XXIV

Es klappte nicht. Diesmal jedenfalls nicht.

Als ich aufwachte, stellte ich lediglich fest, dass ich einen steifen Hals hatte. Ich war im Sitzen eingeschlafen. Gleichzeitig spürte ich ganz deutlich, dass etwas Entscheidendes passiert war. Ich hatte bloß keine Ahnung, was. Auf meinem Bettzeug waren ein paar blaue Striche, wo ich mich im Schlaf umgedreht hatte, aber das Blatt auf dem Block war weiß. Entweder war David offline oder ich war zu müde gewesen.

Beim Zähneputzen fiel mir die weiße Dame – Beit Tikwa – wieder ein. Es musste doch noch jemanden geben, der etwas über die Synagoge und die damalige Gemeinde wusste! Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sich eine ganze Gemeinde in Luft aufgelöst hatte.

Ich ging noch mal ins Internet und stieß schließlich auf das Jüdische Museum von Wisconsin. Auf der Webseite war die Rede von einem umfangreichen Archiv. Doch das Museum war in Milwaukee, drei Stunden Autofahrt von Winter entfernt. Außerdem schloss es freitags schon am frühen Nachmittag und war samstags gar nicht geöffnet. Sonntags hatte es allerdings wieder offen und das war sowieso der einzige Tag, an dem ich wegkonnte. Ich sah auf die Uhr. Sollte ich einfach anrufen und sagen … ja, was eigentlich? Hallo, ich bin ein Schüler aus Winter und bei uns gab’s früher mal eine Synagoge, aber die ist abgebrannt, und dann sind alle Juden hier weggezogen – können Sie mir vielleicht sagen, warum?

Ich klickte Kontakt an und landete auf der Seite des Archivs, wo es ein Frageformular gab. Was hatte ich schon zu verlieren?

 

An: archiv@wjm.org

Von: ccage@magna.com

Betreff: Synagoge in Winter

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich heiße Christian Cage und gehe in die elfte Klasse der Winter High School in Winter, Wisconsin. Ich schreibe ein Referat über die Geschichte unserer Stadt und habe erfahren, dass es in Winter eine Synagoge namens Beit Tikwa gab. Die Synagoge wurde auch »die weiße Dame« genannt. Sie brannte im November 1945 nieder und wurde nicht wieder aufgebaut. Ich wüsste gern, warum nicht. Außerdem interessiert mich, weshalb die jüdische Bevölkerung unsere Stadt verlassen hat. Hat das damit zu tun, dass es in Winter ein deutsches Kriegsgefangenenlager gab? Ich habe schon herausgefunden, dass viele deutsche Gefangene ebenso wie Italiener und Japaner im Zweiten Weltkrieg hier in den USA in der Landwirtschaft und in Fabriken gearbeitet haben. Bei uns in Winter scheint aber niemand mehr etwas darüber zu wissen. Und in den Zeitungen von damals steht auch nicht viel.

Dass in Winter niemand mehr etwas über das Thema wusste, war ein bisschen geschwindelt, denn ich hatte bis jetzt ja nur mit Sarah und Dr. Rainier darüber gesprochen, aber egal.

 

Es erinnert sich auch niemand mehr an die Synagoge.

Vielleicht ist das Ganze schon zu lange her. Es könnte aber auch mit einem Mord zu tun haben, der sich einen Monat vor dem Brand der Synagoge ereignet hat. Das Opfer hieß Walter Brotz, der Täter war der jüdische Maler Mordechai Mendel Witek. Er wurde nie gefasst. Den Link zu dem Zeitungsartikel darüber hänge ich an.

Ich hielt inne. Sollte ich David erwähnen? Aber was sollte ich über ihn erzählen? Ich tippte weiter:

 

Mordechai Witeks einziger noch lebender Verwandter – und meines Wissens auch der letzte Jude in Winter – ist sein Sohn David Witek. Mr David Witek leidet jedoch an schwerem Alzheimer und kann sich nicht mehr verständlich machen.

Auch das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber ich wollte schließlich nicht komplett verrückt klingen.

 

In den Zeitungsartikeln von damals kommt noch ein Albert Saltzman vor. Er war der Vorsitzende der Gemeinde Beit Tikwa, ist aber auf dem entsprechenden Foto zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, sodass ich nicht annehme, dass er noch am Leben ist. Ich erwähne ihn auch nur, weil er vielleicht noch Verwandte hat, die meine Fragen beantworten können.

Das sollte eigentlich der Schluss meiner Anfrage sein, aber meine Finger machten sich selbstständig:

 

Noch eine Frage: Wenn in Winter früher eine Synagoge stand, müsste es dann nicht auch einen Friedhof dazu gegeben haben? Können Sie mir sagen, wo dieser Friedhof war?

Ich las den Absatz noch einmal durch. Wozu wollte ich das eigentlich wissen? Doch der Gedanke war mir heute schon zweimal durch den Kopf gegangen.

 

Ich freue mich über jede Auskunft in Bezug auf den Mordfall, den Brand der Synagoge und alles, was danach passiert ist. Vielen Dank für Ihre Mühe. Sie können mich auch anrufen, wenn Ihnen das lieber ist.

Ich fügte meine Telefonnummer an und zerbrach mir den Kopf über die Schlussformel – sollte ich »Mit freundlichen Grüßen, Christian Cage« oder einfach nur »Ihr Christian Cage« schreiben? Ich entschied mich für das zweite und schickte die Mail ab.

Pling! Sarah war online. Ich erzählte ihr sofort von meiner Mail.

 

sarah13: Super Idee – hoffentlich bringt’s was.

ccage: Glaub nicht. Wenn hier schon keiner mehr etwas darüber weiß … Es kommt ja nur dieser Mr Saltzman infrage, und der muss inzwischen uralt sein, älter als Eisenmann. Wahrscheinlich lebt er gar nicht mehr.

sarah13: Vielleicht hat er ja noch Angehörige und die wissen was. Aber was willst du sie überhaupt fragen? Du weißt doch schon alles.

ccage: Alles? Von wegen! Ich will wissen, warum alle Juden Winter verlassen haben. Ich will wissen, warum die Synagoge abgebrannt ist. Ich will wissen,

warum ich dauernd von Wölfen und Blut und Tod träume

 

warum bei uns niemand über diese Zeit spricht. Hier in Winter sieht alles so idyllisch aus, die hübschen Häuser, die 24gepflegten Vorgärten und so weiter. Aber damals ging es hier überhaupt nicht idyllisch zu.

sarah13: Ich glaub, du steigerst dich da in was rein. Überall passieren schlimme Dinge. Auch Morde.

ccage: Stimmt schon. Aber es kommt mir trotzdem komisch vor, dass keiner mehr etwas davon wissen will.

sarah13: *Augen verdreh* Wie viele Leute haben wir denn schon gefragt?

ccage: Äh … viele? Ich hab sogar den Sheriff gefragt, und der wusste nur ein paar Fakten.

sarah13: Vielleicht gibt es eben nicht mehr darüber herauszufinden. Du witterst anscheinend eine Verschwörung – ist das nicht ein bisschen paranoid?

ccage: Wie soll man nicht paranoid werden, wenn einen alle ständig anglotzen wie einen … ach, keine Ahnung.

sarah13: Geht das schon wieder los? Ich glaub, du musst öfter mal unter Leute.

ccage: Haha.

sarah13: Also ich find’s total LOGISCH, dass die Juden hier weggegangen sind. Die anderen Einwohner waren gegen sie – okay, vielleicht nicht alle –, und dann hat Eisenmann auch noch die Gewerkschafter fertiggemacht, ihre Synagoge ist abgebrannt, und die christlichen Kirchengemeinden haben öffentlich gegen ihre Versammlungen protestiert. Also ich wär auch abgehauen.

So ging es eine Weile hin und her, bis Sarah meinte, wir würden uns im Kreis drehen. Ich schrieb zurück, dass wir uns in einer halben Stunde treffen sollten, dann loggten wir uns aus. Blöd war nur … mit Sarah zu chatten, machte mir eigentlich Spaß.

+ + +

Onkel Hank hatte gute Laune. Während er Sarah und mich zu Dr. Rainiers Villa fuhr, pfiff er die ganze Zeit vor sich hin. »Ihr habt echt Glück«, sagte er über die Schulter. »So was bekommt nicht jeder zu sehen. Aber ich muss euch warnen – im Fernsehen ist so eine Obduktion immer im Nu vorbei. In Wirklichkeit erfordert Spurensicherung vor allem Geduld, Geduld und noch mal Geduld. Dabei zuzuschauen kann ganz schön langweilig sein.«

»Langweilig?«, wiederholte Sarah ungläubig.

»Wir sind hier in Winter nicht so üppig besetzt, darum muss ich ab und zu selbst an einem Tatort die Spuren sichern. Manchmal wühlt man stundenlang im Müll, sammelt Zigarettenkippen auf und sucht nach Fußabdrücken auf einer Haustür, die irgendwer eingetreten hat, um sich ein paar Wertgegenstände unter den Nagel zu reißen. Das kann Stunden dauern. Manchmal trägt es zur Aufklärung des Falles bei. Meistens fasst man den Täter aber, weil er so dämlich ist, seinen Kumpels in der Kneipe alles zu erzählen, und wir irgendwie Wind davon kriegen. Die meisten Kriminellen sind ziemlich beschränkt.«

Die Leier kannte ich schon, deshalb schaltete ich auf Durchzug. Mir ging im Kopf herum, was ich über den Friedhof gemailt hatte. Ich hatte ja auch einen Friedhof gezeichnet – in meinen Geschichtshefter. Allerdings hatte ich auch mit Dr. Rainier über den todkranken Mr Witek gesprochen und Lucy erst in Gedanken und dann in echt sterben sehen, von daher …

Mr Witek würde auch sterben, und zwar bald. Mir lief die Zeit davon. Die Zeit wofür? Na ja, wenn Mr Witek starb, starb mit ihm auch die Vergangenheit – zumindest der Abschnitt der Vergangenheit, der mich im Traum heimsuchte. Dann hatte ich keinerlei Zugriff mehr darauf, weder im Traum noch durch irgendwelche Zeitreisen. Denn um Zeitreisen handelte es sich, da war ich inzwischen sicher. Ich schlüpfte in Davids Körper und in seine Vergangenheit.

Mir kam ein gruseliger Gedanke. Wenn ich nun dabei versehentlich mit ihm die Identität tauschte? Dann musste ich in seinem Körper sterben, und er konnte in meinem weiterleben. Waren die Träume und Zeitreisen etwa eine Art Generalprobe?

In meinem Hinterkopf meldete sich eine leise Stimme, aber nicht die von David und schon gar nicht meine eigene: Du wolltest doch immer auf die andere Seite und deine Mutter suchen. Alle sagen, dass sie tot ist. Wenn sie tatsächlich tot ist, könnte das doch deine große Chance sein, oder?

»Christian?« Onkel Hank musterte mich im Rückspiegel. »Stimmt etwas nicht? Du bist ein bisschen blass um die Nase.«

»Mir geht’s gut.« Ich schloss die Augen und stellte mich schlafend, damit er nicht merkte, dass ich log.

+ + +

Ich war noch nie bei der alten Ziegler-Villa gewesen, hauptsächlich deshalb, weil das Haus eine halbe Meile abseits der Straße liegt und man einen holprigen, gewundenen Feldweg hochfahren muss. Außerdem hatte ich bis jetzt noch nie Anlass dazu gehabt.

Als wir um die letzte Biegung fuhren, rief Sarah: »Das sieht ja superschön aus!«

Eingerahmt von knorrigen Eichen und Ahornbäumen hob sich das Gebäude vom strahlend blauen Oktoberhimmel ab. Die viktorianische Fassade im Queen-Anne-Style (wie uns Dr. Rainier erklärte) war nach Osten ausgerichtet. Der Sandstein leuchtete in der Sonne rötlich, die mit Grünspan überzogenen Dachrinnen standen im Kontrast dazu. Auf dem großen runden Vorplatz prangte ein Brunnenbecken, in das jetzt bunte Chrysanthemen gepflanzt waren.

»Wie viele Zimmer hat das Haus?«, erkundigte sich Sarah.

»Ungefähr zwanzig, wenn man die Dienstbotenräume im zweiten Stock mitzählt«, antwortete Onkel Hank. »Es gibt zwei Treppenaufgänge, einen hinteren für die Angestellten und den vorderen für alle anderen. Ihr werdet staunen. Helen hat drinnen schon wahre Wunder gewirkt.«

Als er »Helen« sagte, wurde Sarah sofort hellhörig. Sie drehte sich zu mir um und zog fragend die Augenbrauen hoch. Als ich mich dumm stellte, sagte ihr Blick so was wie: »ACH, NEEE!«

Vor dem Haus parkten bereits mehrere Autos, darunter der weiße Kastenwagen der Spurensicherung aus Madison, außerdem ein Pick-up mit einer großen Thermoskanne auf der Ladefläche. Neben dem Haus diskutierten zwei Typen in Overalls. Sie hatten irgendwelche Geräte dabei. Ein dritter Mann stand mit einem Styroporbecher in der Hand neben dem Pick-up.

»Wer ist das?«, fragte ich beim Aussteigen.

»Vermessungsingenieure, die Madison unter Vertrag hat.« Onkel Hank schlug die Fahrertür zu und tippte grüßend an seinen Stetson. »Sie legen das Raster für die Bodenradar-Untersuchung an.«

»Sind hier noch mehr Leichen verbuddelt?«

»Ich glaub’s ja nicht, aber sicher ist sicher.«

Der Typ mit dem Styroporbecher hieß Mosby und leitete die Aktion. Er begrüßte Onkel Hank, hielt den Becher hoch und fragte: »Wollt ihr Kaffee? In der Kanne ist noch reichlich. Krapfen sind auch noch da, bedient euch. Hab schon drei Stück verputzt.«

»Ihr habt bei Gina angehalten«, stellte Onkel Hank fest und ließ die Tüte rumgehen. Ich nahm mir einen Krapfen und reichte die Tüte an Sarah weiter, die sehnsüchtig hineinspähte, aber den Kopf schüttelte. Onkel Hank biss in sein Gebäck und wischte sich die Zuckerkrümel vom Mund. »Als ich noch stellvertretender Sheriff war, hab ich erst mal fünf Kilo zugenommen, bis ich irgendwann nicht mehr jeden Tag bei Gina vorbeigefahren bin.« Die beiden Ingenieure spannten jetzt an der linken, sonnenbeschienenen Hausseite ein Plastikband. »Welche Fläche wollt ihr denn untersuchen?«

Mosby kratzte sich das Kinn. »Schade, dass ihr die Leiche nicht im Boden entdeckt habt, dann hätte man die Grube als Ausgangspunkt nehmen können. Weil ihr hier draußen gar nichts gefunden habt, lasse ich ein Quadrat mit hundert Metern Seitenlänge abstecken. Das heißt«, er seufzte schwer, »dass wir für diese Seite zwei Tage brauchen. Die Rückseite und der Garten dauern länger. Wir haben noch Glück, dass keine Bäume dicht am Haus stehen.«

»Wieso Glück?«, fragte Sarah.

»Weil es oft Hohlräume zwischen den Wurzeln gibt. Manchmal hat auch jemand versucht, eine Quelle auszuheben, oder jemand hat Steine ausgegraben und die Löcher hinterher wieder zugeschüttet. Der Garten hinterm Haus wird bestimmt ein Alptraum. Bäume sind immer am schlimmsten.« Er blinzelte in die Morgensonne. »Aber egal. Wenn hier irgendwer verbuddelt ist – wir finden ihn!«

+ + +

Der Eingangsbereich hatte eine hohe Decke, eine Wandverkleidung aus dunklem Holz und Parkettboden. Links führte eine breite, geschwungene Treppe nach oben – eine richtige Showtreppe. Sarah kriegte sich vor Staunen gar nicht wieder ein. Ich fand das Haus auch ziemlich cool, vor allem das Esszimmer mit der dunklen Holzdecke, die mit geschnitzten Trauben, Äpfeln und Ähren verziert war. Im ganzen Haus roch es nach Kaffee und Möbelpolitur mit Zitronenduft.

Dr. Rainier empfing uns an der Tür. Sie trug einen pfauenblauen Pullover, der ihr dunkles Haar und ihre Augen betonte, dazu eine schwarze Jeans. Sie war wirklich eine sehr attraktive Frau. Sie blickte lächelnd in die Runde, wobei es mir vorkam, als ob sie Onkel Hank eine Idee länger anlächelte als uns andere. »Kommt rauf. Dr. Nichols hat gerade angefangen.«

Die hintere Treppe war schmal und schmucklos. Hier waren die Wände schmuddelig. »Es dauert mindestens noch ein Jahr, bis das ganze Haus wieder einigermaßen ansehnlich ist«, erklärte Dr. Rainier. »Ich gehe Raum für Raum vor. Das dauert zwar länger, aber auf die Art kann ich mich jederzeit noch mal umentscheiden.«

»Typisch Frau«, kommentierte Onkel Hank, und Dr. Rainier lachte. Sarah und ich wechselten einen genervten Blick.

Die Treppe mündete im zweiten Stock in einen langen Flur. Hier waren die Dienstboten untergebracht gewesen. Es war kälter als im übrigen Haus. Die verblasste Tapete im Flur hatte sich stellenweise abgelöst. Die Zimmertüren waren schlicht und ohne Zierleisten, die Lichtschalter hatten altmodische Knöpfe zum Draufdrücken und die Dielen waren abgetreten und zerschrammt.

»In welchem Zimmer ist die Leiche?«, fragte Sarah.

»In der Mädchenkammer. Da lang.«

Das Zimmer lag an der westlichen Ecke der Villa. Die Läden vor den beiden Fenstern waren geschlossen. Die verblichene, blassgrüne Tapete war mit Röschen bedruckt. Um den Kamin herum war die Wand schwarz verrußt, und die Ziegeleinfassung war so schief, als hätte das ganze Haus Schlagseite. Der Boden vor dem Kamin war mit Schieferplatten gepflastert und mit Putzbrocken und zerbrochenen Ziegeln übersät. Überall sonst lag abgewetzter Teppichboden. Es roch muffig.

Als wir hereinkamen, wandte eine stämmige Frau mit weißem Schutzanzug und kurzem braunem Haar den Kopf. »Morgen!« Sie machte sich gerade Notizen auf einem Tablet-PC, aber jetzt erhob sie sich schwerfällig aus der Hocke. »Kalt ist es hier drin.« Sie ging mit ausgestreckter Hand auf Onkel Hank zu. »Dr. Denise Nichols. Wir haben telefoniert.«

Onkel Hank stellte Sarah und mich vor, dann fragte er: »Und, wie läuft’s?«

»Schauen Sie sich’s ruhig an.«

Wir versammelten uns vor dem verwüsteten Kamin. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte – jedenfalls sah das, was ich nun erblickte, ganz und gar nicht aus wie in einem Indiana-Jones-Film.

Es erinnerte eher an die Nachbildungen steinzeitlicher Gräber im Museum für Vor- und Frühgeschichte, bloß nicht halb so spannend. Man sah nur den Kopf und den halben Oberkörper, alles andere steckte noch in der Kaminnische. Das tote Baby sah aus wie ein uralter Greis. Die ledrige Haut spannte sich über dem Schädel. Das Kind hatte im Tod die Lippen hochgezogen, sodass der zahnlose Gaumen entblößt war. Oben auf dem Kopf klebte bräunlicher Haarflaum. Die Augen waren geschlossen, mit tief eingesunkenen Lidern, weil die Augäpfel vertrocknet waren. Überhaupt stimmte etwas nicht mit dem Kopf. Doch ich kam nicht gleich drauf.

Sarah brach als Erste das Schweigen. »Wo sind denn die Ohren?« Ach so!

»Das habe ich mich auch schon gefragt, als ich das erste Mal hier war«, sagte Onkel Hank.

»Gut beobachtet, Sarah«, lobte Dr. Rainier Sarah zu ihrer Freude.

Auch Dr. Nichols nickte anerkennend. »Sogar manchen Examensstudenten fällt so etwas nicht auf Anhieb auf. Man könnte denken, dass jemand die Ohren abgeschnitten hat, aber tatsächlich hat das Kind verkümmerte Ohrmuscheln.« Sie zeigte uns die beiden rosinengroßen Knubbel. »Wenn so etwas beidseitig auftritt, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um ein Krankheitsbild handelt, zum Beispiel um das Goldenhar-Syndrom oder um Treacher-Collins. Ich tippe auf Letzteres. Der Unterkiefer ist sehr schwach entwickelt, auch die Augen stehen ein bisschen schräg. Falls es sich tatsächlich um Treacher-Collins handelt, könnte uns das weiterhelfen.«

»Wie denn?«, fragte ich.

»Bei Treacher-Collins beträgt das Risiko fünfzig Prozent, dass das defekte Gen weitervererbt wird. Es ist also wahrscheinlich, dass ein Elternteil das gleiche Problem hatte oder zumindest Genträger war. Menschen mit dieser Krankheit besitzen eine normale Intelligenz. Wenn sie nur leicht betroffen sind und einfach nur sehr kleine oder auch gar keine Ohrmuscheln haben, sind sie zwar oft taub, aber das lässt sich mit speziellen Hörgeräten ausgleichen.«

Sarah hatte schon weiter gedacht als ich. »Das heißt, wer das Baby eingemauert hat, wollte nicht, dass jemand eins und eins zusammenzählt und drauf kommt, wer der Vater oder die Mutter ist.«

»Oder aber die Eltern, beziehungsweise die Hebamme, haben die Missbildung als eine Art Fluch aufgefasst und das Kind deswegen getötet. So etwas kam früher durchaus vor. Vielleicht hat die Fehlbildung aber auch gar nichts damit zu tun, dass jemand das Kind loswerden wollte. Wenn wir das Mauerstück in unser Labor gebracht und gründlich untersucht haben, wissen wir hoffentlich mehr.«

»Ja, holen Sie die Leiche denn nicht jetzt aus der Wand?« Sarah klang enttäuscht.

»Einen Leichnam aus Beton oder Putz herauszulösen, ist eine mühsame und langwierige Angelegenheit, die sich besser und schneller unter Laborbedingungen durchführen lässt. Außerdem haben die Röntgenaufnahmen ergeben, dass der Leichnam nicht durchgängig mumifiziert ist. Es fehlen mehrere Zehen und ein Fuß ist zerfallen. Das Skelett eines Kindes besitzt mehr Knochen als das eines Erwachsenen, und wir müssen uns mit Zahnarztinstrumenten vortasten.«

»Wissen Sie denn wenigstens, wie alt das Baby war?«

»Nach dem Kopfumfang zu schließen etwa einen Monat. Ich kann euch aber noch etwas anderes zeigen, das ganz spannend ist.« Dr. Nichols tippte kurz auf ihrem PC herum und öffnete ein Foto – eine Röntgenaufnahme. Das Baby hatte Arme und Beine angezogen und sein Brustkorb sah wie ein kleiner Vogelkäfig aus. Helle runde Flecken waren über den Oberkörper verteilt. In einer Kniebeuge war etwas Längliches zu erkennen.

Dr. Nichols deutete auf die runden Flecken. »Was das Längliche da unten ist, weiß ich noch nicht, vielleicht ein Amulett. Aber das hier sind höchstwahrscheinlich Druckknöpfe. Das grenzt die Datierung ein. Wir gehen vor wie Archäologen auf einer Ausgrabungsstätte und datieren als Erstes die gefundenen Gegenstände. Druckknöpfe kamen um 1910 in Gebrauch. Die Kinderleiche kann also höchstens hundert Jahre alt sein, wahrscheinlich eher siebzig.«

»Wieso?«, fragte ich.

Dr. Nichols drehte wortlos einen herausgebrochenen Ziegel um. In die Unterseite waren die Worte GOLD & BRICK geprägt sowie die Jahreszahl 1941.

»Gold & Brick ist eine sehr bekannte Ziegelei, die schon seit 1880 besteht. Alle Steine werden dort mit einer Jahreszahl versehen. Genauso gut hätten wir aber auch das Material der Ziegel oder die Zusammensetzung des Putzes analysieren können.«

»Damit hätten wir das Wann«, stellte ich fest, »aber noch nicht das Warum und das Wie

»Und vor allem nicht das Wer.«

+ + +

Anschließend bereitete Dr. Nichols das Heraussägen des Mauerstücks vor, und wir gingen wieder nach unten. Auf der Treppe meinte Dr. Rainier: »Es ist gleich Mittag. Ich habe Brote geschmiert, falls jemand Hunger hat.«

»Ich bin am Verhungern!«, erwiderte Sarah und fuhr begeistert fort: »Ich glaub, mein Referat wird total toll! Kann ich noch hierbleiben und zuschauen, wie das Baby aus der Wand gesägt wird?«

Ich hatte eigentlich keine Lust, länger zu bleiben. Ich hatte gehofft, nein, fest damit gerechnet, dass der Anblick des toten Kindes etwas bei mir auslösen würde. Jetzt war ich zugleich enttäuscht und immer noch angespannt.

»Wir können im Wintergarten essen«, meinte Dr. Rainier. »Dort hat man eine schöne Aussicht.« Wir gingen durch einen kurzen Flur auf die Rückseite des Hauses. »Das mit dem Bach ist ein bisschen seltsam, aber wahrscheinlich wollte man den Garten nach drinnen holen oder so ähnlich. Wenn es draußen kalt wird, muss man den Brunnen natürlich abstellen. Aber selbst wenn der Garten kahl ist, hat man noch die Blumen auf dem Bleiglas …« Ihr Blick fiel auf mein Gesicht. Sie unterbrach sich und fragte: »Was hast du, Christian?«

Ich bekam kein Wort heraus. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Onkel Hank stand sofort neben mir und hielt mich am Arm fest. »Was ist los mit dir, Christian?«

Da war das leere, mit Kieseln bedeckte Bachbett. Da war auch das bunte Glasfenster. Draußen leerte die anmutige Frauenstatue ihre Amphore in den abgestellten Brunnen. Der Wind fuhr durch die Zweige der mächtigen Weide.

Es war der Wintergarten aus meiner Vision. Der gleiche Raum wie auf dem Gemälde.

In diesem Haus hatte Catherine Bleverton gewohnt.