KAPITEL 94
Im Casa Battle stapfte Michelle in ihrem Zimmer auf und ab wie ein eingesperrtes Tier, das verzweifelt nach einer Lücke sucht, um in die Freiheit zu entfliehen. King war zum Abendessen bei Sylvia. Michelle war nicht eingeladen worden. Aber sollte sie das wundern?
Schließlich verließ sie das Zimmer, eilte die Haupttreppe hinunter, indem sie immer zwei Stufen auf einmal nahm, und betrat den Salon. Sie hatte Remmy den ganzen Tag nicht gesehen. Und Dorothea schlief wahrscheinlich, wie so oft in letzter Zeit. Wer hätte es ihr verübeln können? Sie war finanziell ruiniert, hatte ein Drogenproblem, man verdächtigte sie noch immer, Kyle Montgomery ermordet zu haben, und ihr Ehemann hatte sich als irrer Serienmörder erwiesen, der sich auf der Flucht befand.
Michelle blieb stehen, als sie Savannah über den Flur gehen sah. Die junge Frau kleidete sich nicht mehr nach dem Vorbild ihrer Mutter; vielleicht schwand Remmys bislang so unantastbare Autorität. Stattdessen trug Savannah eine tief sitzende Jeans, die den oberen Rand ihres schwarzen Tangas frei ließ, und ein kurzes Top, aber keine Schuhe; die Zehennägel hatte sie in Bratapfelrot lackiert.
Als sie Michelle bemerkte, hob sie verdutzt den Blick, als wäre sie sich gar nicht bewusst, dass sie schon seit Tagen im selben Haus mit ihr wohnte.
»Wie geht’s?«, fragte Michelle.
Savannah zog ein missmutiges Gesicht. »Einfach toll. Vater tot, Schwägerin zerrüttet, Mutter fix und fertig, Bruder ein Serienmörder. Und wie geht es Ihnen?«
»Entschuldigung, war eine blöde Frage.«
»Schon gut. Es ist ja nicht so, dass Sie es in letzter Zeit leicht gehabt hätten.«
»Im Vergleich zu Ihrer Familie hat es vermutlich jeder auf Erden in letzter Zeit leicht gehabt«, erwiderte Michelle. »Ich wollte mir Kaffee aufbrühen. Möchten Sie auch welchen?«
Savannah zögerte, bevor sie antwortete. »Klar, ich hab nichts Besonderes vor.«
Die beiden Frauen nahmen im Salon Platz.
Michelle blickte aus dem Fenster; draußen prasselten soeben die ersten Regentropfen gegen die Scheibe. »Hört sich an, als würde ein Unwetter aufziehen«, sagte sie. »Hoffentlich ist Sean bald wieder da.«
»Ist er bei Sylvia?«
»Ja, zum Abendessen.«
»Schlafen Sie beide miteinander?«
Bei dieser unverblümten Frage zuckte Michelle zusammen. »Sylvia und ich?«, scherzte sie.
»Sie wissen, wen ich meine.«
»Nein, tun wir nicht. Nicht, dass es Sie etwas anginge.«
»Wäre Sean mein Kollege, würde ich mit ihm schlafen.«
»Das wäre schön für Sie persönlich, aber einer guten Zusammenarbeit wär’s abträglich.«
»Sie haben ihn doch gern, oder?«
»Ja, und ich respektiere ihn. Und ich bin froh, dass wir Geschäftspartner sind.«
»Und sonst nichts?«
»Wieso interessieren Sie sich so dafür?«
»Weil ich wohl niemals erleben werde, dass ich einen mir teuren und lieben Menschen habe.«
»Unsinn, Savannah. Sie sind jung, schön und reich. Sie können sich jeden Mann Ihrer Wahl aussuchen.«
Savannah seufzte tief. »Nein, so kommt es nicht.«
Aufmerksam musterte Michelle sie. »Was soll diese Mitleidsnummer?«
Unerwartet fuhr Savannah aus der Haut. »Mitleidsnummer? Was soll denn werden, wenn ich so wahnsinnig bin wie der Rest der Familie? Mein Vater war übergeschnappt. Mein Bruder ist ein Mörder. Inzwischen weiß ich, dass mein anderer Bruder Syphilis hatte. Meine Mutter ist eine alte Hexe. Sogar meine Schwägerin hat einen an der Waffel. Es ist wie eine Seuche. Kommt man mit den Battles in Kontakt, ist man verloren. Unter solchen Voraussetzungen habe ich keine Chance.« Sie zerschmetterte die Kaffeetasse auf dem Fußboden, krümmte sich zusammen und schluchzte.
Michelle zögerte, nahm Savannah dann aber fest in die Arme und redete besänftigend auf sie ein. Während draußen das Unwetter tobte, verebbte Savannahs Schluchzen allmählich, und sie klammerte sich an Michelle, als wäre sie die einzige Freundin, die sie jemals gehabt hatte und jemals haben würde.
Eigentlich wollte Michelle nichts anderes, als aus diesem Haus verschwinden, wollte sich Eddie zum Kampf stellen, statt noch länger im Casa Battle herumzutrödeln. Und doch blieb sie und hielt Savannah in den Armen, als wäre sie ihre kleine Schwester. Doch insgeheim dankte sie dem Himmel, dass dem nicht so war. Denn wer wusste, ob Savannah nicht mit allem, was sie eben gesagt hatte, Recht hatte? Vielleicht waren die Battles tatsächlich verflucht.