KAPITEL 67
Michelle war nach Hause gefahren, hatte eine Zeit lang auf den Sandsack im Keller eingedroschen, hatte Wäsche eingeräumt und zum Schluss Ordnung in der Küche geschaffen. Danach duschte sie und dachte daran, ins Bett zu gehen, doch inzwischen hatte eine innere Unruhe sie gepackt. Ihre Gedanken kehrten stets zu den Morden zurück. Übersahen sie etwas? King hatte sogar angedeutet, dass Mrs Canney gar nicht bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sei, sondern ermordet worden war. Aber falls das stimmte – wer war dann ihr Mörder gewesen?
Da ihr vom Grübeln der Kopf schwirrte, entschloss Michelle sich zu einer Spritztour, ein Mittel, das ihr bisher noch jedes Mal geholfen hatte. Die Fahrt führte sie an ihrer und Kings Detektei vorbei. Kurz entschlossen parkte sie und ging hinein, um die Aufzeichnungen, die sie im Verlauf der bisherigen Ermittlungen angefertigt hatte, ein weiteres Mal durchzuschauen.
Als sie das kleine Foyer der Detektei durchquerte, sah sie auf dem Tisch der Teilzeit-Vorzimmerdame mehrere Telefonnotizen liegen. Eine betraf den Anruf eines Billy Edwards für King. Michelle kam der Name bekannt vor, doch im Moment wusste sie nichts damit anzufangen. Kurz entschlossen rief sie an. Nach dem dritten Freizeichen nahm jemand ab.
»Mr Edwards?«
»Am Apparat. Wer ist da?«
»Michelle Maxwell. Ich bin Sean Kings Partnerin und rufe aus Wrightsburg in Virginia an. Soviel ich weiß, ist Sean mit Ihnen in Verbindung getreten…«
»Ja.«
»Er hat mich gebeten, mich bei Ihnen zu melden, weil er derzeit außer Haus ist.«
»Soll mir recht sein. Was möchten Sie denn über die Zeit meiner Tätigkeit bei den Battles wissen?«
Nun wusste Michelle den Namen einzuordnen. Billy Edwards war der Automechaniker gewesen, der Bobby Battles Oldtimer-Sammlung betreut hatte. Nach einem Krach zwischen Bobby und Remmy Battle – dem einzigen Ehestreit, den Sally Wainwright gehört hatte – war er am Tag darauf entlassen worden.
»Genau darum geht es«, sagte Michelle. »Uns ist aufgefallen, dass Sie eine sehr plötzliche Entlassung hinnehmen mussten.«
Edwards lachte. »So kann man es auch nennen. Ich wurde ohne jede Vorwarnung hochkant rausgeworfen.«
»Von Bobby Battle?«
»Dem einen und einzigartigen Bobby Battle. Aus den Nachrichten habe ich erfahren, er soll gestorben sein. Ist da was dran?«
»Ja. Hat er Ihnen für den Rausschmiss einen Grund genannt?«
»Nein. Es wäre auch überflüssig gewesen. Mit meiner Arbeit hing es nicht zusammen, das weiß ich genau. Allerdings war ich sauer, wie er mit mir umgesprungen ist. Ansonsten aber hatte er mich bis zum Schluss gut behandelt. Er hat mir eine anständige Abfindung gezahlt und eine ausgezeichnete Empfehlung ausgestellt, die mir eine Hilfe war, bei einem anderen reichen Pinkel in Ohio, der eine noch größere Oldtimer-Sammlung besitzt, eine neue Anstellung zu finden.«
»Schön für Sie. Wir wissen außerdem, dass es an dem Abend, bevor Sie entlassen wurden, in der Garage zwischen Bobby und Mrs Battle eine heftige Auseinandersetzung gab.«
»Remmy Battle. Ja, die ist eine Furie. Aber die beiden standen sich in nichts nach. Es war wie ein Kampf zwischen Godzilla und King Kong.«
»Haben Sie etwas über den Grund des Streits mitgekriegt?«
»Nein. Woher wissen Sie überhaupt davon?«
»Leider kann ich Ihnen die Quelle nicht nennen, sie ist vertraulich.«
»Hm-hm. Ich würde wetten, es war Sally Wainwright, stimmt’s?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil sie gelegentlich in der Garage herumgehangen hat. Mit mir, Sie verstehen?« Edwards lachte auf. »O ja, ich und Sally haben uns da so manche schöne Stunde gegönnt.«
»Sie hatten dort… Rendezvous?«
»Nein. Es ging uns bloß ums Bumsen. Sie war eine wilde Braut, das können Sie mir glauben. Hätte Battle gewusst, was wir in einigen seiner Oldies getrieben haben…«
»Tatsache?«
»Klar. Aber ich war nicht der Einzige.«
»Wer denn noch?«
»Arbeitet Mason noch bei den Battles?«
»Ja.«
»Na, dann wissen Sie Bescheid.«
Michelle konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. »Mason hat mit Sally geschlafen?«
»Jedenfalls hat sie es behauptet. Persönlich gesehen hab ich es nie. Aber sie ist ein hübsches Mädchen. Wahrscheinlich sollte ich einer Frau gegenüber so was nicht erwähnen, aber wenn alle im selben Haushalt leben, passiert so was nun mal. Man sieht sie in spärlicher Kleidung herumlaufen oder mit nichts als einem Badetuch aus der Dusche kommen, und… Na ja, wir sind doch alle nur Menschen. Ich hab deswegen kein schlechtes Gewissen.«
»Kommt sonst noch wer in Frage?«
»Wahrscheinlich, aber ich kann Ihnen keine Namen nennen.«
»Sally sagte, Bobby hätte den Rolls-Royce gerade in die Garage gefahren, als es zwischen ihm und Remmy zu dem Streit kam.«
»Der Rolls war ein Prachtauto. Auf der ganzen Welt gibt es davon höchstens noch fünf Exemplare. Hat Bobby ihn verkauft?«
»Anscheinend schon am folgenden Tag.«
»Das dachte ich mir.«
Michelle stutzte. »Inwiefern?«
»An dem Morgen, als er mich gefeuert hat, bin ich in die Garage gegangen, um mein Werkzeug und den übrigen Kram zu holen. Ich hatte immer eine Schwäche für den Rolls. Ein herrliches Auto. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sehen durfte. Und es ist ja nicht so, dass ich mir inzwischen selbst einen gekauft hätte.« Edwards lachte.
»Was dann?«, drängte Michelle.
»Nun, ich wollte mir den Rolls noch mal anschauen. Ich hab die Abdeckplane entfernt, mich reingesetzt und mir vorgestellt, er würde mir gehören.«
»Okay«, sagte Michelle ungeduldig. »Aber wieso haben Sie damit gerechnet, dass Battle den Wagen verkauft?«
»Als ich ihn wieder mit der Plane zudeckte, fiel mir auf, dass der linke vordere Kotflügel eine Beule und ein Scheinwerferglas einen Sprung hatte. Der Schaden musste am Abend zuvor entstanden sein, denn am vorherigen Nachmittag hatte ich den Wagen noch überprüft, und da war er unbeschädigt. Eigentlich war es kein großer Schaden, aber bei einem so wertvollen Fahrzeug gehen selbst die kleinsten Reparaturen in die Tausende. Und man kriegt für solche Fahrzeuge keine Ersatzteile mehr. Es war eine Schande. Ich nehme an, Battle hatte irgendwo einen Blechschaden gebaut und war deshalb mieser Laune. Wenn nicht alles seine Richtigkeit hatte, war der Mann ein Kotzbrocken. Ab und zu kam er in die Garage und hat mich angeschissen, weil er auf dem Boden Öl sah oder ein Nummernschild ein bisschen schief hing. Wahrscheinlich hat es ihm gestunken, dass der Rolls den Schaden abgekriegt hatte. Wenn er ihn nicht reparieren konnte, wollte er ihn nicht mehr haben. So war der Mann.«
»Haben Sie jemandem von der Beschädigung des Rolls-Royce erzählt?«
»Nein, es war ja sein Auto. Er konnte damit anstellen, was er wollte.«
»Erinnern Sie sich an den genauen Zeitpunkt der Beschädigung?«
»Wie gesagt, es muss am Abend vor meiner Entlassung passiert sein. Am Vortag hatte ich nachmittags ja noch keine Schäden bemerkt.«
»Wissen Sie noch das Datum?«
Einen Moment lang schwieg Edwards. »Es ist über drei Jahre her, so viel kann ich noch sagen«, meinte er schließlich. »Im Herbst. Bis ich die Stelle in Ohio bekam, musste ich eine Zeit lang für eine Firma in North Carolina arbeiten. Vielleicht war’s im September… nein, eher Oktober oder November.« Seine Stimme bezeugte Unsicherheit. »Glaub ich wenigstens.«
»Genauer können Sie es nicht eingrenzen?«
»Hören Sie, ich kann mich kaum daran erinnern, wo ich letzte Woche war, gar nicht davon zu reden, was vor drei Jahren gewesen ist. Seitdem bin ich ganz schön herumgekommen.«
»Könnten Sie mal auf den Gehaltsabrechnungen aus Ihrer Zeit bei den Battles nachschauen? Oder von den Jobs in North Carolina und Ohio? Dann kommen wir vielleicht weiter.«
»Gnädigste, ich wohne in einer Schlafbude in West Hollywood. Mir fehlt der Platz, um solchen Krempel aufzubewahren. Ich kann mit Mühe und Not meine Klamotten unterbringen.«
»Aber würden Sie anrufen, falls es Ihnen doch noch einfällt?«
»Klar, wenn’s wichtig ist.«
»Es ist sehr wichtig.«
Michelle legte auf und setzte sich an ihren Schreibtisch. Vor über drei Jahren im Herbst. Aber war es wirklich im Herbst geschehen? Dann musste es vor etwa dreieinhalb Jahren gewesen sein, weil derzeit Frühling war. Vielleicht erinnerte sich Sally Wainwright an das genaue Datum… Michelle sah auf die Uhr. Inzwischen war es zu spät, um Sally anzurufen. Sie musste das Telefonat auf den Morgen verschieben. Doch sie beschloss, sofort mit King zu reden und ihn über die neuen Erkenntnisse zu informieren.
Sie rief ihn auf dem Handy an, doch er meldete sich nicht. Sie sprach ihm eine Mitteilung auf die Mailbox. Ein anderes Telefon hatte er auf dem Hausboot nicht.
Schlief er schon?
Während Michelle auf das Telefon starrte, überkam sie ein sonderbares Gefühl. Sean hatte einen leichten Schlaf. Warum also hatte er sich nicht gemeldet? Dass sie die Anruferin war, hätte er anhand der Anzeige sehen müssen. War er gar nicht imstande, das Handy zu bedienen?
Michelle schnappte sich ihren Schlüsselbund und rannte zum Auto.