KAPITEL 81
Während King seine nächtliche Beratung mit Michelle hatte, war ein Mann mit Mordabsichten in den Wohnsitz der Familie Jean und Harold Robinson eingedrungen. Eine schwarze Sturmhaube auf dem Kopf, hatte er die Kellertür geöffnet und war ins Haus gehuscht. Da er einen Schlüssel hatte, war er dabei auf keinerlei Schwierigkeiten gestoßen. Die vor dem Einkaufszentrum gemachten Schlüsselabdrücke hatten ihm die Anfertigung des Nachschlüssels ermöglicht. Vor Betreten des Hauses hatte er das Telefonkabel durchtrennt.
Die Aufteilung der Räumlichkeiten war ihm so gut bekannt, dass er zielstrebig die Kellertreppe hinaufstieg. Derzeit befanden sich vier Bewohner im Haus. Weil der Mann sich mehrmals gründlich umgeschaut hatte, wusste er von allen, wo sie sich nachts aufhielten. Um ganz sicherzugehen, hatte er sich den Grundriss des Gebäudes eingeprägt, der sich bequem auf der Webseite der Baufirma hatte finden lassen.
Wie er schon vermutete, als er vor dem Einkaufszentrum die Ganztagsmutter Jean Robinson das erste Mal gesehen hatte, verfügte das Einfamilienhaus über eine Alarmanlage, die stets außer Betrieb war. Alle drei Kinder – der Kleine, dem er im Auto zugewinkt hatte, und die zwei älteren Jungs – schliefen im Obergeschoss. Im Erdgeschoss hatten die Eltern ihr Schlafzimmer. Allerdings war Harold Robinson in dieser Nacht nicht daheim; aus eben diesem Grund hatte der Mann sich ins Haus des Ehepaars eingeschlichen.
Mit einem dumpfen Laut sprang die Gasheizung an. Da ihr Rumoren jedes leisere Geräusch übertönte, nutzte der Mann die Gelegenheit, schleunigst zum Elternschlafzimmer zu huschen. Drei Herzschläge lang lauschte er an der Tür. Er hörte lediglich das leise Schnarchen Mrs Robinsons, die auf ihn wartete, ohne es zu wissen. Lautlos öffnete er die Tür und schloss sie von innen. Seine Augen hatten sich längst der Dunkelheit angepasst. Er gewahrte Jean Robinson als schmalen Schemen auf dem California-King-Bett. Sie trug ein schneeweißes Nachthemd. Der Mann hatte in ihr Fenster gespäht, als sie es angezogen hatte. Sie hatte die schlechte Angewohnheit, die Rollläden nie ganz zu schließen und beim Ausziehen das Licht brennen zu lassen. Wahrscheinlich vermutete sie, trotzdem eine ungestörte Privatsphäre zu haben, weil das Schlafzimmerfenster sich an der Rückseite des Hauses befand. Natürlich irrte sie sich, so wie die meisten Leute sich irren, was die Ungestörtheit ihrer Privatsphäre angeht. Es schaute immer irgendwer hin. Immer.
Nach der dritten Entbindung war sie rasch wieder in Form gekommen. Ihr Bauch war wieder flach, die Brüste hingegen hatten vom Stillen noch eine gewisse Übergröße, die Beine sahen schlank aus, das Gesäß wirkte prall, aber auf sehr reizvolle Art. Ohne Zweifel liebte ihr Mann sie, und das Paar führte ein gesundes Sexualleben. Doch was kümmerte ihn das alles? Er war nicht hier, um die Frau zu vergewaltigen. Er wollte sie bloß töten.
Im Handumdrehen stopfte er ihr einen Knebel in den Mund, der jeden Laut dämpfte, den sie ausstoßen mochte. Nach einer Sekunde tiefster Verwirrung, in der sie nicht wusste, wie ihr geschah, verkrampfte sie plötzlich sämtliche Muskeln ihres Körpers. Brutal drückte der Mann sie nieder, presste sie aufs Bett. Doch sie war stärker, als er es für möglich gehalten hätte, leistete erbitterte Gegenwehr, bekam die Sturmhaube zu fassen und riss sie ihm vom Kopf.
Panik erfasste ihn, und er stieß ihren Schädel gegen das Hartholz des Bettes am Kopfende, einmal, zweimal, dreimal, bis er spürte, wie sie erschlaffte. Zur Sicherheit hämmerte er ihren Kopf ein viertes Mal gegen das Holz, und diesmal glaubte er, ihre Hirnschale brechen zu hören, falls man so etwas überhaupt hören konnte. Er ließ einen Unterarm auf ihren Nacken gestützt und suchte mit der freien Hand hastig nach seiner Sturmhaube. Er fand sie in ihrer fest darin verkrallten Faust, riss sie heraus und zog sie sich wieder über den Kopf. Dann schob er den Arm unter die schmale Taille der Frau, hob sie vollständig vom Bett hoch und rammte sie mit dem Kopf ein letztes Mal gegen das Holz.
Dann warf er sie herum und sah ihr in die Augen. Sie standen offen und starrten leblos nach oben; vom zertrümmerten Schädeldach sickerte Blut über ihr Gesicht bis auf die entblößten Brüste. Er zerrte ihr das Nachthemd vollends vom Leib und schleuderte es neben das Bett. Anschließend hob er den nackten Leichnam noch einmal an und streckte ihn auf dem Fußboden aus. Dann zückte er das Steakmesser, das er in der Küche der Robinsons an sich gebracht hatte, und ritzte in die Haut der Toten höchst aufschlussreiche Kerben ein. Sie zu deuten sollte der Polizei nicht schwer fallen. Er ging das Risiko ein, die kleine Nachttischlampe anzuknipsen, schabte mit der Messerspitze unter den Fingernägeln der Toten, holte winzige Fetzen der Sturmhaube hervor und steckte sie in die Tasche.
Er nahm Jean Robinsons Armbanduhr vom Nachtschränkchen, stellte sie auf sechs, zog das Rändelrad heraus und legte ihr die Uhr ums Handgelenk.
Nachdem er seinen Plan so weit verwirklicht hatte, fühlte er sicherheitshalber nach ihrem Puls. Es war nichts mehr zu spüren. Jean Robinson war unwiderruflich dahin. Die nächste Station der Frau war die staatlich geprüfte Fleischbeschauerin Dr. Diaz. Harold Robinson war von nun an Witwer und hatte für drei kleine Jungs zu sorgen. Und die Welt drehte sich weiter und bewies ganz und gar, dass eigentlich nichts eine Bedeutung hatte. Jeder ist zu ersetzen.
Er knüllte das Nachthemd zusammen, weil die Gefahr bestand, dass sich Spuren daran finden ließen, und steckte es ebenfalls in die Tasche. Den Vorzug des Staubsaugens durfte er sich wegen der schlafenden Kinder nicht gestatten; er konnte von Glück sagen, dass der Lärm, der entstanden war, als er ihre Mutter totschlug, die zwei älteren Jungen nicht geweckt hatte.
Er wandte sich um und betrachtete ein letztes Mal sein Werk. Es war recht hübsch gelungen – nein, sogar erstklassig.
Alles Gute, Mrs Robinson.
Er suchte die Küche auf, fand dort ihre Handtasche, nahm das Handy heraus, schaute im Nummernverzeichnis nach, entdeckte die gewünschte Rufnummer und rief den geliebten Ehemann an, der irgendwo, noch nicht allzu weit entfernt, auf der Straße unterwegs war. Er sagte nur vier schlichte Worte: »Ihre Frau ist tot.« Dann trennte er die Verbindung und schaltete das Handy aus. Er langte auf die Oberseite des Küchenschranks und entfernte die Wanze, die er bei einem vorherigen heimlichen Aufenthalt im Haus der Robinsons dort versteckt hatte. Er brauchte sie nicht mehr.
Nun musste er nur noch eines erledigen, dann war es vorüber; zumindest für heute Nacht. Er schlich zurück zur Kellertreppe.
»Mama?«
Als im Obergeschoss die Beleuchtung aufflammte, verharrte der Mörder mitten im Flur. Schritte näherten sich. Kurze, zögernde Schritte kleiner nackter Füße auf dem Holzfußboden.
»Mama?«
Der kleine Junge erschien auf dem Treppenabsatz des Obergeschosses und spähte herunter. In einer Hand schleifte er einen Plüschhund mit sich. Er trug eine weiße Unterhose und ein Spiderman-T-Shirt. Verschlafen rieb er sich mit der kleinen, pummeligen Faust die Augen.
»Mutti?«, rief er. Endlich sah er am Fuß der Treppe die schattenhafte Gestalt mit der Sturmhaube.
»Vati?«
Der Mörder stand da und blickte hinauf zu dem Kind. Seine vom Handschuh umhüllte Faust glitt in die Tasche; die Finger umschlossen einen Messergriff. Binnen eines Augenblicks wäre es vorbei. Ein Doppelmord statt Mord, warum nicht? Mutter und Sohn, na und? Es drängte ihn zu der Tat. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen betrachtete er stumm das Kind, dessen Umrisse sich im schwachen Licht abzeichneten; den möglichen Augenzeugen.
»Vati?«, wiederholte der Junge, dessen Stimme jetzt aus Furcht lauter wurde, weil er keine Antwort bekam.
Gerade noch rechtzeitig riss der Mörder sich zusammen. »Ich bin’s, mein Sohn, dein Vati. Geh wieder schlafen.«
»Ich dachte, du wärst fort, Vati.«
»Ich hatte was vergessen, Tommy. Leg dich wieder schlafen, bevor du deine Brüder weckst. Du weißt doch, wenn der Kleine aufwacht und plärrt, ist die Nacht gelaufen. Und gib Bucky einen Kuss von mir.« Er meinte Tommys Teddybär. Obwohl es ihm nicht gelang, die Stimme des Vaters genau zu treffen, wirkte es sicher beruhigend auf Tommy, dass er dessen Namen, die seiner Brüder und weitere familiäre Einzelheiten kannte.
Er hatte sich gründlich über die Robinsons informiert, wusste alles über sie, von den Spitznamen über die Sozialversicherungsnummern und ihr Lieblingsrestaurant bis hin zu den Sportarten, denen die beiden älteren Söhne, Tommy und Jeff, sich widmeten: Tommy spielte Baseball, Jeff Fußball. Er wusste, dass Harold Robinson das Haus kurz vor Mitternacht verlassen hatte, um nach Washington zu fahren; dass ihre Mutter die Kinder sehr liebte; dass er sie ihnen heute für immer genommen hatte. Es war allein aus dem Grund geschehen, weil Mrs Robinson das Pech gehabt hatte, in sein Blickfeld zu geraten, als sie Milch und Eier eingekauft hatte. Es hätte jeden x-Beliebigen treffen können. Irgendeine andere Mutter. Doch zufällig war es Tommys Mutter gewesen, Mutter auch des zwölfjährigen Jeff. Und des kleinen, einjährigen Andy, der in den ersten sechs Lebensmonaten unter Nierenkoliken gelitten hatte. Wie viel Persönliches die Leute doch ausplauderten, wenn man nur zuhörte. Es war erstaunlich. Aber heutzutage hörte niemand mehr zu, außer vielleicht Priester. Und Mörder wie er.
Seine Hand löste sich vom Messer in der Tasche. Tommy bekam die Chance, aufzuwachsen. Ein Robinson war genug für diese Nacht.
»Geh wieder ins Bett, mein Sohn«, sagte er mit Nachdruck.
»Ist gut. Ich hab dich lieb, Vati.« Der kleine Junge drehte sich um und entschwand in den oberen Flur.
Viel zu lange verweilte der Mann mit der Sturmhaube und starrte in die leere Luft, wo vorhin Tommy gestanden und den Satz gesprochen hatte: Ich hab dich lieb, Vati. Nun musste er die abschließende Aufgabe erledigen und sich absetzen. Ich hab dich lieb, Vati.
Mit einem Mal beschämte es ihn, sich im selben Haus mit dem Kind aufzuhalten, das so etwas zu ihm gesagt hatte, wenn auch irrtümlich. Er schalt sich selbst.
Nichts wie weg! Wahrscheinlich ruft der Ehemann gerade die Polizei an. Hau ab, du Idiot!
Im noch unfertigen Keller richtete er den Lichtkegel der Taschenlampe auf ein verdeckeltes Rohr, das den Standort einer künftigen Toilette kennzeichnete. Er schraubte den Deckel ab, entnahm seiner Tasche den Plastik-Einkaufsbeutel, der eine Anzahl verschiedenartiger Gegenstände enthielt, steckte den Beutel in das Rohr und schraubte den Deckel wieder auf. Wenn man Beweise hinterließ, durfte man weder zu offensichtlich noch zu geheimnistuerisch vorgehen.
Er schlüpfte zurück ins Freie, huschte durch den hinteren Teil des Gartens und strebte zu seinem mehrere Häuserblocks weiter geparkten VW. Erst als er abfuhr, zog er die Sturmhaube vom Kopf. Dann tat er etwas, das ihm noch nie in den Sinn gekommen war: Er fuhr geradewegs zu dem Haus, in dem er eben das vielleicht heimtückischste seiner Verbrechen verübt hatte. Die ermordete Mutter lag im Elternschlafzimmer. Tommy schlief in seinem Zimmer, hinter dem dritten Fenster von links. Um sieben Uhr standen die Kinder auf, um sich für die Schule fertig zu machen. War ihre Mutter dann noch nicht aus den Federn, gingen die Kinder zu ihr und weckten sie.
Er schaute auf die Armbanduhr. Es war ein Uhr morgens. Vor Tommy lagen vielleicht noch sechs Stunden der Normalität. »Genieße sie, Tommy«, murmelte der Mann in Richtung des dunklen Fensters. »Genieße sie… Es tut mir Leid.«
Während er davonfuhr, leckte er sich salzige Tränen aus den Mundwinkeln.