II
»Herrgott, Hank, alle haben dich und Jean bewundert, als ihr damals den Sohn deiner Schwester aufgenommen habt.« Mr Eisenmann drehte sich zu mir um und blickte mich finster an. Aus seinem Triefauge, dem linken, rannen Tränen. »Hoffentlich weißt du dieses Opfer auch zu würdigen.«
»Natürlich«, entgegnete ich. Wir waren in Onkel Hanks Büro gegangen. Mr Eisenmann saß im einzigen bequemen Sessel und ich auf dem Alu-Klappstuhl aus dem Besprechungsraum. Onkel Hank hockte an seinem Schreibtisch, und seine Miene war wie aus Granit. Mein Kopf fühlte sich an, als würden tausend Messer auf mein Hirn einstechen, außerdem war mir kotzübel. »Ich war’s trotzdem nicht.«
Mr Eisenmann machte eine unwirsche Handbewegung. Seine Finger waren mager und knotig und sein Gesicht erinnerte an die Wasserspeierfratzen an mittelalterlichen Kirchen. Es war von Narben entstellt, die von einem Unfall vor sechzig Jahren herrührten. Eine Narbe verlief schräg durch das äußere Drittel seiner linken Augenbraue, dann mittig über das linke Augenlid und quer über die Wange bis zur Nasenspitze. Eine zweite grub einen Halbmond in seine rechte Wange. Eine dritte, tief eingekerbte, durchschnitt waagerecht sein Kinn wie ein zweiter Mund. Der Tränenkanal seines linken Auges war beschädigt, deshalb weinte er ständig Krokodilstränen.
»Inzwischen steht ja wohl zweifelsfrei fest, dass du die Tat begangen hast, junger Mann. Die Frage ist, wie wir jetzt damit umgehen.« Er tupfte sich das Auge mit einem gefalteten weißen Taschentuch und wandte dann seinen Wasserspeierkopf wieder Onkel Hank zu. Eisenmann war mindestens achtzig, und ich hatte ihn noch nie anders als mit Anzug, Weste und dicker goldener Uhrkette gesehen. Er ging niemals ohne seinen rötlichen Stock mit dem goldenen Wolfskopf als Knauf aus dem Haus. »Hör zu, Hank, der Junge ist nicht ganz richtig im Kopf, das weißt du so gut wie ich. Jeder weiß das. Und jetzt wird er auch noch gewalttätig, beschädigt fremdes Eigentum …«
»Hallo?!«, unterbrach ich ihn, aber Onkel Hank hob die Hand, und da wusste ich, dass ich besser den Mund hielt.
»Gewalttätig und morbid.« Eisenmann schlug meinen Geschichtshefter mit dem Gekritzel vom Vormittag auf. »Friedhöfe? Grabsteine? Das ist makaber, Hank. Das ist krank.«
Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, dass ich auch nur einen einzigen Grabstein gemalt hatte – ich hatte meine Mutter gezeichnet. Doch tatsächlich waren lauter Grabsteine wie Zaunpfosten quer über das Blatt aufgereiht. Es waren aber keine gewöhnlichen Grabsteine, sondern sie waren paarweise angeordnet wie die Tafeln der Zehn Gebote. Auf keinem war ein Kreuz drauf. Im Hintergrund sah man drei Mausoleen mit dreieckigen Giebeln, wie auf den Friedhöfen in New Orleans. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, so etwas gezeich…
Blut auf meinen Händen … die Pferde wiehern …
Der Gedanke traf mich unvermittelt wie ein Blitz. Ich rang nach Luft. Was?
Blut … nein, Papa, nein …
Es war der Alptraum, der zurückkehrte, aber diesmal schlief ich nicht, sondern war wach. Wie …?
Pass auf … Pass …
Ich hielt mir den Kopf. Mein Puls wummerte in meinen Ohren. Das Raunen, das ich schon heute früh beim Aufwachen vernommen hatte, war wieder zu hören und schwoll an, wurde zum dumpfen Gebrüll aus tausend Kehlen. Nein, das waren nicht meine Gedanken, aber wer …
»Christian?«, fragte Onkel Hank.
»Ich erinnere mich an nichts.« Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich auf den Aufruhr in meinem Kopf: Haut ab, seid still, lasst mich in Ruhe, LASST MICH IN RUHE! Dann wiederholte ich viel zu laut: »Ich kann mich an nichts erinnern!«
Eisenmann fing wieder an: »Hank, der Junge braucht dringend Hilfe. Sonst schießt er womöglich noch irgendwen über den Haufen, wie diese Typen in Columbine …«
»Jetzt reicht’s aber.« Onkel Hank sprach leise, aber mit drohendem Unterton. »Christian ist mein Neffe. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ihr dreckiges Maul halten würden.«
Eisenmann blieb die Spucke weg. Dann rief er empört: »Wie reden Sie denn mit mir? Ein Wort von mir und Sie sind die längste Zeit Sheriff gewesen!«
Onkel Hanks Lippen wurden so schmal wie die Narbe auf Eisenmanns Kinn, aber er entgegnete nichts.
»Allerdings!« Eisenmann nickte, als hätte Onkel Hank ihm zugestimmt. »Allerdings. Machen Sie sich darauf gefasst, dass ich Anzeige erstatte. Und ich habe keinerlei Hemmungen, den Jungen vor Gericht zu bringen!«
»Es ist Christians erste Straftat.« Mir entging nicht, dass Onkel Hank sich mächtig überwinden musste. Er bettelte nicht offen, aber er war nah dran. »Ich kümmere mich darum, dass er professionelle Hilfe bekommt. Und den Schaden ersetzen wir Ihnen natürlich. Herrje, man hätte diese unselige Scheune längst abreißen sollen. Trotzdem, der alte Schuppen steht schon ewig leer. Sie wohnen ja nicht drin.«
»Das ist meine Sache, Sheriff, und Eigentum bleibt Eigentum. Was die ›erste Straftat‹ angeht, darf ich Sie an Miss Stefancyzk erinnern …«
»Die Frau hatte einen Nervenzusammenbruch. Christian hatte nichts damit zu tun.«
»Glauben Sie das ruhig, wenn es Ihnen dann besser geht.« Mr Eisenmann griff nach seinem Stock und stemmte sich aus dem Sessel. »Sie wollen doch im April wiedergewählt werden, oder, Hank? Wir sehen uns dann vor Gericht.«
+ + +
Als er weg war, wusste ich nicht, was ich sagen sollte, darum schwieg ich. Onkel Hank sagte auch nichts und starrte nur auf die alberne Friedhofskritzelei. Wieso hatte ich das gezeichnet? Wieso ausgerechnet heute? Wenigstens war das raunende Stimmengewirr in meinem Kopf abgeklungen, es rauschte nur noch wie ein altes Radio.
Es klopfte diskret, und Onkel Hanks Sekretärin Marjorie steckte den Kopf durch die Tür. »Ich habe endlich Madison erreicht, Sheriff. Und was soll ich Brandt sagen?«
Onkel Hank fuhr sich mit der Hand über die Augen und antwortete matt: »Richten Sie ihm aus, er soll das Haus sichern. Wenn die Eigentümerin nicht rauswill …«
»Sie weigert sich. Sie sagt, dann betritt sie den zweiten Stock einfach nicht. Mir ist unbegreiflich, weshalb jemand unbedingt an einem Tatort wohnen bleiben will.«
»Mir auch.« Onkel Hank drehte sich zu mir um. »Geh schon mal mit Marjorie raus. Ich komme gleich.«
Ich stand auf. »Es tut mir echt leid, Onkel Hank.«
»Weiß ich«, sagte er und hatte schon den Hörer am Ohr.
+ + +
Draußen fragte ich Marjorie: »Was ist los? Um was für einen Tatort geht es? Wer hat aus Madison angerufen?«
Sie beantwortete die letzte Frage zuerst: »Die Rechtsmedizinerin. Sie wollte längst hier sein, aber sie muss sich mit einem schrecklichen Mehrfachmord in einer Siedlung bei Milwaukee befassen. Dort wollte eine Frau ihren Keller ausbauen und dabei haben die Arbeiter unter dem Betonboden eine Leiche entdeckt. Der Tote soll erst ein halbes Jahr dort gelegen haben, da wurde nämlich das Fundament gegossen. Jetzt werden die Nachbarhäuser mit Bodenradargeräten abgesucht, und in jedem Keller liegt eine Leiche. Der reinste Friedhof! Ja, ja … die Großstädte sind einfach überfüllt. Die Menschen leben auf zu engem Raum, und dann gehen sie aufeinander los wie Ratten im Käfig.«
»Uff.« Was ein Rechtsmediziner war, wusste ich aus dem Fernsehen. »Und was will die Rechtsmedizinerin hier bei uns?«
Marjorie antwortete nicht gleich. Sie war schon die Sekretärin von Onkel Hanks Vater gewesen und sah aus wie eine Frau, die eine Bande raubeiniger Männer besser im Griff hat als ein Feldwebel seine Soldaten: silbergraue Helmfrisur und lebhafte braune Augen hinter einer Nickelbrille mit Kette. Bei uns in Winter gab es nur wenige Leute, die mir nicht mit Misstrauen begegneten beziehungsweise mich nur wegen Onkel Hank duldeten. Marjorie gehörte zu diesen wenigen. Wir kamen echt gut miteinander aus. Als ich klein war, holte sie mir immer Limo aus dem Kühlschrank der Wache. Über die Jahre habe ich bestimmt so viel Orangenlimo getrunken, dass ein Ozeandampfer drauf schwimmen könnte.
»Komm!« Sie scheuchte mich in den Besprechungsraum, zog die Tür hinter sich zu und erzählte: »Du kennst doch das alte Ziegler-Haus, die große Sandsteinvilla in der Nordstadt, oder?« (Ich kannte die Villa zwar nicht, aber ich wollte Marjorie nicht unterbrechen.) »Also, die neue Eigentümerin lässt im zweiten Stock die ehemaligen Dienstbotenzimmer renovieren, und die Arbeiter haben einen alten Kamin herausgerissen. Dabei haben sie eine Leiche entdeckt.« Marjorie machte eine Kunstpause. »Besser gesagt, eine Mumie.«
»Mann! Wie kommt die denn dahin?«
»Das weiß man nicht. Der Leichenbeschauer meint, die Leiche hat schon sehr lange dort gelegen. Darum lässt sich Madison auch Zeit, uns jemanden zu schicken. Dein Onkel sagt, es gibt kaum alte Unterlagen über das Haus, womöglich überhaupt keine, weil es so lange leer gestanden hat. Die Zieglers waren nicht die ersten Besitzer, und sie haben die Villa jahrelang vermietet … womöglich erfahren wir niemals Näheres.«
»Wie kriegt man denn einen Toten in einen Kamin? Da ist doch gar nicht genug Platz.«
»Kommt drauf an. Es ist natürlich leichter, wenn es sich um ein Baby handelt.«
Als ich das von der Babyleiche hörte, tat sich etwas in meinem Kopf, jedenfalls machte es wieder Klick. Es war ähnlich wie beim Zeichnen, nur nicht so angenehm. Ich wusste sofort, dass das Baby und Mr Eisenmanns angesprühte Scheune irgendwie zusammenhingen. Unsere Stadt war so klein und jeder hatte seit Generationen mit jedem zu tun. Es konnte nicht anders sein, auch wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, worin der Zusammenhang bestehen sollte. Leider konnte ich mit niemandem über meine Erkenntnis reden – ich konnte sie ja nicht mal richtig benennen. Und selbst wenn, hätte man mich wahrscheinlich bloß für verrückt erklärt. Da ich das in den Augen der meisten Leute ohnehin war, hätte das doch prima gepasst.
Trotzdem … Noch heute frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich ein bisschen früher den Mund aufgemacht hätte. Vielleicht wären dann gewisse Leute noch am Leben. Beweisen kann ich das nicht. Aber ich glaube es.
+ + +
In die Schule ging ich an diesem Tag nicht mehr, aber Onkel Hank fuhr mich auch nicht nach Hause. Er war zu beschäftigt und ließ mich schließlich von einem seiner Leute heimbringen. Es war ein Neuer, den ich noch nicht kannte.
»Was ist mit meinem Fahrrad?«, fragte ich auf dem Weg zum Streifenwagen. »Das steht noch an der Schule.«
»Tut mir leid, Kleiner, aber ich habe meine Anweisungen«, lautete die Antwort.
Damit erschöpfte sich unser Gespräch. Der Beamte blickte stur geradeaus, ich schaute aus dem Fenster. Als der Streifenwagen vorbeifuhr, drehten sich die Leute auf dem Bürgersteig um. Manche stießen sich an und zeigten auf mich oder sie nickten vielsagend und tuschelten miteinander.
Auf einmal packte mich eine Scheißangst. Eisenmann behauptete, ich sei gestört – ja, ich würde womöglich zum Amokläufer. Hatte er etwa recht? Gestört … das war für mich jemand wie Renfield in Dracula. Das ist dieser Typ, der Fliegen isst, sich mit unsichtbaren Leuten unterhält und wirres Zeug brabbelt. Aber so war ich doch nicht! Okay, ich war ein bisschen sonderbar und die Leute sahen mich schief an oder verdrückten sich unter einem Vorwand, wenn ich zur Tür reinkam … aber das war nicht dasselbe.
Oder doch?
Ich dachte an das Raunen in meinem Kopf. Ging es so los, wenn man Stimmen hörte und schizophren wurde? Vielleicht hatte es mich ja doch erwischt …
Zu Hause ging ich nicht hoch in mein Zimmer, weil ich viel zu aufgedreht war, um mich hinzusetzen. Ausnahmsweise hatte ich auch keine Lust zu zeichnen – oder ich hatte Schiss davor. Ich war unruhig und musste mich bewegen. Ich wanderte im Wohnzimmer herum wie ein Tiger im Käfig. Ich entdeckte meinen iPod und machte Musik an, aber schon nach fünf Minuten war ich genervt und legte den iPod wieder weg.
So musste sich ein Gefangener fühlen, der Meile um Meile in seiner Zelle im Kreis latscht, jahrein, jahraus …
Ich spürte einen Druck in der Brust, und mein Gesicht wurde so heiß, dass mir der Schweiß ausbrach. Dann kamen die Tränen. Ich stand mit zuckenden Schultern da, schniefte und schluchzte, ließ die Tränen laufen und das mitten im Wohnzimmer – das wir nur benutzen, wenn Besuch kommt. Hier stehen noch lauter Sachen von Tante Jean, überall sind Fotos von ihr, wie in einem Mausoleum. Ihre Augen auf den Fotos folgten mir, und ich wurde ganz schwach. Meine Beine zitterten, die Knie gaben nach und ich ließ mich auf den Boden fallen. Ich schluchzte und winselte wie ein Filmschurke, wenn sein letztes Stündlein geschlagen hat. Ich selbst war kein bisschen besser, denn Eisenmann hatte völlig recht – ich war gestört und gemeingefährlich. Ich hatte schon meine Tante und meine Lehrerin auf dem Gewissen und würde noch mehr schlimme Taten begehen, ganz bestimmt. Dass meine Mutter weggegangen war, hatte garantiert auch seinen Grund – höchstwahrscheinlich war ich auch daran schuld.
+ + +
Als ich wieder zu mir kam, lag ich zusammengerollt auf dem Wohnzimmerteppich. Meine rechte Wange war nass von Spucke, meine Klamotten waren durchgeschwitzt. Dafür war das grässliche Raunen endlich verstummt.
Ich stellte die Dusche so heiß, dass meine Haut krebsrot wurde und der Dampf das ganze Bad vernebelte. Dann tappte ich in ein Handtuch gewickelt in den Flur, warf meine verschwitzten Sachen in den Wäschekorb und überlegte, ob ich die Waschmaschine anschmeißen sollte. Aber die Waschküche erinnerte mich an Gefängniswäschereien in Filmen, worauf mir schon wieder die Tränen kamen. Also ging ich sofort raus, weil ich nicht wieder heulen wollte.
Sonst kommt Onkel Hank immer gegen sieben und wir essen zusammen zu Abend, aber inzwischen war es halb neun. Offenbar musste er wieder mal eine Nachtschicht einlegen. Oder er hatte einfach keine Lust auf mich. Ich schmierte mir ein Erdnussbutterbrot. Doch als ich den ersten Bissen runterschlucken wollte, bekam ich einen Krampf im Hals und musste den Happen wieder ausspucken. Ich warf das Brot in den Mülleimer.
Ich ging hoch in mein Zimmer, stellte den Ventilator an und legte mich aufs Bett. Die Sonne war beinahe untergegangen, und der Himmel an meinen Zimmerwänden mit seinen lila und orangeroten Streifen war wie mit Blut übergossen. Mein Kopf hämmerte, als hätte mir jemand einen Schlagstock über die Rübe gezogen. Ich beobachtete die Schatten, die über die Decke krochen, und versuchte, an gar nichts zu denken. Aber das Denken ließ sich nicht abstellen.
Eins war klar: Ich hatte Eisenmanns Scheune angesprüht. Das konnte nur bedeuten, dass ich schlafwandelte – und sogar schlafradfuhr. Das erklärte auch meine nassen Turnschuhe. Ich hatte Muskelkater in Schultern und Armen, weil ich mich an einem Seil vom Heuboden der Scheune heruntergelassen hatte. Mit einer Hand hatte ich mich festgehalten, mit der anderen gesprüht. Das bestätigten auch die roten Farbreste unter meinen Fingernägeln.
Mein Alptraum ging mir wieder durch den Kopf: Pferde, Blut und rufende, schreiende Männer. Eine Heugabel.
Zufällig fiel mein Blick auf meinen Schreibtisch. Dort lag mein Zeichenblock und obendrauf ein Bleistift mit einer bis aufs Holz runtergemalten Mine. Da stimmte etwas nicht! Den Bleistift hatte ich gestern vor dem Schlafengehen noch angespitzt, das wusste ich genau. Wie im Traum griff ich nach dem Block und schlug eine Seite nach der anderen um …
Erst bei der vorletzten Zeichnung packte mich ein krampfhaftes Zittern.
Die Zeichnung zeigte die Scheune, die ich heute Nachmittag zum ersten Mal gesehen hatte.
Und auf dem letzten Blatt: ein Blick über die Stadt von weit weg und hoch oben – aus der Heutür auf der Ostseite der Scheune. Ich erkannte die Felder und Hügel wieder. Die helle Fläche dahinter war der See, auch die Schornsteine der Fabrik fehlten nicht und der eckige Glockenturm gegenüber vom Rathaus …
Doch ich entdeckte auch ein Gebäude, das ich nicht kannte. Es hatte einen Zwiebelturm wie eine russische Kirche. So einen Turm gab es hier in Winter nicht. Vielleicht gibt es auf der anderen Seite so ein Gebäude?, schoss es mir durch den Kopf.
Mir brach der kalte Schweiß aus. Es war noch nie vorgekommen, dass sozusagen eine Osmose zwischen meiner Welt und der anderen Seite stattgefunden hatte. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass meine Eltern auf der anderen Seite waren und nicht mehr zurückkonnten. Vielleicht konnte im Gegenzug alles, was von dort zu mir herüberkam, nicht mehr auf die andere Seite zurück, weil eine Art Gleichgewicht gewahrt werden musste.
Und das seltsame Raunen? Hatte es vielleicht überhaupt nichts mit mir selbst zu tun? Hatte ein fremdes Wesen von mir Besitz ergriffen und hockte jetzt in meinem Schädel?
»Schluss jetzt!« Meine Stimme klang ganz piepsig. »Mach dich nicht verrückt.«
Aber ich konnte die Gedanken nicht unterdrücken. Den Stöpsel ziehen und den Flaschengeist rauslassen: So hatte es Tante Jean genannt, wenn einem etwas im Kopf herumschwirrt, was man nicht loswird. Wenn man erst mal eine Idee hat, kann man sie nicht mehr ungedacht machen.
Dann eben nicht.
Also. War es denkbar, dass nur mein Körper zur Scheune geradelt und mit roter Farbe herumgesprüht hatte, ohne dass ich selbst dabei gewesen war?
Ich lag auf meinem Bett und grübelte. Dann heulte ich wieder, mit dem Kopfkissen auf dem Gesicht, für den Fall, dass Onkel Hank nach Hause kam. Als ich so dalag, stellte ich mir vor, was passieren würde, wenn ich mit dem Kissen auf dem Gesicht einschlief. Wie lange brauchte ein Erwachsener wohl, um einen gestörten Jugendlichen zu ersticken? Und war Ersticken sehr qualvoll …?
Lauter so blödsinniges Zeug.
Ich bekam nicht mit, dass ich irgendwann einschlief. Ich merkte nur, dass ich ganz benebelt wurde, meine Gedanken abwanderten und heiß, die Julisonne brennt so heiß, dass einem die Augen wehtun, und Staub, der nach glühendem Metall riecht, weil der Wind heute ungünstig steht.
ich laufe die Hauptstraße runter, weil heute der Zug eintrifft, und alle sind aufgeregt und ängstlich, weil SIE heute kommen …
Papa ist hinten in der Keramikwerkstatt, wo kein Ruß und kein Staub hingelangen dürfen. er malt etwas mit vielen Schnörkeln und Blumen, und ich darf eigentlich gar nicht rein, aber ich glitsche durch die Tür wie ein Melonenkern und da bin ich.
was soll das, knurrt er, was machst du hier?
… komm, Papa, ich ziehe ihn an der Hand – komm, komm …
er kommt mit, weil wir alle neugierig sind … am Gleis hat sich eine Menschenmenge versammelt, und Marta ist auch da, sie trägt ein duftiges weißes Kleid und hat einen Strohhut mit einem roten Band auf dem Kopf, das zu ihrem Haarband passt. ich spüre, dass sich Papa darüber ärgert, aber Marta ist siebzehn und will eine Ausbildung zur Dolmetscherin machen, und sie ist so dickköpfig wie Papa, sodass Mama immer sagt, die beiden müssten eigentlich Iren sein und keine Polen.
der Zug fährt ganz langsam, wir können alles gut sehen.
die Gefangenen starren uns aus den offenen Güterwagen an, zwischen ihnen stehen Männer mit Gewehren.
die Gesichter der Gefangenen sind starr wie aus Wachs oder Ton, und sie lächeln nicht und wir auch nicht.
aber
aber sie haben Augen wie Wölfe.
golden und fremdartig und …
ich schaue weg.
… da ruht kein Segen drauf. Sheriff Cage steht neben Papa, und er hat blaue Augen, blau wie der Abendhimmel. mir wär’s lieber, die Ernte würde auf dem Halm verfaulen.
die Männer von der Gewerkschaft und Papa laufen unruhig auf und ab, aber Mr Eisenmann ist zufrieden. er ist sehr reich, darum musste er nicht zum Militär, weil seine Eisenfabrik nämlich wichtig für den Krieg ist. sein Vater hat ihm die Fabrik überschrieben, und jetzt freut sich Mr Eisenmann über die Gefangenen, weil sie auf den Feldern und in der Fabrik und sonst wo arbeiten können.
die Gewerkschafter sind nicht begeistert. Papa auch nicht. sie sagen: Eisenmann will uns zerschlagen.
der Bürgermeister hält eine Rede. der Oberaufseher hält eine Rede. es ist so heiß, dass mir der Schweiß runterläuft und das Hemd auf meinem Rücken festklebt.
Mr Eisenmann ist ganz golden, der Ring an seinem kleinen Finger, die dicke Uhrkette, die Knöpfe an seinem Leinenanzug, sogar seine Krawatte und seine Haare. er redet am längsten, darüber, dass die Gefangenen in den Wohnheimen auf dem Fabrikgelände untergebracht werden und dass sie gut für die Stadt sind. Er holt einen Gefangenen mit weißen Zähnen und blauen Augen zu sich aufs Podium. sie leuchten beide golden in der Sonne, und ich muss an die beiden Sterne im Sternbild der Zwillinge denken, von denen uns Mrs Grunewald in der Schule erzählt hat. Mr Eisenmann legt dem Gefangenen den Arm um die Schulter und nennt ihn mein Freund und meine rechte Hand und mein Bruder, aber ich glaube ihm nicht und die Gewerkschafter sind dagegen und allen voran mein Papa.
dann redet der Gefangene, Mr Eisenmanns Freund, und er hat weiße Zähne und seine Augen sind noch blauer als der Himmel … seine Haut ist nussbraun, weil er die ganze Zeit im Freien ist. darum sehen seine Zähne besonders weiß aus, und er hat eine sehr schöne Aussprache … mit weniger Akzent als ich und ich schäme mich ein bisschen.
der Sheriff schüttelt den Kopf. mein Sohn ist immer noch nicht wieder da. der Krieg ist aus, und mein Sohn weiß immer noch nicht, wann er heimdarf. dass jetzt Gefangene hergekarrt werden, wo doch unsere eigenen Jungs die Arbeit machen könnten … das ist nicht richtig … und es ist mir egal, wie viele Verwandte unsere Leute dort haben, meine Freunde sind sie alle nicht …
Fotos werden gemacht, von Mr Eisenmann, dem Sheriff und den Männern mit den Gewehren und dem Gefangenen ohne Akzent und mit den weißen Zähnen …
aber dann passiert etwas, was nur ich mitbekomme.
der Gefangene schaut Marta an und sie schaut ihn an und dann lächelt sie. und dann passiert etwas mit seinem Gesicht.
es schmilzt wie Wachs. sein Unterkiefer wird länger und seine Augen sind erst gelb und dann golden und seine Zähne sind spitz und scharf wie die Zinken einer Heugabel …
und seine Lippen sind schwarz und er zieht sie hoch und er ist ein Wolf …
er ist ein Wolf und nur ich hab’s gesehen und da ist Blut, ganz viel Blut, Papa, nein, nein, Papa nicht … nicht die Heugabel, nein … Blut auf meinen Kleidern und meinen Händen und das Blut ist klebrig und riecht wie ein im Regen stehen gelassener Milcheimer … die Pferde wittern das Blut und trampeln in ihren Boxen und schlagen aus und ich will weglaufen, weit weit weg weg weg, aber ich muss still sein, psst psst psst …
dann umzingeln mich die Geister und sie stechen zu, sie halten mir den Mund zu, bitte nicht, ich muss schreien, laut schreien Papa, Papa, Papa, nein nicht …