KAPITEL 41
Junior Deaver trat vor sein halb fertiges Haus und blickte zum dunklen Himmel. Er war erschöpft, nachdem er den ganzen Tag für andere Leute gearbeitet hatte, bevor er hierher gekommen war, um Nägel in Schindeln und Sperrholz zu treiben. Unmittelbar vor Anbruch der Dämmerung war er damit fertig geworden; dann hatte er Innenarbeiten erledigt. Seine ganze Familie freute sich bereits darauf, endlich aus dem engen Wohnwagen zu kommen.
Doch der bevorstehende Strafprozess lastete schwer auf seinen Schultern. Lulu lag ihm damit ständig in den Ohren. Vielleicht sei es das Ende all ihrer Träume, sagte sie. Was war, wenn Mrs Battle sie verklagte? Dann wäre alles vorbei. Juniors Schwiegermutter schlug in die gleiche Kerbe, und wenn Priscilla einmal loslegte, konnte sie nicht mehr aufhören. Junior hatte in seinem Leben schon viele Tiefen durchgemacht. Doch seine derzeitige Situation zählte zu den schlimmsten.
Er dachte an Remmy Battles Angebot. Wenn er nur etwas hätte, das er ihr geben könnte! Es machte ihn fertig, dass ihm offenbar niemand glauben wollte. Doch wenn er die vielen Beweise bedachte, die gegen ihn sprachen, konnte er verstehen, warum die Frau ihn für schuldig hielt.
Während er ein Sandwich aß und ein Bier trank, das er sich aus der Kühltasche geholt hatte, ließ er sich verschiedene Dinge durch den Kopf gehen. Er hätte die Schwierigkeiten auf einen Schlag beenden können, wenn er wollte – indem er die Wahrheit sagte, was er in jener Nacht getan hatte. Aber eher würde er ins Gefängnis gehen. Das konnte er Lulu einfach nicht antun. Es war eine Dummheit gewesen, eine verdammt große Dummheit. Aber er konnte es nicht mehr ungeschehen machen.
Er aß das Sandwich auf. Sein Handy vibrierte, obwohl die Mailbox bereits mit Nachrichten voll gepackt war. Er hasste das verdammte Ding. Im Augenblick wollte jeder irgendetwas von ihm. Junior sah die Liste der Anrufe durch. Bei einem Namen stutzte er: Sean King. Was wollte der denn von ihm? Egal, was es war, er würde damit warten müssen.
Junior ging wieder ins Haus. Es war kurz vor acht und an der Zeit, Feierabend zu machen. Er war seit vier Uhr früh auf den Beinen. Sein Rücken schmerzte, nachdem er immer wieder mit den Dachschindeln die Leiter rauf-und runtergestiegen war. Für diese Art von Plackerei wurde er allmählich zu alt. Trotzdem würde er damit weitermachen, bis er irgendwann tot umfiel. Was sollte jemand wie er sonst tun?
Der Schlag kam genau von hinten. Er zertrümmerte ihm den Schädel und brachte den großen Mann ins Wanken. Junior fasste sich an den Kopf und fuhr im gleichen Moment herum. Durch das Blut, das ihm übers Gesicht lief, sah er, wie der Mann mit der schwarzen Sturmhaube und der erhobenen Schaufel auf ihn zukam. Es gelang Junior, den nächsten Schlag mit dem Unterarm abzufangen, der dabei jedoch gebrochen wurde. Junior wurde nach hinten geworfen, prallte auf den Rücken und schrie vor Schmerz. Als er auf dem kalten Holzboden lag, sah er, wie die Schaufel sich ein weiteres Mal näherte. Verzweifelt trat er mit dem rechten Bein zu und brachte den Angreifer aus dem Gleichgewicht.
Der stürzte, sprang aber schon im nächsten Moment wieder auf. Junior setzte sich auf und hielt sich den zertrümmerten Arm. Mit keuchenden Atemzügen trat er immer wieder nach dem Angreifer, um ihn von sich fern zu halten, während er auf dem Hintern zurückwich. Das Sandwich und das Bier kamen ihm wieder hoch und verteilten sich auf dem Boden. Es gelang ihm, sich halb aufzurichten; dann bekam er einen weiteren Schlag in den Rücken und stürzte wieder der Länge nach hin.
Junior Deaver war über eins neunzig groß und wog 120 Kilo. Wenn er seinen kleineren Gegner nur einmal erwischen konnte, hätte die Lage sich sehr schnell geändert. Er würde den Dreckskerl mit bloßen Händen töten. Doch er war bereits so schwer verletzt, dass er vermutlich nur eine einzige Chance erhalten würde. Nach etlichen Kneipenschlägereien besaß Junior genügend Erfahrung, auf die er zurückgreifen konnte. Er überlegte, wie er den Angreifer täuschen konnte.
Er ging auf die Knie, wobei sein Kopf fast den Boden berührte, als hätten ihn die Kräfte verlassen. Als er die Schaufel sah, katapultierte er sich nach vorn und traf seinen Gegner genau in die Magengrube. Beide Männer wurden quer durch den Raum geschleudert und krachten durch eine Rigipswand.
Sie landeten auf dem Boden, und Junior versuchte den kleineren Mann festzuhalten, aber die Schmerzen in seinem Arm und in der Schulter waren zu groß. Außerdem strömte Blut aus dem Riss in seinem Schädel, wodurch Druck auf sein Gehirn ausgeübt wurde, was seine motorischen Fähigkeiten immer stärker beeinträchtigte. Junior wollte sich aufrappeln, aber der andere war schneller. Er rollte sich zur Seite, hob eine Latte auf, an der noch ein Stück Rigips hing, und schlug Junior damit immer wieder auf den Schädel. Seine Hiebe wurden härter und wilder. Das Holz splitterte, verbogene Nägel wurden herausgetrieben, und schließlich zerbrach die Latte in zwei Teile. Junior stöhnte, ging zu Boden und stand nicht mehr auf. Sein Bauch hob und senkte sich. Blut floss aus mehreren Kopfwunden, und er lag reglos und mit geschlossenen Augen da.
Der Mann mit der Sturmhaube näherte sich vorsichtig, da er mit einem neuen Trick rechnete. Zuerst verfluchte er Junior und dann sich selbst, weil er sein Opfer deutlich unterschätzt hatte. Er war überzeugt gewesen, dass der Mann nach einem gezielten Schlag mit der Schaufel gegen den Hinterkopf außer Gefecht gesetzt war. Er beruhigte sich, versuchte klaren Kopf zu bekommen und sagte sich, dass er sein Werk zu Ende bringen musste.
Ihm war schwindlig, als er schwer atmend, mit trockener Kehle und schmerzenden Muskeln neben Junior niederkniete und ein rundes Stück Holz, das an einem Seil befestigt war, aus dem Mantel zog. Er legte das Tourniquet über Juniors Kopf, schob es bis zum dicken Hals herunter und zog es langsam zu, bis er hörte, wie Junior röchelnd nach Luft schnappte. Er drehte immer weiter und erhöhte den Druck. Ein paar Minuten später hob Juniors großer Bauch sich ein letztes Mal, dann war Ruhe.
Der Mann ließ das Stück Holz los und ging in die Hocke. Er spürte seine Schulter, die beim Zusammenstoß mit Junior und der Wand verletzt worden war. Doch damit konnte er leben. Viel problematischer war, dass der Kampf möglicherweise aussagekräftige Spuren hinterlassen hatte.
Mit Juniors Generatorlampe leuchtete er sich ganz genau ab. Er war mit dem Blut, dem Schleim und dem Erbrochenen des Mannes besudelt. Zum Glück trug er seine Sturmhaube, Handschuhe und lange Ärmel, denn schon ein einziges ausgerissenes Haar mit seiner DNA konnte ihm zum Verhängnis werden.
Er suchte die Umgebung und den Toten systematisch nach sämtlichen Spuren ab, die Sylvia Diaz oder ihren Kollegen einen Hinweis auf seine Identität geben konnten. Besonders gründlich inspizierte er Juniors Fingernägel, ob sich verräterisches Material darunter festgesetzt hatte. Als er überzeugt war, keine Spuren hinterlassen zu haben, zog er die Clownmaske aus der anderen Manteltasche und legte sie neben die Leiche. Sie war beim Kampf zerknittert worden, aber die Polizei würde trotzdem erkennen, welche Bedeutung dahinter steckte.
Er fühlte nach Juniors Puls, um sich zu vergewissern, dass der Mann tot war. Dann wartete er fünf Minuten und fühlte erneut nach dem Puls. Die subtilen Veränderungen eines Körpers nach dem Tod waren ihm gut bekannt, und zu seiner Zufriedenheit traten sie wie erwartet ein. Junior war hinüber. Vorsichtig griff er nach Juniors linker Hand und hob sie an, zog das Rädchen der Armbanduhr heraus und stellte die Uhr auf exakt fünf – dieselbe Zeit, die der Nachahmer auf Bobbys Uhr eingestellt hatte. Es war eine deutliche Botschaft an die Polizei und den Imitator. Er wollte, dass beide Parteien Bescheid wussten. Statt den Arm aufzurichten, legte er die Hand auf den Boden und zog dann einen schwarzen Filzschreiber aus Juniors Werkzeuggürtel, um damit einen Pfeil auf den Holzfußboden zu zeichnen, der genau auf die Uhr zeigte. Schließlich entfernte er Juniors große Gürtelschnalle mit dem NASCAR-Logo und steckte sie in seine Tasche.
Das Geräusch erschreckte ihn fast zu Tode, bis er erkannte, worum es sich handelte. Juniors Handy klingelte. Es war während des Kampfes heruntergefallen. Der Mann betrachtete die Anzeige. Jemand versuchte, von zu Hause anzurufen. Na, die konnten lange auf eine Antwort warten. Junior würde nie mehr nach Hause kommen.
Er richtete sich auf zittrigen Beinen auf, blickte auf den Mann mit der Aderpresse um den Hals und auf die Clownmaske, die neben ihm lag. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ein weiteres Werk der Gerechtigkeit war vollbracht. Er hatte nicht vor, ein Gebet für Junior zu sprechen. Mit einem Fußtritt schaltete er den batteriebetriebenen Generator ab, worauf die Umgebung schlagartig in Dunkelheit getaucht wurde. Der Tote verschwand wie weggezaubert.
Das nächste Geräusch jagte dem Mann einen eisigen Schrecken ein.
Es war das Geräusch eines sich nähernden Autos. Er huschte zu einem der vorderen Fenster. Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit und zielten genau auf ihn.