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Natürlich war in internationalen Adressverzeichnissen kein Eintrag für einen Robert Wilkinson zu finden, also musste Gaddis Holly um einen Gefallen bitten. Hatte ihre Mutter ein Adressbuch? Würde man dort vielleicht Bobs Nummer finden? Holly fragte ihn, warum er so versessen darauf war, mit Wilkinson zu sprechen, aber Gaddis blieb ihr eine klare Antwort schuldig.
»Er war während einer wichtigen Phase des Kalten Krieges in Berlin. Es hat mit dem Buch über den MI6 zu tun. Ich möchte mich mit ihm treffen.«
Am Abend dann hatte Holly aus der Tite Street angerufen, um ihm die Information durchzugeben. Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie ihm Wilkinsons Nummer über eine offene Verbindung diktierte, deshalb hatte Gaddis sie notiert und war sofort zu einer fünfhundert Meter entfernten Telefonzelle in der South Africa Road gegangen. Wenn Hollys Anruf vom Nachrichtendienst mitgehört worden war, brauchten sie auf jeden Fall Stunden, um Wilkinsons Telefon in Neuseeland anzuzapfen.
Es war zwanzig Uhr in London, acht Uhr früh in Neuseeland. Er steckte vier Pfundmünzen in den Schlitz und tippte die Nummer ein.
»Hallo?«
»Spreche ich mit Robert Wilkinson?«
»Am Apparat. Wer sind Sie?«
Die Verbindung war sehr gut. Gaddis wunderte sich über die Klassenlosigkeit von Wilkinsons Akzent: Er war mit der Überzeugung groß geworden, dass alle Mitarbeiter des MI6 sich anhörten wie Mitglieder der königlichen Familie.
»Mein Name ist Sam Gaddis. Ich bin Dozent für russische Geschichte am UCL. Darüber hinaus habe ich gerade eine Biografie über Sergej Platow geschrieben. Sagt Ihnen mein Name etwas?«
»Nein. Nichts.«
Schweigen. Gaddis schwante, dass er es mit einem neuen Thomas Neame zu tun hatte.
»Ist der Zeitpunkt günstig für ein Gespräch?«
»So günstig wie jeder andere.«
»Ich würde mit Ihnen gerne über Katya Levette sprechen.«
Jetzt hatte er seine Aufmerksamkeit. Gaddis hörte ein scharfes, fast ängstliches Atemholen, die Arroganz wich aus ihm, dann ein halbes Wort – »Kat–«.
»Ich habe gehört, Sie waren gut befreundet.«
»Ja. Von wem haben Sie das gehört?«
»Ich bin mit Holly befreundet.«
»Lieber Gott. Holly. Wie geht es ihr?«
Wilkinson taute etwas auf. Gaddis zog einen Fetzen Papier und einen Kugelschreiber heraus und versuchte beides mithilfe des Ellenbogens am Telefongehäuse festzuklemmen. »Gut. Ich soll Sie herzlich grüßen.«
»Das freut mich.« Die Verbindung war kurz unterbrochen, vielleicht ein technischer Fehler, oder Wilkinson hatte sich im Haus einen bequemeren Platz zum Telefonieren gesucht. »Wie, sagten Sie, war Ihr Name? Mit wem spreche ich?«
»Sam Gaddis. Ich bin Hochschullehrer. Und Autor. Ich rufe aus London an.«
»Natürlich. Und Sie arbeiten mit Katya an einer Story?«
Er wusste nicht Bescheid über Katya. Man hatte Wilkinson nicht mitgeteilt, dass sie tot war. Gaddis würde es ihm sagen müssen.
»Sie wissen es noch gar nicht, Sir?« Er wunderte sich selbst über die Anrede, aber in dem Augenblick verspürte er Respekt. »Das tut mir leid. Ich hatte nicht damit gerechnet, der Überbringer der Nachricht zu sein. Katya Levette ist gestorben, Sir. Es tut mir sehr leid. Vor einem halben Jahr.«
»Oh Gott, eine schlimme Nachricht.« Die Antwort war knapp und stoisch; Gaddis meinte, die Gefasstheit auf Wilkinsons Gesicht zu sehen. Er hatte gerade die große Liebe seines Lebens verloren, aber einem Fremden würde er seinen Schmerz nicht zeigen. »Das trifft mich sehr. Wie wird Holly damit fertig?«
»Es geht. Sie kommt zurecht.«
Wilkinson fragte nach der Todesursache, und Gaddis antwortete, sie sei an Leberversagen gestorben, ein Euphemismus, den der ältere Mann sofort verstand.
»Ja. Ich hatte befürchtet, dass er sie am Ende holen würde. Ein Leben lang hat sie gegen den verfluchten Alkohol gekämpft. Ich werde Holly schreiben. Wohnt sie noch in der Tite Street?«
»Ja. Sie würde sich sehr freuen.«
»Ich denke gerade, dass Catherine ja Ende des Monats heiratet. Ich werde Holly fragen, ob sie nicht zur Trauung kommen kann. Es wäre wunderbar, sie wiederzusehen.«
Gaddis wusste aus Gesprächen mit Holly, dass Catherine Wilkinsons Tochter war, aber er hielt es für klüger, den Unwissenden zu spielen.
»Catherine?«
»Meine Jüngste. Sie heiratet einen Österreicher. In Wien. Ich fliege zur Hochzeit rüber. Wir müssen versuchen, Holly zu überreden.«
»Ich werde es ihr sagen.«
Ein Blick auf die Anzeige zeigte Gaddis, dass sein Guthaben auf fünfzig Pennys geschmolzen war. Er steckte noch einmal vier Pfundmünzen in den Schlitz und hustete laut, um das Klappern der Münzen zu übertönen.
Vergeblich.
»Rufen Sie aus einer Telefonzelle an?«, fragte Wilkinson.
Jegliches Abstreiten war zwecklos: Neben der Telefonzelle war ein frisierter Volkswagen Golf vorgefahren. Der Fahrer drückte ein paar Mal auf die Hupe, um jemanden in dem Mietshaus gegenüber auf sich aufmerksam zu machen. Für Wilkinson musste es sich anhören, als würde Gaddis ihn direkt von der Schnellstraße aus anrufen.
»Mein Telefon zu Hause funktioniert nicht«, sagte er und stieß dabei Kugelschreiber und Papierfetzen auf den Boden der Zelle. Während er sich bückte, um beides wieder aufzuheben, musste er das Kabel des Hörers ganz weit dehnen. »Und ich wollte unbedingt gleich mit Ihnen sprechen«, fügte er hinzu.
»Worüber, Doktor Gaddis?«
»Es sind ein paar Dokumente in meinen Besitz gekommen, die Katya, wie ich vermute, von Ihnen bekommen hat.«
Eine Pause. Wilkinson wog seine Optionen ab. »Ich verstehe.«
»Ich habe sie von Holly bekommen. Eine gemeinsame Freundin war der Meinung, dass das Material mich interessieren könnte.«
»Und, ist das der Fall?«
Etwas von der Widersetzlichkeit war in Wilkinsons Ton zurückgekehrt.
»Ich habe noch nicht die Zeit gefunden, alles durchzusehen. Jetzt stellt sich mir die Frage, ob Sie vielleicht wissen, was Katya mit den Dokumenten vorhatte.«
»Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«
Es klang nach der Unwahrheit, aber Gaddis hatte auch keine ehrliche Antwort erwartet. Wilkinson hatte potentiell sensible Geheiminformationen an eine Journalistin weitergegeben. Woher sollte er wissen, ob Gaddis ein vertrauenswürdiger Historiker oder ein vom SIS gedungener Agent provocateur war, der ihn zu einem Geständnis bewegen sollte?
»Vielleicht können wir uns in Wien treffen, um darüber zu reden?«, schlug Gaddis vor, ein spontaner Gedanke, der heraus war, ehe er das Für und Wider abgewogen hatte.
»Vielleicht«, antwortete Wilkinson ohne jegliche Überzeugung. Die Zeit lief ab. Wenn Gaddis nicht aufpasste, würde das Gespräch zu einem abrupten Ende gebracht werden.
»Es gibt eine Person, über die ich mich besonders gerne mit Ihnen unterhalten würde«, sagte er.
»Ja? Und wer ist das?«
»Sergej Platow.«
Wilkinson knurrte gleichgültig. »Ich dachte, Sie hätten eine Biografie über ihn geschrieben. Warum wollen Sie das alles noch mal aufrollen?«
»Weil die Perspektive sich verschoben hat.« Gaddis überlegte, wie er die Trumpfkarte am besten ausspielte. »Mich interessiert Platows Beziehung zu drei ehemaligen Geheimdienstagenten aus der Zeit der Sowjetunion.«
»Geheimdienstagenten?«
»Fjodor Tretiak war ein hochrangiger KGB-Vertreter in Dresden. Edward Crane war über einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren ein britischer Doppelagent. Und der Mann, der ihn Mitte der achtziger Jahre von Berlin aus führte, benutzte das Pseudonym Dominic Ulvert.«
Wilkinsons Schreck kam als geflüsterter Kraftausdruck durch die Fernverbindung.
»Sie verdammter Idiot. Ist die Verbindung sicher?«
»Ich glaube ja …«
»Ich möchte Sie bitten, mich nie wieder hier anzurufen.«