IV
Samstag. Wieder so ein brüllheißer Hundstag. Ich fing mit der Scheune an. Eisenmann hatte inzwischen ein Gerüst aufbauen lassen.
»Ganz schön hoch.« Onkel Hank hatte seinen Kollegen mitgeschickt, weil ich streng genommen unter Aufsicht des Gerichts stand. Als stellvertretender Sheriff erfüllte Justin Brandt die Anforderungen. Außerdem hatte er sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet. Justin gehörte auch zu den wenigen Erwachsenen, die mich wie einen halbwegs normalen Menschen behandelten. Das lag vielleicht auch daran, dass er nicht viel älter war als ich. Tante Jean hatte ihn sozusagen adoptiert, als sein Vater bei einem Unfall in der Fabrik arbeitsunfähig wurde.
Justin packte eine Gerüststütze und rüttelte daran. Als uns nichts auf den Kopf krachte, sagte er zufrieden: »Scheint zu halten. Kannst rauf.«
»Zum Glück hab ich keine Höhenangst«, schwindelte ich.
Justin hakte die Daumen in den Gürtel. »Frag mich nicht, warum Eisenmann den alten Schuppen nicht einfach abreißt. Dass er dich die rote Sprühfarbe erst abkratzen lässt, nur damit du die Scheune hinterher rot anstreichst … das ist doch reine Schikane.«
Das war noch untertrieben. Bevor ich nämlich irgendwas abkratzen konnte, musste ich die Sprühfarbe mit einem säurehaltigen Abbeizer anweichen, damit das Holz beim Kratzen nicht splitterte. Der Abbeizer stank zwar nicht, aber das Zeug griff die Haut an, weshalb ich einen Schutzanzug und Handschuhe anziehen und eine Schutzbrille aufsetzen musste wie ein Chemiearbeiter. Wenn der Abbeizer eingewirkt hatte, konnte man die Farbe abschaben, ohne das halbe Holz mitzunehmen. Ich konnte froh sein, wenn ich mich bei dieser Hitze nicht in eine Fettpfütze verwandelte.
»Ich würde dir ja gern helfen«, sagte Justin, »aber wenn dein Onkel vorbeikommt und mich erwischt, macht er mich rund. Trotzdem komm ich mir blöd vor, wenn ich dir nur zuschaue und in der Nase bohre.«
Er wollte mich zum Lachen bringen, was ihm auch gelang, und es tat mir gut. »Kein Problem.«
»Hast du genug zu trinken dabei? Nicht, dass du einen Hitzschlag kriegst!«
Ich beruhigte ihn diesbezüglich und ging an die Arbeit. Ein paar Krähen trippelten über den Dachfirst und flatterten krächzend auf, als ich das Gerüst hochkletterte. Dabei den Kanister mit dem Abbeizer mitzuschleppen, war nicht ganz ohne. Außerdem kam mir das Gerüst reichlich wacklig vor. Bei jedem Tritt auf der Leiter übertrug sich das Beben und Schwanken auf meine Handflächen. Die Krähen flogen über meinem Kopf hin und her, und ich dachte die ganze Zeit nur: Gleich kracht alles zusammen und ich breche mir das Genick.
Als ich endlich oben war, stöpselte ich meinen iPod ein, setzte die Schutzbrille auf und legte los.
Nach einer Weile hatte ich mich eingearbeitet, aber ich schwitzte wie ein Schwein. Der Schweiß sammelte sich in meinem Hosenbund. Justin hatte ein Buch eingesteckt. Er setzte sich in den Schattenstreifen auf der Nordseite der Scheune und tat so, als würde er lesen. Nach zwanzig Minuten schaute ich zu ihm runter und stellte fest, dass er den Hut über die Augen gezogen und die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Ohne Kopfhörer hätte ich wahrscheinlich gehört, wie er schnarchte.
Die Sonne brannte mir auf Rücken, Kopf und Arme. Ich schmorte vor mich hin. Nach einer halben Stunde war ich von oben bis unten durchgeschwitzt. Sogar meine Kniekehlen waren klatschnass, und die Latexhandschuhe klebten mir an den Händen. Ich hatte ein paar Flaschen Gatorade dabei, aber davon musste ich pinkeln. Ich hätte natürlich einfach von oben runterpinkeln können – das hätte bestimmt einen coolen Bogen gegeben –, aber ich hatte so schon genug Ärger und verkniff es mir.
Ich hielt mich ran. Ich bin nicht besonders sportlich, aber ich habe kräftige Arme. Ich trug den Abbeizer von rechts nach links mit breiten Pinselstrichen auf. Als die ganze Fläche bedeckt war, hatte das Zeug dort, wo ich angefangen hatte, ungefähr eine Stunde eingewirkt, und ich konnte gleich mit dem Abkratzen weitermachen. Aber wenn ich noch ein paar Stunden weiterschabte und -kratzte, würden mir die Arme abfallen. Konnte ich nicht eine kabellose Schleifmaschine oder einen Wasserhochdruckreiniger auftreiben? Per Hand dauerte das Ganze ja noch bis zum nächsten Sommer!
Als ich zum vierten Mal vom Gerüst kletterte, wachte Justin auf, schmatzte, reckte sich gähnend, blinzelte zu mir hoch und fragte: »Alles klar?«
»Mhmmm.« Ein Hakenkreuz war zur Hälfte verschwunden. Das Gras unter dem Gerüst war mit roten und grauen Bröseln übersät, und auf der Bretterwand prangte ein unregelmäßiger hellgrauer Fleck wie eine Flechte. Ich ließ die Schultern kreisen. Mein Nacken war total verspannt. »Aber auf die Art werde ich nie fertig. Das dauert Jahre. Jedenfalls viel, viel länger als die achthundert Sozialstunden.«
Justin grinste. »Ich sag’s ja, Eisenmann ist ein Sadist. Aber ich hab einen Cousin, der in seiner Freizeit tischlert. Ich kann ihn ja mal fragen, ob er uns fürs nächste Mal einen Schwingschleifer oder so was leiht. Mit Streichen kenne ich mich nicht so aus, aber da gibt es bestimmt auch eine arbeitssparende Lösung.«
»Bestimmt.« Ich wischte mir mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht. Ich stank penetrant nach Sonnenmilch, die ich wegen des Schutzanzugs gar nicht brauchte. »Das wär super.«
»Komm, wir machen Mittagspause. Bist eingeladen.«
Aber ich schüttelte den Kopf. »Ich würde lieber weitermachen. Wenn ich jetzt Pause mache, kann ich mich hinterher nicht mehr aufraffen.«
Das konnte Justin gut verstehen. Er meinte, dann würde er in die Stadt fahren, Sandwiches und was zum Trinken kaufen, und wäre gleich wieder da. »Du kommst doch kurz allein zurecht, oder?«
»Klar. Hier ist ja keiner außer mir und den Schwalben.«
+ + +
Kaum war die rote Staubfahne von Justins Streifenwagen verschwunden, fing das Raunen wieder an.
Ich war schon wieder oben auf dem Gerüst, als es losging. Ganz plötzlich wurde mein Arm steif, die Spachtelklinge drückte sich ins Holz und ich zitterte krampfhaft. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, und mir klapperten die Zähne wie damals, als ich klein war und Grippe hatte. Hatte ich mir einen Hitzschlag eingefangen? Aber dabei schwitzte man eigentlich nicht.
Dann ebbte das Frösteln ab und das Raunen setzte ein.
Komischerweise erschrak ich nicht besonders darüber. Gewöhnte ich mich etwa daran, dass ich verrückt war? Machten sich Verrückte über so etwas überhaupt Gedanken? Mir fiel auf, dass ich auf einmal alles irgendwie … überdeutlich wahrnahm. Die leere Fensterhöhle über mir gähnte mich immer breiter an. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf: Das Raunen … die Stimmen … sie wollten, dass ich nach drinnen ging. Warum eigentlich nicht? Die Hitze hier draußen war nicht zum Aushalten und der Boden so weit weg …
Die Krähen waren zurückgekehrt. Sie gruben die Krallen in den Dachfirst. Die Blicke aus ihren glänzenden Knopfaugen bohrten sich mir in den Rücken, als ich mich durchs Fenster hievte. Drinnen fiel mir als Erstes der Geruch auf, was ganz untypisch für mich ist, denn eigentlich bin ich ein Augenmensch. Es roch schwach nach sonnenheißem Wiesenheu und Pferdemist, außerdem nach frischer Vogelkacke. Mit klopfendem Herzen tappte ich eine Art Laufplanke entlang, die einmal oben um den Heuboden herumführte, bis ich an eine windschiefe Leiter kam. Die Leiter knarrte und quietschte, und ich war schon darauf gefasst, dass die Sprossen unter meinem Gewicht durchknackten und ich in die Tiefe stürzte. Aber ich schaffte es bis nach unten auf den Heuboden. Dort blieb ich erst mal stehen, bis meine Beine nicht mehr zitterten. Dann drehte ich mich langsam einmal um mich selbst. Wieder prägte sich mir alles überdeutlich ein. Auf dem Bretterboden wechselten sich pechschwarze Schatten mit Streifen von grellem Sonnenlicht ab, das durch das undichte Dach hereinfiel. Die Scheune besaß ein eckiges Türmchen, von dem eine Holztreppe herunterführte. Im offenen Dachstuhl sah man die Balken. Von einem Balken baumelte ein altes Seilende. Das Seil sah so morsch aus, dass es wahrscheinlich zu Staub zerfiel, wenn man es anfasste.
Das Raunen in meinem Kopf … es war noch da, aber es hielt sich zurück … es wartete darauf, dass mir etwas ganz Bestimmtes auffiel … Aber was bloß? Dann spähte ich durch eine Fensteröffnung in der Ostwand. Mein Blick verengte sich plötzlich und stellte sich scharf, als schaute ich durch ein Fernrohr. Gleichzeitig schwoll das Raunen wieder an.
Durch die Fensteröffnung blickte man auf Winter. Die Stadt lag fast genauso vor mir, wie ich sie auf das letzte Blatt von meinem Block gezeichnet hatte. Aus den Schornsteinen der Eisenmannschen Fabrik quollen graue Wolken, Felder und Äcker wechselten sich mit langen Reihen Eichen und Birken ab, dahinter ging der kobaltblaue See in den türkisfarbenen Himmel über. Ich hielt unwillkürlich Ausschau nach dem Zwiebelturm, entdeckte ihn aber nicht – logisch. Links stand am südlichen Zipfel eines Teichs eine Gruppe Espen. Dort hatte jemand verbotenerweise einen Haufen Ziegelschutt abgeladen, der vom dichten Unkraut schon halb überwuchert war.
Ich hatte keine Ahnung, warum ich mir das alles ansehen sollte. Ich hatte auch keinen blassen Schimmer, warum ich überhaupt auf den Heuboden geklettert war und was ich hier drinnen in der Scheune wollte. Ich kam zu dem Schluss, dass ich dringend eine Pause brauchte. Ich war müde, hungrig und von der Hitze schon ganz benommen. Und, ich geb’s zu, mir war das Ganze ein bisschen unheimlich. Am besten, ich ruhte mich aus, bis Justin wiederkam. Wenn ich etwas im Magen hatte, ging es mir bestimmt besser.
Die Tür, durch die das Heu hereingeworfen wurde, quietschte erbärmlich, aber ich bekam sie auf. Vom See kam eine erfrischende Brise herübergeweht und strich über meine Wangen. Ich beugte mich kurz hinaus, kühlte mein Gesicht und wurde gleich ruhiger. Dann lehnte ich mich für ein Nickerchen an die Wand, machte die Beine lang und … das Raunen wurde zum Summen, meine Gedanken verschwammen, aus Gerüchen wurden Geräusche wurden Farben. Ich fiel, ich stürzte …