XXIX

Dr. Rainier fuhr. Es war wieder kalt geworden, und der Himmel war sternenklar. Der Mond ließ sich nicht blicken. Als wir die letzten Häuser hinter uns gelassen hatten, sah der Himmel aus, als hätte jemand eine Schüssel Diamanten über der Erde ausgekippt. Das Städtchen Winter war ein mattgrauer Fleck am Horizont.

»Darf ich Sie mal was fragen?«

Der Schein der Armaturen färbte Dr. Rainiers Gesicht und Hände flaschengrün. Sie wandte den Blick nicht von der Straße. »Kann ich die Frage denn beantworten?«

»Vielleicht. Doch, eigentlich schon … wenn Sie wollen.«

»Nämlich?«

»Wünschen Sie sich manchmal, dass Sie ihn umgebracht hätten?«

Die Frage hing eine ganze Weile in der Luft, und ich kam mir schon albern vor, aber schließlich antwortete sie: »Jahrelang habe ich mir gewünscht, dass ich damals älter und stärker gewesen wäre. Ich habe mir sozusagen gewünscht, ich wäre du – so wie in deinem Traum. Vielleicht hast du das ja gespürt, denn wenn ich mir das wünsche, bin ich immer auch schrecklich wütend.«

Ich hätte sie gern gefragt, weshalb ich eigentlich dermaßen auf Wut und Tod ansprang, ließ es aber bleiben. Heute glaube ich, dass ich die Antwort gar nicht wissen wollte. Wozu auch?

»Er hat vierzig Jahre bekommen, für heimtückischen Mord. Wenn ich mir das heute überlege, finde ich vierzig Jahre in einer Einzelzelle fast so schlimm wie die Todesstrafe – womöglich schlimmer, denn wenn so jemand irgendwann rauskommt, ist sein Leben praktisch vorbei.«

»Dann sitzt er also immer noch im Knast?«

»Ja. Und nein, ich habe ihn nie besucht. Wir haben nicht mal mehr denselben Nachnamen. Rainier ist der Mädchenname meiner Mutter. Aber das hast du eigentlich gar nicht gefragt, stimmt’s? Ich denke möglichst wenig darüber nach, weil ich es sowieso nicht mehr ändern kann. Damals war ich ein kleines Mädchen. Wie hätte ich meiner Mutter beistehen sollen – wie hätte ich mich selbst wehren sollen?«

»Sind Sie deswegen Psychiaterin geworden?«, entfuhr es mir. »’tschuldigen Sie, das war jetzt blöd.«

»Kein Problem.« Sie warf mir einen kurzen Blick zu, dann schaute sie wieder geradeaus. So weit draußen gab es keine Straßenlaternen mehr. Man hatte den Eindruck, als folgten wir dem Scheinwerferlicht geradewegs über den Rand einer Klippe – was vielleicht gar nicht so verkehrt war. »Darüber habe ich oft und lange nachgedacht. Spontan würde ich antworten: ›logisch‹. Ich möchte verstehen können, wie meine Mutter so einen Mann lieben konnte. Wie ein kleines Mädchen ein solches Ungeheuer als seinen Vater betrachten konnte, denn das war er einmal – davor. Er hat zu trinken angefangen, als die beiden schon eine Weile verheiratet waren. Und er hat bestimmt versucht, es in den Griff zu bekommen. Er war übrigens Arzt, Chirurg. Nicht zu fassen, was? Seine Patienten haben ihn vergöttert. Im OP hat er sich anscheinend zusammengerissen. Aber eigentlich habe ich keine Ahnung, wie es so weit gekommen ist. Oder ich will es gar nicht wissen.«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht möchte, dass er der wichtigste Mensch in meinem Leben ist. Das hat er einfach nicht verdient. Das klingt jetzt vielleicht widersprüchlich, denn wir Psychiater wollen ja eigentlich immer alles ganz genau wissen – ich habe mich trotzdem dagegen entschieden. Natürlich ist er für meine Vergangenheit eine wichtige Figur, sonst hättest du wohl nicht von ihm geträumt. Aber er ist nur ein Aspekt von vielen und ich habe keine Lust, mich immer nur im Kreis zu drehen. Man muss auch mal loslassen, sonst lähmt einen die Vergangenheit, so einfach ist das.«

Ich dachte an David Witek. Als er noch bei Verstand war, hatten sich seine Gedanken vielleicht nicht immerzu um das grauenhafte Erlebnis in der Scheune gedreht. Doch in seiner Verwirrung und kurz vor seinem Tod kreisten seine Gedanken darum wie unglückselige Satelliten.

»Ich habe Angst, meine Mom loszulassen«, sagte ich leise. »Aber nicht nur, weil ich von ihr … na ja, irgendwie besessen bin. Sie wissen ja inzwischen, wozu ich fähig bin. Sie haben die Wände in meinem Zimmer gesehen.«

»Allerdings. Kannst du dir eigentlich erklären, warum die gemalte Tür keine Klinke hat?«

Und ob ich das konnte. »Was vermuten Sie?«

»Meine schlechten Angewohnheiten färben allmählich auf dich ab.« Sie lächelte flüchtig. »Angst ist etwas ganz Normales und Gesundes, Christian. Du lässt deine Mutter nicht im Stich, nur weil du die Tür nicht öffnest.«

»Das hört sich an, als ob Sie glauben, dass hinter der Tür tatsächlich etwas ist.«

Sie erwiderte belustigt: »Herrje, Christian, seit ich dich kenne, ist schon so viel passiert, was ich nicht richtig begreife … Also, wie verhält es sich nun mit der Tür? Glaubst du, deine Mutter wartet dahinter auf dich, oder … führt die Tür in ein unbekanntes Land oder so etwas?«

»Ich … Ach, keine Ahnung. Ich versuche mir immer vorzustellen, wo meine Mutter sein könnte und was sie dort alles erlebt und sieht. Deswegen habe ich am Anfang immer ihre Augen gemalt. Wahrscheinlich bin ich inzwischen einfach weiter. Ich male die andere Seite, so wie ich sie mir denke.«

»Aha.« Sie schwieg einen Augenblick. »Weißt du, Christian, deine Beschäftigung damit hat schon etwas leicht Zwanghaftes, aber ich finde dich ziemlich mutig.«

»Echt? Inzwischen machen mir die Bilder eher Angst. Ich habe Angst um meine Eltern. Und noch mehr Angst habe ich davor, wo sie vielleicht sind. Ich weiß gar nicht mehr, ob ich wirklich zu ihnen will. Das wäre ja auch eine Art, immer nur um die Vergangenheit zu kreisen, oder?«

»Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass deine Eltern womöglich tot sind?«

Es tat gar nicht so weh, wie ich immer befürchtet hatte. »Schon. Die andere Seite sieht ja nicht gerade aus wie von dieser Welt.«

»Auch wieder wahr. Aber wenn du nun hinübergehst und deinem eigenen Schicksal begegnest?«

Auf die Idee war ich noch gar nicht gekommen. »Meinen Sie … meinem eigenen Tod?«

»Wer weiß? Ich kann deine Fähigkeiten immer noch nicht richtig einschätzen. Nehmen wir mal an, es wäre so. Möchtest du dann wirklich dorthin?«

»Nicht gleich«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.

»Aber du warst schon in Versuchung.«

»Ja.« Auch das entsprach der Wahrheit. Was ich als Nächstes sagte, allerdings nicht: »Aber ich habe ja sowieso keine Ahnung, wie ich das anstellen soll.«

Sie schwieg. Wahrscheinlich glaubte sie mir nicht. Schließlich war ihr als Einzige aufgefallen, dass die Tür keine Klinke hatte. Onkel Hank hatte nie ein Wort über die Tür verloren.

Wir fuhren schweigend weiter, dann sagte sie plötzlich: »Bitte versprich mir eins: Wenn du es irgendwann doch versuchst, sag mir vorher Bescheid. Abgemacht?«

»Wozu?«

»Weil es vielleicht gut ist, wenn jemand da ist, der dich wieder rausholen kann.«

+ + +

Als sich der Wagen über den Feldweg der Scheune näherte, huschte das Scheinwerferlicht über den gemauerten Sockel. Nachts wirkte das Gebäude viel wuchtiger, und als wir schließlich anhielten und Dr. Rainier den Motor abstellte, schlug die Dunkelheit wie eine schwarze Welle über uns zusammen.

Dr. Rainier kramte zwei Taschenlampen aus dem Handschuhfach und gab mir eine. Ihren Gesichtsausdruck konnte ich im Dunkeln nicht erkennen. »Bist du ganz sicher, dass du das packst?«

Ich nickte, doch dann fiel mir ein, dass sie mich genauso wenig sehen konnte, und ich sagte: »Ja. Es muss sein.«

Wir gingen die letzten hundert Meter zu Fuß. Das Gerüst stand noch. Das feuchte Gras weichte meine Turnschuhe durch. Ich ließ den Strahl meiner Taschenlampe über die Scheune wandern, führte den bläulichen Lichtkegel die Wände entlang. Man sah immer noch die geisterhaften Umrisse eines Hakenkreuzes.

»Wahnsinn!«, sagte Dr. Rainier im Flüsterton. »Sieh dir bloß das Dach an, Christian!«

Krähen. Hunderte. Das ganze Dach war schwarz. Als der Lichtschein die Vögel erfasste, bewegten sie sich raschelnd wie welke Maisstängel. Ihre Augen glitzerten wie grünes Glas.

»Die tun uns nichts«, sagte ich. »Kommen Sie. Wir gehen unten rein.«

Dr. Rainier folgte mir. »Ist es dort passiert?«

»Ich weiß noch, dass ich Pferde gehört habe. Und ich glaube, ich habe auch die Boxen gesehen. Nur an den Fußboden kann ich mich nicht mehr …«

Der Fußboden bestand aus hochkant verlegten Ziegeln. Der Strahl meiner Taschenlampe streifte einen zerknitterten, halbleeren Sack Zementmix neben einer leeren Pferdebox. Unsere Schritte hallten. Hier unten war ich noch nicht gewesen. Ich staunte, dass die Pferdeboxen mit ihren Eisengittern noch so gut in Schuss waren. Es roch nach Rost. Mitten im Raum war die Treppe zum Heuboden und zum Turm. Zwei halb zerbrochene lange Leitern führten von gegenüberliegenden Ecken aus zu einer viereckigen Öffnung in der Decke.

Wir schritten den Raum diagonal ab. Am südlichen Ende bekam ich auf einmal eine Gänsehaut. Ich schwenkte die Taschenlampe nach links. Dort hing eine Tür schief in den Angeln. Ich drückte die Klinke herunter. Die Tür schleifte auf dem Fußboden und klemmte. Ich bekam sie trotzdem auf und leuchtete in den Verschlag dahinter, aber es gab nicht viel zu sehen: ein paar in die Wand geschlagene Nägel und Haken und in der Ecke eine kaputte Harke.

»Ein Werkzeugraum?«, fragte Dr. Rainier.

»Kann sein.« Ich spürte das vertraute Kribbeln, das mir verriet, dass dieser Ort wichtig war. Heugabel, ging mir durch den Kopf.

Ich machte kehrt und lief ans Nordende der Scheune. Meine Haut kribbelte und piekte inzwischen wie von einem ganzen Ameisenschwarm. Ich schwenkte die Taschenlampe hin und her, entdeckte aber nur noch mehr leere Pferdeboxen. Schließlich ging ich wieder zurück, bis ich ein Stück rechts der Mitte stand. Dort richtete ich meine Taschenlampe senkrecht nach oben.

»Wonach suchst du?«, fragte Dr. Rainier.

»David hat vom Heuboden aus zugeschaut. Ich erinnere mich an die Treppe … da!« Der Lichtkegel ruhte auf einer Stelle, wo die Deckenbretter besonders breite Lücken hatten. »Da oben ist es.«

Von dort aus hatte David seinen Vater, Mr Eisenmann und Walter Brotz beobachtet. Hier unten hatte sich Mordechai Witek auf seinen Arbeitgeber gestürzt, sich eine Heugabel gegriffen und …

In meinem Kopf fing es zu summen an. Er wurde wieder ganz leicht und leer. Ich wusste, dass es so weit war.

Schnell!

Ich knipste die Taschenlampe aus, steckte sie in meinen Rucksack und holte die Stifteschachtel und den Block heraus, die ich von zu Hause mitgenommen hatte. Mordechai Witeks Pinsel hatte ich in der Hosentasche. Ich wollte nicht damit malen, aber ich wollte die Pinsel bei mir haben.

»Und jetzt?« Dr. Rainier klang ein bisschen ängstlich. »Was passiert jetzt?«

»Keine Ahnung.« Wie konnte ich malen, was David entweder gar nicht gesehen oder mit aller Macht verdrängt hatte? Oder war ich einfach als stummer Zeuge hier? Anders als in dem Alptraum von Dr. Rainiers Vater konnte ich diesmal nicht eingreifen. Es war eher wie mit Tante Jeans und Miss Stefancyzks Ängsten und Schreckensbildern. Ich konnte mich hineinversetzen, zuschauen und alles festhalten.

Konnte ich Davids Stelle einnehmen?

Probieren geht über Studieren, dachte ich. Fang einfach an!

Hastig nahm ich irgendeinen Stift aus der Schachtel. Meine Finger zuckten und kribbelten, dann fiel ich. Die Dunkelheit verschluckte mich und