KAPITEL 25

Die vier Serienmorde in Wrightsburg gelangten an diesem Nachmittag in die nationalen Nachrichtenkanäle und waren bis zum Abend immer wieder Thema der Sendungen. Die meisten Bürger der kleinen Stadt saßen vor ihren Fernsehern, während ernste Sprecher pflichtbewusst erklärten, wo genau die ländliche Siedlung in Virginia lag und wie sie von einer Serie gewalttätiger Morde heimgesucht worden war. Die örtliche Polizei habe Unterstützung durch das FBI erhalten, hieß es, und man hoffe, dass dem Killer bald das Handwerk gelegt werde. Unerwähnt blieb, dass niemand, der an den Ermittlungen beteiligt war, dies für realistisch hielt.

Genauso wie die übrigen Bewohner der Stadt saßen auch King und Michelle vor dem Fernseher in Kings Büro und sahen sich die Berichte an, die dokumentierten, wie Wrightsburg sich in ein Schlachthaus verwandelt hatte. Als der Nation bekannt gegeben wurde, dass die Gazette zwei Briefe des Serienmörders erhalten hatte, rief King: »Scheiße!«

Michelle nickte. »Kann man wohl sagen. Glaubst du, dass der Killer jetzt auch vor dem Fernseher sitzt?«

»Natürlich«, sagte King. »Der Medienrummel ist für ihn der vielleicht größte Reiz an der Sache.«

»Glaubst du wirklich, dass er sich die Mordopfer wahllos aussucht?«

»Jedenfalls gibt es keine offensichtliche Verbindung zwischen den bisherigen Opfern.« King verstummte für einen Moment. »Abgesehen von dem Hinweis auf den einen Jungen in dem Brief zu Steve Canney und Janice Pembroke.«

»Ich kann dir nicht ganz folgen.«

Er sah sie an. »Wenn zum Beispiel Janice Pembroke das eigentliche Opfer war und Steve Canney nur zufällig dabei gewesen ist, als der Mord geschah, muss es einen Grund geben, warum gerade Janice sterben musste. Und dann gibt es vielleicht auch ein Motiv für den Mord an den anderen. Und zwischen diesen Motiven könnte es eine Verbindung geben.«

»Und die Uhren?«

»Offenbar so was wie das Markenzeichen des Killers, aber vielleicht steckt mehr dahinter.«

»Hoffentlich fördert Sylvia bald ein paar Antworten zutage.«

King blickte auf seine Uhr. »Ich muss los. Ich bin zum Essen verabredet.«

»Wo?«

»Im Sage Gentleman, mit Leuten von außerhalb. Willst du mitkommen?«

»Nein. Ich habe auch noch einen Termin.«

»Ein Rendezvous?«

»Ja, mit meinem Kickbox-Lehrer. Wir werden kräftig schwitzen und keuchen, ohne unsere Kleidung abzulegen.«

Sie machten sich in entgegengesetzte Richtungen auf den Weg. Wie üblich überschritt Michelle mit ihrem weißen Toyota Sequoia, dem sie den Spitznamen »Wal« verliehen hatte – zu Ehren von Moby Dick, Melvilles literarischer Schöpfung –, die zulässige Höchstgeschwindigkeit um durchschnittlich dreißig Stundenkilometer. Sie kam an der letzten, wenig befahrenen Kreuzung vorbei, etwa dreißig Sekunden, bevor sie den Sandweg erreichte, der sich durch den Wald bis zu ihrem Häuschen schlängelte.

Sobald sie die Kreuzung hinter sich gelassen hatte, leuchteten die Scheinwerfer des blassblauen VW Käfer auf. Der Fahrer legte den Gang ein, bog nach rechts ab und folgte ihr.

Auf dem Sandweg wurde er langsamer und beobachtete, wie die Reifen des Toyota Staub aufwirbelten, bis der Wagen in der anbrechenden Dunkelheit außer Sichtweite geriet. Er wusste, dass es einen halben Kilometer weiter und dann nach rechts ging, da er sich dort schon umgesehen hatte, als Michelle nicht zu Hause gewesen war. Im Umkreis von einem Kilometer gab es keine anderen Häuser. Ihr Grundstück grenzte auf der Rückseite an den See, wo ihr Skullboot, ihr Kajak und ihr Jetski an einem kleinen Schwimmkai lagen. Ihr Haus war etwa 150 Quadratmeter groß und ohne feste Raumeinteilung eingerichtet. Er hatte sich vergewissert, dass sie allein lebte und nicht mal einen Hund hatte, der ihr Gesellschaft leistete. Allerdings war sie ehemalige Secret-Service-Agentin mit speziellen Fähigkeiten, sodass man sie auf keinen Fall unterschätzen durfte. Er fuhr ein kleines Stück auf der Hauptstraße weiter, stellte den Wagen auf einem kleinen Platz hinter einer Baumgruppe ab und machte sich zu Fuß auf den Weg durch den Wald und zum Haus.

Als er dort eintraf, sah er, dass der Toyota auf dem Wendeplatz vor der Eingangstür parkte. Im Haus war die Beleuchtung eingeschaltet. Er warf einen Blick durch sein Fernglas. Nichts von ihr zu sehen. Er blieb in Deckung der Bäume und bewegte sich zur Rückseite des Hauses. Hier war nur ein Fenster im Obergeschoss erleuchtet. Ihr Schlafzimmer, vermutete er. Vor dem Fenster hing eine Gardine, aber er sah zweimal ihre Silhouette. Die Bewegungen waren eindeutig: Sie entkleidete sich. Er ließ das Fernglas sinken. Ein paar Minuten später verließ sie das Haus in Trainingskleidung, schwang sich in ihren Wagen und fuhr los.

Er kam gerade noch rechtzeitig, um ihre Rücklichter zu sehen, bevor sie in der Dunkelheit hinter einer Kurve verschwand. Sie schien in jeder Hinsicht ein flottes Tempo vorzulegen. Er betrachtete die Vordertür. Sie war verschlossen, aber das konnte kein allzu großes Problem sein. Es gab keine Alarmanlage; auch das hatte er schon überprüft. Er nahm ein passendes Werkzeug aus der Tasche, in der er alles Nötige mit sich führte.

Ein paar Minuten später hatte er das Schloss geknackt, befand sich im Haus und sah sich um. Die Wohnung war ein einziges Chaos. Es erstaunte ihn, wie diese Frau sich in einem solchen Durcheinander zurechtfinden konnte. Er legte das Gerät hinter einem Stapel aus Büchern und CDs ab, die in einer Ecke des Wohnzimmers Staub ansetzten. Es war ein UKW-Testsender, der ungefähr die Größe einer Münze besaß. Er hatte ein Mikrofon an den Sender gelötet, was nach den Gesetzen der Vereinigten Staaten illegal war, weil das Gerät damit zu einer Abhörvorrichtung wurde. Doch wegen dieser Verletzung der Privatsphäre machte er sich keine Sorgen. Er schlich sich nach oben in Michelles Schlafzimmer, wo er einen Blick in ihren Schrank warf, in dem mehrere schwarze Hosenanzüge hingen, zwei weiße Blusen, drei ramponierte Pumps und eine große Auswahl von Jeans, Pullovern, Trainingskleidung sowie verschiedene Sportschuhe.

Er ging wieder ins Untergeschoss. Sie hatte keinen gesonderten Bürobereich, doch auf dem Küchentisch lag ein unordentlicher Haufen Post, den er durchsah. Nichts Ungewöhnliches – sofern man Abos von Zeitschriften wie Shooting Magazine und Iron Women als normal betrachtete.

Er verließ das Haus. Nun hatte er nur noch eine letzte Aufgabe zu erledigen. Da er die Wanzen an verschiedenen Stellen versteckt hatte, war er nicht in der Lage, sie alle gleichzeitig abzuhören. Deshalb hatte er den Sender so modifiziert, dass er per Funk mit einem stimmaktivierten Mikrodigitalrecorder Kontakt aufnahm, den er nun außerhalb von Michelles Haus platzierte. Der Sender hatte innerhalb eines Gebäudes eine Reichweite von hundert Metern, und der Recorder besaß einen Festspeicher, der mehrere hundert Stunden Tonmaterial aufnehmen konnte. Dann kehrte er ins Haus zurück, sprach ein paar Worte und eilte wieder nach draußen, um den Mikrorecorder zu überprüfen. Zufrieden hörte er seine Stimme ab und machte sich auf den Rückweg zu seinem Wagen. Kings Hausboot hatte er bereits verwanzt, genauso wie das Büro der Privatdetektive und die Telefone. Er hatte schnell herausgefunden, dass Polizeichef Williams die beiden für die Ermittlungen eingespannt hatte, und erkannt, wie hilfreich dieser Umstand für ihn sein konnte. Nun würden mindestens zwei der Personen, die nach ihm fahndeten, ihn unwissentlich mit wertvollen Informationen versorgen. Er hatte sich tatsächlich die Nachrichten angesehen, wie King vermutet hatte. Und er wusste, dass sich eine ganze Armee von Polizisten versammelte, um ihn zu jagen. Doch zuvor würde er sterben. Und so viele wie möglich mitnehmen.

Mit jedem Schlag der Stunde
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