickkontakt zu einer blonden Amerikanerin aufzunehmen, die ganz in der Nähe ihres Tisches stand. »Aber es erscheint mir absolut schlüssig, dass Eddie seine Geschichte auf diese Weise unter die Leute bringen wollte. Schließlich war er fast sein Leben lang zwei Personen.«

Es war seltsam erregend, Wilkinson in so vertrautem Tonfall über Eddie reden zu hören, doch Gaddis’ Hoffnung, noch mehr von Wilkinson zu erfahren, wurde schnell gedämpft.

»In dem Brief schreiben Sie, Katya könnte ermordet worden sein.« Wilkinson flößte einem unweigerlich Respekt ein, und als er Gaddis jetzt fest in die Augen blickte, musste dieser sich zwingen, dem Blick nicht auszuweichen. »Auf welche Indizien stützt sich diese Vermutung?«

»Sie passt in ein Muster«, antwortete Gaddis unsicher. Es war seine erste wenig überzeugende Aussage an diesem Abend.

»Ich bin da nicht Ihrer Meinung.« Die Entschiedenheit in Wilkinsons Stimme machte klar, dass er keinen Widerspruch duldete. »Hätte der FSB Katya unter Beobachtung gehabt, wäre jemand der Spur meiner Dokumente in Ihr Haus gefolgt, und Sie wären inzwischen auch tot.«

»Vielleicht«, sagte Gaddis, dabei wusste er nur zu genau, wie korrekt Wilkinsons Einschätzung war.

»Ganz nebenbei, wo haben Sie die Unterlagen?«

»Bei mir zu Hause.«

»Zu Hause?« Kurz verließ ihn seine Seelenruhe. »Sicher weggeschlossen, will ich hoffen. In einem Safe oder so etwas.«

Es war sein erster Hinweis auf eine Art Zusammenarbeit. Zweifellos versteckte sich etwas in diesen Unterlagen, etwas von großem Wert für ihn.

»So einen großen Safe gibt es gar nicht«, erwiderte Gaddis in dem Versuch, die Lage zu entspannen. »Die Kartons stehen gestapelt in meinem Wohnzimmer.«

Wilkinson schien sich eine bissige Replik zu verkneifen und sagte in relativ gelassenem Tonfall: »Na, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie noch lange dort stehen werden.«

»Wie kommen Sie darauf? Sie stehen dort seit Wochen. Hätte der SIS Appetit darauf bekommen, wären sie längst in mein Haus eingebrochen.«

Wilkinson schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich wegen dem Verein keine Sorgen. Platow ist derjenige, der scharf auf die Akten ist.«

»Platow?« Gaddis beugte sich vor. »Mit Verlaub, aber kaum etwas an diesen Dokumenten ist für irgendjemanden von Interesse, nicht einmal für einen Hochschullehrer. Ich habe nichts über ATTILA darin gefunden und schon gar nichts über Platow.«

»Weil Sie nicht wissen, wonach Sie suchen müssen.«

Gaddis spürte Erregung in sich aufsteigen. Wilkinson schien beschlossen zu haben, sein Wissen preiszugeben.

»Und nach was muss ich suchen?«

Wilkinson antwortete nicht. Er starrte wieder auf das Eis in seinem leeren Whiskyglas. Gaddis schloss daraus, dass er noch einen Drink wollte.

»Noch einen Whisky?«

»Gern.«

Diesmal kostete ihn der Gang an die Bar und zurück an seinen Platz nur fünf Minuten. Die Gruppe der Gäste neben ihrem Tisch, zu der die Amerikanerin gehörte, war angewachsen. Sie benutzten den ihnen zugewandten Teil der Tischplatte bereits als Abstellfläche für Gläser und Bierflaschen. Wilkinson schien die vielen Menschen gar nicht wahrzunehmen; er hätte genauso gut allein in einer Loge in der Oper sitzen können.

»Sie haben recht«, sagte er und schob die Jelzin-Biografie zurück über den Tisch. »Fliegenbeinzählerei.«

Gaddis lächelte. Er stellte die Drinks ab und versuchte, an das unterbrochene Gespräch anzuknüpfen.

»Sie sagten …«

»Was sagte ich?«

»Dass ich die Unterlagen nicht richtig gesichtet hätte. Dass ich nicht wüsste, wonach ich suchen sollte.«

Wilkinson legte den Kopf in den Nacken. »Ja, richtig.« Er schien beinahe überrascht vom Thema der Unterhaltung. Mit dem Handrücken tippte er auf das Umschlagfoto von Boris Jelzin. »Sie haben doch eine Platow-Biografie geschrieben, oder?«

Gaddis trank einen Schluck. »Es handelt sich eher um eine vergleichende Studie über Platow und Peter den Großen, aber …«

Wilkinson ließ ihn nicht ausreden. »Erzählen Sie mir, was Sie über Platows Laufbahn im KGB wissen.«

War das der nächste Test? Gaddis musste sich in Acht nehmen. Wilkinson, Chef des Berliner Stützpunktes in den heißesten Jahren des Kalten Krieges, würde sicher mehr über Platows kurze Liaison mit der geheimen Welt wissen als ein Historiker am UCL.

»Ich weiß, wie ehrgeizig er war«, begann er. »Und dass sein Ehrgeiz enttäuscht wurde. Platow hatte eine weit höhere Meinung von seinen Fähigkeiten als seine Chefs in der Lubjanka.«

»Das ist zweifellos richtig.«

»Er selbst hielt sich für den richtigen Mann für einen der Traumjobs im Westen. Washington. Paris. London. Stattdessen kam er nach Dresden, in ein ostdeutsches Provinzkaff. Ich vermute, dass Sie ihm dort zum ersten Mal begegnet sind.«

Wilkinson schaute auf. Sein schweres, blasses Gesicht war ruhig.

»Was bringt Sie auf den Gedanken, ich könnte ihn gekannt haben?«

»Oh, Sie haben ihn gekannt«, erwiderte Gaddis.

Es war ein Risiko, aber es zahlte sich aus. Nach einem langen Blick auf das Gedränge der Gäste wandte Wilkinson sich ihm mit einem Grinsen zu. Geheimnisse standen ins Haus.

»Platows einzige Trumpfkarte in Ostdeutschland war ATTILA«, begann er, »ein abgetakelter britischer Spion von siebzig Jahren, der im Aufsichtsrat einer Berliner Bank saß. Und er dachte lange und intensiv über sein Leben nach. Er dachte lange und intensiv über seine Karriere nach. Er wusste, dass das Sowjetsystem in den letzten Zügen lag, dass Mütterchen Russland den Kalten Krieg verloren hatte.«

»Das ist nicht die offizielle Sprachregelung.«

»Natürlich nicht.« Wilkinson senkte die Stimme. Trotz des Lärms in dem Lokal schien er zu befürchten, dass man sie belauschen könnte. »Für euch Journalisten und Wissenschaftler war Sergej ein unerschütterlicher Patriot.«

»Und? Was ist die Wahrheit? Was hat Platow da drüben getan? Was ist ihm dort widerfahren, das ihn jetzt veranlasst, unschuldige Männer und Frauen umbringen zu lassen, um es zu vertuschen?«

»Wollen Sie es wissen?« Wilkinson holte tief Luft. Im Dämmer der Sitznische waren seine Augen pechschwarz. »Wollen Sie wissen, warum Ihre Freundin und der Krankenpfleger, der Arzt und Tretiak nicht mehr am Leben sind? Wollen Sie wissen, warum Edward Crane zu Thomas Neame geworden ist, warum Platows Spießgesellen mir eine Bombe unter das Auto gelegt haben? Gut, ich will es Ihnen sagen.« Er lächelte in Vorfreude auf Gaddis’ Gesicht. »Der Präsident Russlands, ein Mann, der auf achtzig Prozent Zustimmung unter seinen Landsleuten rechnen darf, ein Patriot, dem das Verdienst zugeschrieben wird, Russland seine wirtschaftliche Stärke und seinen Nationalstolz zurückgegeben zu haben, hat 1988 den Versuch gemacht, in den Westen überzulaufen.«