29

»Was ist passiert, Sam? Erzählen Sie.«

Gaddis starrte sie an, in den Sitz zurückgepresst, als Tanya in der Reichenberger Straße aufs Gaspedal stieg.

»Wie kommen Sie hierher? Was ist hier los?«

»Ich bin nicht die, für die Sie mich halten«, sagte sie. »Erzählen Sie, was passiert ist.« Sie sah ihn an. »Ihr Jackett ist voller Blut. Wo ist Meisner?«

»Meisner ist tot.« Sie gehörte zum MI6. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: der Schwindel in Kew, das Abendessen, der Zufall der gleichzeitigen Berlinreise. Wäre er bloß weitergelaufen. »Meisner ist erschossen worden. Und ich habe gerade einen Mann getötet. Verflucht, was ist hier los? Warum sind Sie hier?«

»Mein Name ist Tanya Acocella. Ich arbeite für den Secret Intelligence Service. Wir observieren Sie wegen Ihrer Recherchen zu Edward Crane. Es tut mir leid, aber ich musste mich für jemand anderen ausgeben. Und jetzt bitte weiter im Text. Was soll das heißen, Sie haben gerade einen Mann getötet?«

Es erleichterte ihn beinahe, ihr Geständnis zu hören. Wenigstens wusste er jetzt, mit wem er es zu tun hatte. Gaddis erzählte ihr, was passiert war, und dabei wurde ihm klar, dass er durch das, was er getan hatte, sein Leben zerstört, seine Karriere vernichtet hatte. »Da war jemand in der Wohnung«, sagte er. »Ein Russe. Vielleicht derselbe Mann, der Charlotte getötet hat, derselbe, der Somers getötet hat. Sie wissen, wer diese Leute sind. Wissen Sie, wovon ich spreche?«

»Ich weiß, wovon Sie sprechen.« Tanyas Blick war auf die Straße gerichtet.

»Wir sind zurückgegangen, um Zigaretten zu holen.« Gaddis war froh, in diesem Auto zu sitzen, und wollte zugleich nicht in diesem Auto sitzen. Er war froh, von dieser Frau beschützt zu werden, und er wollte so weit wie möglich von ihr weg sein. »Hinter der Wohnungstür war ein Mann. Er muss dort auf Meisner gewartet haben. Wir haben ihn wohl überrascht. Ich weiß nicht, was er dort wollte. Er hat Meisner erschossen, kaum dass er die Wohnung betreten hatte.«

»Tragen Sie eine Waffe?«

Tanya nahm den entgegenkommenden Autos die Vorfahrt und bog kurzerhand nach links ab, fuhr auf einen verlassenen Kreisverkehr zu. Es war ihr unerklärlich, wie EISBÄR lebend dort herausgekommen war.

»Natürlich nicht. Als ich die Tür aufgedrückt habe, ist sie ihm aus der Hand gefallen. Wahrscheinlich hatte er nicht mit zwei Personen gerechnet. Sie ist mir vor die Füße gefallen. Weil mir nichts anderes übrig blieb, hab ich sie aufgehoben. Dann hab ich mich umgedreht und geschossen. Gut möglich, dass ich ihn getötet habe.«

»Um Gottes willen, Sam.«

Es missfiel ihm, dass sein Vorname ihr so leicht über die Lippen kam. Erst war er von Crane an der Nase herumgeführt worden und jetzt von Josephine Warner, einer Frau, von der er – du lieber Himmel! – gehofft hatte, sie morgen Abend in sein Bett zu kriegen.

»Hören Sie zu«, meinte sie und wandte ihm das Gesicht zu, »ist Ihnen eigentlich klar, was gerade passiert ist?«

Gaddis bewegte sich in seinem Sitz. Er war in Schweiß gebadet. Der Ärmel seines Jacketts war übersät mit Blutspritzern. Er fühlte sich wie eingesperrt, gefangen, und musste dem Impuls widerstehen, das Lenkrad herumzureißen und den Wagen in einen Zeitungskiosk am Straßenrand zu lenken.

»Ich geh zur Polizei«, sagte er. Er musste jetzt die Ruhe bewahren. »Bitte halten Sie sofort an.«

»Ich fürchte, das kann ich nicht tun.« Die Scheibenwischer räumten Dreck von der Frontscheibe. »Wenn Sie zur Polizei gehen, wird Crane enttarnt. Und das darf auf keinen Fall passieren. Die deutschen Behörden würden sehr schnell eins und eins zusammenzählen. Mit großer Wahrscheinlichkeit arbeitet der Mann, den Sie heute Abend getötet haben, für die Platow-Regierung. Ich muss Sie raus aus Berlin und zurück nach London bringen.«

Gaddis’ Blick fiel wieder auf seinen Ärmel, Straßenlichter schimmerten in dem Blut.

»Wie wollen Sie mich aus Berlin herausbekommen?«, fragte er. »Es gibt Fingerabdrücke auf der Waffe. Auf der Treppe ist mir ein Mädchen begegnet. In dem Café bin ich zusammen mit Meisner gesehen worden. In ein paar Stunden hat die Polizei meine Beschreibung. Ich muss mich stellen und ihnen erzählen, was passiert ist. Warum ich mich mit Meisner getroffen habe, warum ich nach Berlin gekommen bin, warum die Russen seinen Tod wollten.«

»Das dürfen Sie nicht.«

Er war fassungslos, obwohl er wusste, warum sie ihn daran hindern wollte. Es war eine Vertuschungsaktion des MI6. Niemand durfte von Crane, von ATTILA, von Dresden erfahren.

»Warum?«, fragte er. »Sagen Sie mir warum? Was kann an einem verfluchten, fast ein Vierteljahrhundert alten Geheimnis so wichtig sein, dass Menschen sterben müssen, damit es bewahrt bleibt? Ich hab heute Abend in das Gehirn eines Mannes geschaut, Meisners offenen Schädel, eine Hälfte komplett weggesprengt.«

»Wir versuchen einfach nur, die Beziehungen zwischen London und Moskau zu schützen«, erwiderte Tanya lahm. Sie wusste, dass sie sich auf Plattitüden zurückzog, und konnte den Ekel in Gaddis’ Stimme hören.

»Was? Was sagen Sie da, Josephi–« Er wollte sie bei ihrem Tarnnamen nennen und kam sich vor wie ein Idiot. »Was für eine Beziehung zwischen London und Moskau? Es gibt keine Beziehung zwischen London und Moskau. Ihr hasst euch gegenseitig wie die Pest.«

Tanya machte noch einen Versuch, obwohl sie wusste, dass Gaddis der Wahrheit sehr nahe war. »Die Deutschen dürfen auf keinen Fall Wind von der Geschichte bekommen, auch nicht von Ihrem Interesse an Crane.«

Gaddis schüttelte den Kopf.

»Was ist in Dresden passiert?«, fragte er sie.

»Wie bitte?«

»Dresden. Irgendetwas ist in Dresden passiert. Während ATTILAS Zeit dort, im Zwielicht seiner Karriere. Etwas, das im Zusammenhang mit Sergej Platow und Robert Wilkinson steht. Sagen Sie mir, was das war.«

»Sam, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie sprechen.« Das war die Wahrheit. Sie dachte an Brennan und fragte sich, ob Gaddis vielleicht genau über das Geheimnis gestolpert war, das der Chef vor ihr verstecken wollte. »Im Augenblick müssen wir uns auf Sie konzentrieren. Wir müssen Sie aus Berlin herausschaffen. In London haben wir dann alle Zeit der Welt, uns über Ihre Sorgen zu unterhalten.«

»Meine Sorgen«, wiederholte er verächtlich. Tanyas Handy piepte, und er schaute zum Seitenfenster hinaus, während sie sich meldete.

»Ja?« Gaddis hörte eine männliche Stimme am anderen Ende und vermutete, dass es der Mann war, der sie im Café beobachtet hatte. »Nein, ich habe ihn«, sagte sie. »Es ist etwas passiert. Ja, alles okay. Ich kann jetzt nicht reden. Geht alle zurück in eure Wohnung. Ich melde mich.«

»Ein Freund von Ihnen?«, fragte er, nachdem sie aufgelegt hatte.

»Ein Freund von mir«, antwortete sie.

»Richten Sie ihm aus, dass mir der Mantel seiner Freundin gefällt.«

Tanya fuhr über eine gelbe Ampel. »Erzählen Sie mir, an was Sie sich erinnern können. Gab es Videoüberwachung in dem Haus? Ist Ihnen eine Kamera aufgefallen?«

»Ich hab nicht darauf geachtet. Wir wollten ja nur seine Zigaretten holen. Das Café hatten wir verlassen, um Ihren Freunden zu entkommen.«

»Sie haben gesagt, dass Ihnen auf der Treppe ein Mädchen begegnet ist.«

»Ja. Ein Grufti.«

Tanya setzte die Teile zusammen, dachte über einen Weg nach, ihn zu retten. Seltsamerweise war er dankbar für ihren Versuch. »Und die Arzthelferin in seiner Praxis hat heute Ihr Gesicht gesehen?«

»Toll«, rief er aus. »Da wart ihr also auch?«

»Da waren wir auch.«

Sie fand nicht den Mut, ihm von der Wanze in seinem Handy zu erzählen.

Der Audi fuhr an einem Park vorbei. In einem Drahtkäfig spielten zwei Fünferteams unter Flutlicht gegeneinander Fußball. Gaddis musste an seine Sonntagabende in London denken. Eine ferne Welt.

»Und was ist mit Berlin?«, fragte Tanya. Sie bog in eine ruhige Wohnstraße, hielt an und schaltete den Motor aus. »Wer wusste davon, dass Sie gekommen sind, um sich mit Meisner zu treffen?«

»Niemand außer Ihnen«, antwortete er. »Außer Josephine Warner.«

Mit einer Hand strich sie sich durchs Haar, wischte den Affront beiseite. »Und Holly?«

»Was soll mit ihr sein?« Gaddis meinte schon zu hören, wie der nächste Nagel in den Sarg seiner Demütigung geschlagen wurde. »Gehört sie etwa auch zu euch?«

»Holly hat nichts mit uns zu tun.«

»Und warum hat sie mir die Unterlagen über den KGB gegeben?«

»Was für Unterlagen?«

»Nicht so wichtig.«

Die Straße war verlassen. Er roch Tanyas Parfüm, derselbe Duft, der ihm in Kew entgegengeweht war. Er fühlte sich noch immer zu ihr hingezogen und konnte sich dafür nicht ausstehen.

»Keine Sorge wegen der Waffe«, sagte sie plötzlich, und wieder hatte er das Gefühl, sich selbst enthoben zu sein, in der dritten Person auf Sam Gaddis zu schauen. »Es gibt Fingerabdrücke, aber soviel ich weiß, haben Sie kein Vorstrafenregister, oder? Ist das richtig?«

Natürlich. Sie wussten alles über ihn. Sie hatten seine Vergangenheit durchforstet. Der MI6 wusste über seine Scheidung, über Min, über seine Arbeit am UCL Bescheid. Alles, was er seit Wochen gesagt und getan hatte, wurde von Tanya Acocella abgehört und ausgewertet.

»Das ist richtig«, sagte er leise.

Jetzt blieb nichts anderes mehr zu tun, als zurück ins Novotel zu fahren. Tanya erklärte ihm, dass ein Mitglied ihres Observationsteams ein Zimmer im dritten Stock gemietet hatte. Inzwischen überraschte ihn gar nichts mehr. Gaddis nickte bloß und musste wieder an das Bild von Meisners Gehirn denken. Es ging ihm nicht aus dem Kopf.

»Wir müssen Ihr Jackett loswerden«, sagte sie. Gaddis überließ es ihr widerstandslos und schaute ihr ungerührt zu, wie sie aus dem Auto stieg und es in einen Müllbehälter am Straßenrand stopfte. Es war ein altes Jackett, ein in Ehren gehaltenes Geschenk seines verstorbenen Vaters, aber es machte ihm nichts aus; sie hätte ebenso gut eine alte Zeitung entsorgen können. Zurück im Auto rief Tanya Des an und beauftragte ihn, zwei Tickets für den nächsten erreichbaren Flug von Berlin nach London zu besorgen. Zwanzig Minuten später rief er zurück und teilte ihr mit, dass sie auf einen Flug der British Midland um 8 Uhr ab Berlin Tegel gebucht wären.

»Mein Auto steht in Luton«, sagte Gaddis.

»Jemand holt es für Sie ab.«

Sie fuhren zurück zur U-Bahn-Station Tiergarten, am Ufer des Landwehrkanals entlang, die vergessene Stadt glitt vorbei. Er tat Tanya unendlich leid, sie dachte daran, was ihm jetzt alles durch den Kopf gehen musste, und bedauerte, dass dieser ehrenwerte Mann in eine Welt hineingezogen worden war, die sein Leben zerstörte.

»Ich möchte, dass Sie mir etwas versprechen«, sagte sie, als sie den Wagen vor dem Hotel parkten. Seit zehn Minuten waren sie schweigend gefahren.

»Und das wäre?«

»Dass Sie nicht zur Polizei gehen. Verstehen Sie das, Sam?«

Gaddis antwortete nicht.

»Wenn Sie sich stellen, können wir Ihnen nicht mehr helfen. Und die Russen werden erfahren, wer Sie sind. Sie haben Monate, wenn nicht Jahre mit juristischen Problemen hier in Berlin zu kämpfen, und irgendwann werden Platows Leute Sie finden. Lassen Sie uns einen Deal mit den Deutschen machen.«

Er nickte, aber sie war nicht überzeugt, dass er damit Zustimmung signalisierte.

»In England können wir Sie schützen«, sagte sie. Sie musste sich seiner Kooperation sicher sein. »Wir können mit den deutschen Behörden Arrangements treffen. Dann kommt Ihre Verwicklung in die Geschehnisse nicht ans Licht.«

»Solche Versprechungen können Sie doch unmöglich machen.«

Tanya griff nach seiner Hand und drückte sie, eine Geste, die sie beide verblüffte.

»Lassen Sie mich wenigstens versuchen, Sie vom Gegenteil zu überzeugen. Bleiben Sie heute Nacht in Ihrem Zimmer. Morgen früh brechen wir dann zusammen auf. Ich verspreche Ihnen, wenn wir wieder in London sind, wird alles leichter.«

»Leichter«, sagte er, noch traumatisiert vom Geschehenen. Er hatte Hunger und brauchte dringend eine Zigarette, aber die Packung hatte er in dem Jackett vergessen, das jetzt in einer Mülltonne irgendwo in der Stadt steckte.

Sie betraten das Hotel. Tanya ging an seiner Seite, und als sie in der Lobby waren, legte sie einen Arm um ihn und flüsterte ihm ins Ohr.

»Wir sind Verliebte«, sagte sie. »Sie sind glücklich.«

Immerhin brachte der Trick sie an neugierigen Augen hinter dem Rezeptionstresen vorbei. Vor den Aufzügen drehte sich Gaddis zu ihr hin.

»Sie denken an alles«, sagte er, doch die Verachtung war ihm an den Augen abzulesen.

Auf dem Zimmer nahm er vier Miniflaschen Whisky aus der Minibar, füllte sie in ein Glas und kippte sie in einem Zug hinunter. Dann ging er ins Bad, blieb eine halbe Stunde unter der Dusche sitzen. Tanya wartete draußen. Sie rief Brennan in London an, erklärte ihm, was geschehen war, dann schaute sie sich die deutschen Fernsehberichte über die Schießerei in Kreuzberg an. Um elf Uhr schaltete ein Nachrichtensender live in die Reichenberger Straße, und sie erkannte den Eingang zu Meisners Wohnhaus, vor dem jetzt ein Absperrband der Polizei gespannt war. Es gab Aufnahmen von fassungslosen Nachbarn – alten Frauen in Morgenmänteln, jungen Türken in Jeans und T-Shirts –, die zu den Fenstern im zweiten Stock hinaufschauten.

»Schalten Sie es ab«, befahl ihr Gaddis.

Sie setzte sich zu ihm, aber sie redeten kaum ein Wort. Vom Zimmerservice hatte sie Sandwiches bringen lassen, doch Gaddis rührte sie nicht an. Gegen halb zwei, ruhiggestellt von Hunger und Whisky, fiel er schließlich in einen leichten Schlaf, und als er eine Stunde später aufwachte, saß Tanya in einem Lehnsessel auf der anderen Seite des Zimmers und sah ihn an. Es ging ihr nicht um sein Wohlergehen, dachte er. Sie passte nur auf, dass er nicht weglief.

»Was ist nun wahr und was nicht?«, fragte er sie mit leiser, heiserer Stimme.

»Ich verstehe die Frage nicht.«

»Gab es einen sechsten Mann, oder gab es ihn nicht?«

»Es gab einen sechsten Mann.«

Gaddis spürte die Wärme der Genugtuung.

»Und die Einzelheiten? Hat Crane wirklich mit Cairncross zusammen in Bletchley gearbeitet? Hat er von Oxford aus einen Ring von NKWD-Spionen geführt?«

Tanya schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht«, sagte sie.

Er drehte sich auf die Seite. »Und wie lief das mit dem Seitenwechsel? Welche Rolle spielte Dick White? Ist Crane wirklich zum Doppelagenten geworden, oder hat er euch noch mal dreißig Jahre lang für dumm verkauft?«

»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich«, sagte sie, und es klang beinahe desinteressiert, aber jetzt wollte er ihr eine kleine Nachhilfestunde geben. Immerhin war sie jung genug, eine seiner Studentinnen zu sein.

»Philby ist zu White gegangen«, sagte er. »Haben Sie das gewusst? 1963. Sie saßen ihm im Nacken, also legte er ein Teilgeständnis ab. Er räumte ein, sowjetischer Spion gewesen zu sein, behauptete aber, der Verrat sei auf die Kriegsjahre beschränkt gewesen. Und danach habe er nur noch für Königin und Vaterland gehandelt.« Tanya betrachtete ihn aufmerksam. »Sie haben es ihm abgekauft und ihn laufen lassen. Philby war ein so versierter Lügner, dass die klügsten Köpfe vom MI5 und MI6 auf seinen Quatsch hereinfielen. Keine Woche später war er unterwegs nach Moskau. Vielleicht ist Crane ja auf dieselbe Tour gereist.«

»Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte sie, auch wenn es kaum mehr als ein Gefühl war.

»Was glauben Sie, Tanya, warum werden Menschen getötet?« Von neuer Streitlust erfüllt, biss er in eines der trockenen Sandwiches. »Warum haben die Briten Cranes Geschichte nicht in die Welt hinausposaunt? Fragen Sie sich das nicht auch manchmal? Warum befiehlt Platow die Liquidierung jedes Individuums, das mit ATTILA in Verbindung stand?«

»Sam, ich sage Ihnen doch, ich weiß es nicht.« Ihr war jetzt klar, warum sie ihn mochte und bewunderte. Mit fünfundzwanzig war Tanya Acocella einem Traum gefolgt, hatte eine vielversprechende akademische Karriere zugunsten der Verlockungen der Welt des Geheimdienstes aufgegeben. Gaddis stand für beides – ihre Vergangenheit und eine mögliche Zukunft: ein Leben, das der freien Forschung gewidmet war. »Es gibt Elemente bei dieser Operation, die so geheim sind, dass man nicht einmal mich eingeweiht hat. Die Leute in meinem Team hier in Berlin wissen nicht einmal, wer Crane ist. Die tun hier nur ihren Job. Und mein Job ist es herauszufinden, was Sie wissen. Von Ihren Gesprächen in Winchester hatte ich keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Crane noch den Bedingungen des Secret Act unterliegt und kein Sterbenswort über seine Spionagetätigkeit verlauten lassen darf. Dafür hat man ihn zu Thomas Neame gemacht. Aber er scheint an einen Punkt gekommen zu sein, wo er der Welt von ATTILA und seinen Heldentaten erzählen will, denn mit einundneunzig Jahren bekommt man es mit der Angst, man könnte im Grab verschwinden, ohne dass die Menschen erfahren haben, was für ein Supermann man gewesen ist. Deshalb hat er Ihrer Freundin gegenüber geplaudert, und jetzt ist Ihre Freundin tot. Er hat ihr von Calvin Somers erzählt, und Somers ist jetzt auch tot. Vielleicht hören Sie das nicht gerne, aber Sie haben ein unverschämtes Glück, dass Sie noch am Leben sind.«

Gaddis lachte. »Und das verdanke ich einzig und allein Ihnen, Tanya? Muss ich dem MI6 einen Dankesbrief schicken?«

Sie schüttelte enttäuscht den Kopf und schien ihm mit ihrem Blick sagen zu wollen, dass seine Feindseligkeit fehl am Platze war.

»Wer ist Peter?«, fragte er sie.

»Sonderabteilung«, antwortete sie, womit sie so ehrlich war, wie die Umstände es erlaubten.

Natürlich, dachte Gaddis. Crane hatte ihn nicht zu seinem eigenen Schutz engagiert, der junge Mann bildete vielmehr die erste Verteidigungslinie für den glorreichsten Agenten in der Geschichte des MI6. »Und er war einverstanden mit Cranes Entscheidung, an die Öffentlichkeit zu gehen? Warum ist er nicht angelaufen gekommen und hat euch erzählt, was der Alte da ausheckt?«

»Doppelte Loyalität, vermute ich. Sie wissen besser als jeder andere, dass Edward Crane es versteht, Menschen für sich einzunehmen.« Es war eine hinterhältige Bemerkung, aber Gaddis schluckte sie ohne Widerspruch. »Vielleicht hat er Peter versprochen, ihn an den Profiten zu beteiligen. Oder Peter ist zu der Einsicht gekommen, dass ATTILAS Geschichte es verdient, erzählt zu werden. Wer weiß?«

Er legte sich zurück auf das Kopfkissen. Sein Kopf pochte, und er bat Tanya um das Wasser. Er trank aus der Flasche und stellte sie auf dem Nachttisch ab. Es war seltsam, aber auf einmal fand er sie wieder schön. Ihr gemeinsames Abendessen fiel ihm ein, die Art, wie sie ihn angeschaut hatte, und er kam sich immer noch wie ein Idiot vor, weil er darauf reingefallen war.

»Wir müssen noch über morgen reden«, sagte sie. »In ein paar Stunden checken wir aus. Der Flughafen ist einer der Orte, wo man vielleicht nach Ihnen sucht.«

»Weshalb?«

»Der Mann, den Sie erschossen haben, war ein Russe, haben Sie gesagt. Die Polizei könnte vermuten, dass er einen Komplizen hatte. Sie werden nach einem Mann suchen, nach der Person, die den Tatort verlassen hat. Und so jemand würde wahrscheinlich versuchen, Berlin so schnell wie möglich zu verlassen.«

»Und warum fliegen wir dann?«

»Uns wird man nicht verdächtigen.«

»Uns?«

»Wir bleiben beisammen. Hand in Hand.«

Er setzte sich auf, drückte auf den Generalknopf an der Lichtschalterleiste neben dem Bett. Der Raum erstrahlte in Helligkeit. »Ohne mich.«

»Es ist das Beste, glauben Sie mir. Die einfachste Strategie. Ein Paar auf dem Rückflug von einem romantischen Berlintrip. Ein Mann allein ist viel auffälliger. Vertrauen Sie mir, Sam. Es ist die einzige Möglichkeit.«