KAPITEL 24
Der brutale Mord an Diane Hinson hatte in ihrem exklusiven und angeblich gut bewachten Wohnviertel tiefe Bestürzung ausgelöst. Als Michelle und King dort eintrafen, bedrängte eine kleine, aber lautstarke Menge eine Gruppe von Männern in Anzügen, die die Verwaltung der Siedlung repräsentierten. Unter ihnen befand sich ein älterer Wachmann, der einen völlig verzweifelten Eindruck machte und den Tränen nahe schien.
Polizeifahrzeuge und Ambulanzwagen säumten die Sackgasse, die zu Diane Hinsons Haus führte, und das kleine Rasenstück vor dem Gebäude war mit gelbem Plastikband abgesperrt. Allerdings waren nur wenige Leute gewillt, sich die Sache aus der Nähe anzusehen. Uniformierte Polizisten gingen durch die Vorder-und Garagentür ein und aus. King und Michelle stiegen aus dem Wagen.
Polizeichef Williams stand an der Treppe vor dem Haus und begrüßte sie, bevor sie das Gebäude betraten.
Williams wirkte noch tiefer erschüttert als im Leichenschauhaus. Er ging gekrümmt wie ein alter Mann, und seine Schritte waren schwer. »Verdammt«, sagte er. »Womit habe ich das verdient?«
»Wurde Diane Hinson eindeutig identifiziert?«, fragte King.
»Ja. Wieso? Kennen Sie die Frau?«
»Wir sind beide Anwälte, und die Stadt ist klein.«
»Haben Sie sie näher gekannt?«
»Nicht genug, um bei den Ermittlungen helfen zu können. Wer hat sie gefunden?«
»Sie sollte heute früh in ihrer Kanzlei eine eidesstattliche Erklärung vorbereiten. Als sie nicht erschien, haben ihre Kollegen sie zu Hause und über Handy angerufen. Sie ging nicht ran. Daraufhin haben sie jemanden vorbeigeschickt. Ihr Auto stand in der Garage, aber niemand schien das Klingeln an der Tür zu hören. Weil sie sich Sorgen machten, haben sie die Polizei gerufen.« Williams schüttelte den Kopf. »Es war derselbe Täter, der auch Tyler, Pembroke und Canney auf dem Gewissen hat, kein Zweifel.«
Michelle entging nicht, wie sicher er sich war. »Haben Sie einen Brief bekommen, in dem es um das Pärchen geht?«
Williams nickte, zog einen Zettel aus einer Tasche und reichte ihn Michelle. »Hier ist eine Fotokopie. Verdammte Zeitung! Offenbar hat niemand sich getraut, den Brief zu öffnen, weil er an Virgil adressiert war, der aber ein paar Tage nicht in der Stadt war. Und so was nennt sich Reporter!«
»War der Brief genauso kodiert wie das erste Schreiben?«, fragte King.
»Nein, er kam so an, wie er ist. Und ohne Symbol auf dem Umschlag.«
»Das war’s dann also mit der Zodiac-Theorie.« King blickte Michelle an. »Was steht drin?«
Sie überflog den Brief und las dann vor: »›So, das war die Nächste. Es kommen noch mehr. Ich habe euch schon beim ersten Mal gesagt, dass ich nicht der Z-Mann bin. Aber ihr glaubt wahrscheinlich, dass der Junge im Zeichen des Z dran glauben musste. Überlegt noch mal genau. Ich habe das Hundehalsband nicht deshalb dagelassen, weil der Hund mich dazu getrieben hat. Ich habe nicht mal einen Hund. Ich wollte es ganz allein machen. Und noch mal nein, er bin ich auch nicht. Bis zum nächsten Mal. Es wird nicht lange dauern. Kein SOS.‹«
Sie blickte King verwirrt an.
»Hundehalsband? Wozu sollte der Hund ihn getrieben haben?«
»Dafür bist du zu jung, Michelle«, erwiderte King. »›SOS‹ und ›der Hund hat mich dazu getrieben‹. Das steht für Son of Sam, David Berkowitz, den Killer von New York City in den Siebzigern. Er wurde auch der Knutschecken-Killer genannt, weil einige seiner Opfer junge Paare waren, die in ihren Autos getötet wurden.«
»Genauso wie Steve Canney und Janice Pembroke«, sagte Michelle.
Williams nickte. »Berkowitz sagte, sein Nachbar wäre eine Art Dämon, der seine Mordbefehle durch seinen Haushund übermitteln ließ. Was natürlich völliger Blödsinn war.«
»Aber unser Mann weiß genau, was er tut«, sagte King. »Er hat es erklärt.«
Michelle schüttelte den Kopf. »Ich verstehe es immer noch nicht. Warum kopiert er den Stil früherer Morde wie ein Nachahmungstäter und schreibt dann Briefe, in denen er klarstellt, dass er sich nicht damit identifiziert? Ich meine, die Nachahmung ist doch die aufrichtigste Form der Schmeichelei, nicht wahr?«
»Wer weiß«, sagte Todd Williams. »Jedenfalls hat er die beiden Teenager getötet.«
King sah den Polizeichef an und blickte dann wieder auf den Brief. »Moment mal… Das hat er nicht gesagt. Er hat ›das war die Nächste‹ geschrieben.«
»Vielleicht hat er nur die letzten Buchstaben vergessen und ›das waren die Nächsten‹ gemeint«, sagte Williams.
»Der Singular ist ziemlich eindeutig. Außerdem schreibt er später ausdrücklich ›der Junge‹.«
William kratzte sich an der Wange. »Ich weiß nicht, ob Sie einem Psycho-Killer mit solcher grammatischen Haarspalterei kommen können.«
»Wenn es Absicht war – warum unterscheidet er dann zwischen den beiden?«, fragte Michelle.
Williams stieß einen tiefen Seufzer aus und zeigte auf die Treppe. »Kommen Sie mit nach oben, und sehen Sie’s sich an. Ich glaube aber nicht, dass dadurch irgendetwas klarer wird. Und ich brauche keinen verdammten Brief, um mir erklären zu lassen, wen er diesmal nicht nachzuahmen versucht.«
Sie stiegen ins Obergeschoss und betraten das Schlafzimmer. Diane Hinson lag noch genauso da, wie man sie gefunden hatte. Überall waren Leute von der Spurensicherung, Männer in FBI-Jacken und Ermittler der Virginia State Police damit beschäftigt, den Tatort zu sichern. Doch falls ihre mürrischen Mienen ein Hinweis waren, hatten sie bislang keine aussagekräftigen Spuren gefunden.
King beobachtete Sylvia Diaz, die sich in einer Ecke angeregt mit einem korpulenten Mann in einem schlecht sitzenden Anzug unterhielt. Sie blickte auf, begrüßte King mit einem erschöpften Lächeln und wandte sich wieder ab. Als Kings Blick auf das Symbol an der Wand fiel, schrak er zurück.
Es war ein fünfzackiger Stern, der jedoch mit der Spitze nach unten gezeichnet war.
»Ja, genauso habe ich auch reagiert.«
King drehte sich zu Todd Williams um, der ihn aufmerksam musterte. Dann bückte sich der Polizeichef und hob Diane Hinsons T-Shirt hoch. »Hier ist es noch einmal.« Sie betrachteten gemeinsam die Zeichnung auf dem Bauch der Toten.
Michelle hatte es ebenfalls gesehen. »Es ist ein auf dem Kopf stehendes Pentagramm«, sagte sie, holte tief Luft und blickte King und Williams an. »Dieses Zeichen kenne ich. Richard Ramirez, nicht wahr?«
King nickte. »Der Night Stalker. Der zurzeit in einem Gefängnis fünftausend Kilometer von hier entfernt auf seine Hinrichtung wartet, wenn ich mich nicht irre. Er hat ein umgekehrtes Pentagramm auf die Haut einiger seiner Opfer gezeichnet – und in mindestens einem Fall auch an eine Schlafzimmerwand, genauso wie hier.«
Todd Williams drehte Diane Hinson auf die Seite, sodass sie sich die zahlreichen blutigen Stichwunden im Rücken der Toten ansehen konnten.
»Sylvia sagt, dass sie offenbar mit dem Gesicht nach unten festgehalten wurde, während der Mörder ihr in den Rücken stach. Anschließend wurde sie umgedreht und ihre Hand gegen die Schublade gelehnt.«
Der Polizeichef legte die Tote wieder in die ursprüngliche Position zurück, ohne den Eindruck zu erwecken, sein Frühstück käme ihm wieder hoch. Williams schien sich allmählich an albtraumhafte Szenen zu gewöhnen.
»Irgendwelche Hinweise?«, fragte Michelle.
»Der Mörder hat ein Messer aus Hinsons Küche als Tatwaffe benutzt, und er hat sie mit einem Telefonkabel aus dem Haus gefesselt. Es gibt Spuren an ihren Handgelenken, die darauf hindeuten. Dann hat er die Fessel wieder entfernt, um ihren Arm in Position bringen zu können. Hier gibt es jede Menge Fingerabdrücke, aber es würde mich ziemlich überraschen, wenn der Mistkerl keine Handschuhe getragen hat.«
»Steht fest, dass es ein Mann war?«
»Es gibt keine Anzeichen für einen Kampf. Sie muss sehr schnell überwältigt worden sein. Und selbst wenn es eine Frau mit einer Waffe war, hätte es für sie schwierig werden können, das Opfer zu fesseln. Diane Hinson hätte es vielleicht geschafft, sich zu wehren. Sie war in guter körperlicher Verfassung.«
King runzelte verwirrt die Stirn. »Und niemand hat etwas gehört oder gesehen? Diese Wohneinheiten grenzen unmittelbar aneinander. Jemand muss doch etwas bemerkt haben.«
»Das untersuchen wir natürlich, aber zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich noch nichts dazu sagen. Wir wissen nur, dass die Wohnung rechts von Hinsons Haus leer steht.«
»Wann wurde Hinson getötet?«, fragte Michelle.
»Das müssen Sie Sylvia fragen, wenn dieser FBI-Typ sie irgendwann freigibt.«
King schaute erneut in Sylvias Richtung. »Gehört er zum VICAP?«
»Um Ihnen die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen: Ich bin mir nicht sicher. Hier drinnen sind so viele Leute, dass ich nicht weiß, wer wozu gehört.«
»Todd«, sagte King, »passen Sie auf, dass Sie so was nicht in Hörweite einer Strafverteidigerin sagen.«
Todd Williams wirkte für einen Moment irritiert. »Alles klar«, sagte er dann. »Verstanden.«
Sie sahen sich die Armbanduhr an.
»Sie steht auf vier«, sagte Williams mit deprimierter Miene.
King beugte sich hinunter und sah sich die Sache genauer an. »Nein.«
»Wie bitte?«
»Sie steht auf eine Minute nach vier.«
Williams ging neben ihm in die Knie. »Ich glaube, in Anbetracht der Umstände kann man von vier Uhr sprechen.«
»Der Killer hat bisher immer großen Wert auf Details gelegt, Todd.«
Todd Williams war skeptisch. »Er hat gerade eine Frau getötet und will so schnell wie möglich verschwinden. Wahrscheinlich musste er im Dunkeln hantieren. Im Gegensatz zu den anderen Tatorten halten sich hier eine Menge potenzieller Zeugen in der Nähe auf. In der Eile hat er wahrscheinlich gar nicht bemerkt, dass ihm der Zeiger um eine Minute verrutscht ist.«
»Möglich«, entgegnete King genauso skeptisch. »Aber einem Killer, der darauf achtet, keine verwertbare Spur zu hinterlassen, traue ich nicht zu, dass er Nächste schreibt, obwohl er eigentlich Nächsten meinte, oder dass er eine Uhr auf eins nach vier stellt, obwohl er vier meint.«
»Und wenn er tatsächlich vier Uhr eins meinte, was wollte er damit sagen?«, fragte Michelle.
Darauf hatte King keine Antwort. Er betrachtete längere Zeit die Tote, während Williams sich entfernte, um etwas anderes zu überprüfen.
Michelle legte King eine Hand auf die Schulter. »Tut mir Leid, Sean. Ich habe ganz vergessen, dass du sie gekannt hast.«
»Sie war ein guter Mensch und eine hervorragende Anwältin. So etwas hat sie nicht verdient… Keiner hat so was verdient.«
Als sie auf dem Weg nach draußen an Sylvia vorbeikamen, hielt die Ärztin sie auf. Der Mann im Anzug hatte sich einer anderen Gruppe angeschlossen, die sich mit der Leiche beschäftigte. Er war etwas kleiner als King, aber wesentlich stämmiger. Es schien, als würden seine Schultern jeden Moment aus seinem Anzug platzen. Er hatte ausgedünntes, graubraunes Haar, Blumenkohlohren und eine platte Boxernase zwischen zwei braunen Augen mit aufmerksamem Blick.
»Damit hätten wir die Nummer vier«, sagte Sylvia. »Der Night Stalker. Wer hätte das gedacht?« Sie schüttelte den Kopf.
»Wer ist der Mann, mit dem du gerade gesprochen hast?«, fragte King.
»Ein FBI-Agent. Chip Bailey aus Charlottesville.«
»Chip Bailey…«, wiederholte King langsam.
»Du kennst ihn?«, fragte Sylvia.
»Nein, aber ich würde ihn gern kennen lernen.«
»Das ließe sich arrangieren. Natürlich erst später. Im Moment sind hier alle ziemlich beschäftigt.«
»Kein Problem.« Er hielt einen Moment inne. »Hast du gesehen, was ihre Uhr anzeigt?«
Sylvia nickte. »Eine Minute nach vier. Genauso wie bei Janice Pembroke.«
»Was?«, riefen King und Michelle gleichzeitig.
»Pembrokes Uhr stand auf eine Minute nach zwei. Habe ich euch das nicht gesagt?«
»Nein«, erwiderte Michelle. »Und Todd auch nicht. Wahrscheinlich hat er dem Detail keine besondere Bedeutung beigemessen.«
»Was hältst du davon?«, fragte King.
»Ich halte es für wichtig. Ich weiß nur noch nicht, was es bedeuten soll.«
»Ist dir noch etwas anderes aufgefallen, Sylvia?«, fragte King.
»Ich habe eine Rektaluntersuchung bei Diane Hinson gemacht, nachdem ich nach Hinweisen auf ein sexuelles Vergehen gesucht habe. Auch in diesem Fall mit negativem Ergebnis. Sie ist seit acht oder neun Stunden tot. Allerdings handelt es sich um zwölf Stichwunden.«
Michelle bemerkte Sylvias Tonfall. »Das wäre ein Overkill.«
»Ja. Und es ist ein Zeichen für entfesselte Wut«, sagte Sylvia. »Die Hände und Unterarme des Opfers weisen keine Anzeichen einer Gegenwehr auf. Offenbar wurde sie überrascht und sehr schnell überwältigt.«
Sie hob ihre Tasche auf und zeigte auf die Tür. »Ich gehe jetzt zurück in meine Praxis. Ich habe Sprechstunde. Anschließend werde ich Diane Hinson obduzieren.«
»Wir begleiten dich«, sagte King.
Sie traten hinaus in die kühle Luft, die sich in der Sonne jedoch schnell erwärmte.
»Ich wollte euch noch fragen, wie ihr mit der Ermittlung in Sachen Junior Deaver vorankommt.«
King blickte Sylvia überrascht an. »Woher weißt du davon?«
»Im Supermarkt ist mir Harry Carrick über den Weg gelaufen. Ich habe ihm gesagt, dass ihr beiden euch um diese Morde kümmert, und er sagte mir, dass ihr einen Auftrag für ihn erledigt. Ich kann noch immer nicht glauben, dass Junior Deaver den Einbruch begangen haben soll. Er hat einige Reparaturen an meinem Haus vorgenommen. Ich fand ihn immer sehr höflich und entgegenkommend, wenn auch ein wenig ungeschliffen.«
»Wir haben mit Remmy, Eddie, Dorothea und dem Personal gesprochen.«
»Und nicht allzu viel herausgefunden, nehme ich an«, sagte Sylvia.
»Remmy ist wegen Bobby ziemlich in Sorge«, sagte King.
»Ich habe gehört, dass es ihm nicht gut geht.«
»Aber es besteht noch Hoffnung«, sagte Michelle. »Er hat vor kurzem das Bewusstsein wiedererlangt und sogar ein paar Worte gesprochen. Allerdings nur wirres Zeug. Aber ich denke, das ist trotzdem ein gutes Zeichen.«
»Bei einem Schlaganfall kann man nie wissen«, sagte Sylvia. »Gerade wenn man glaubt, der Patient würde sich erholen, kann er plötzlich sterben. Oder umgekehrt.«
King schüttelte den Kopf. »Jedenfalls wünsche ich Remmy, dass Bobby es schafft.« Er sah Sylvia an. »Du teilst uns mit, was du über Diane Hinson herausfindest?«
»Todd hat mir gesagt, dass ich euch informieren soll, und er ist der Chef. Zumindest so lange, bis das FBI oder die State Police den Fall übernimmt.«
»Halten Sie das für wahrscheinlich?«, fragte Michelle.
»Wenn dieser Wahnsinnige gefasst werden soll, wäre das wohl zu begrüßen«, sagte Sylvia nachdrücklich.