XXVI
In dieser Nacht träumte ich überhaupt nichts. Am Samstagmorgen wachte ich früh auf: keine Kopfschmerzen, kein nervtötendes Raunen, keine übersinnlichen Botschaften. Die gemalte Tür an meiner Zimmerwand war noch da (ohne Klinke), aber diesmal hatte ich nicht den Eindruck, dass dahinter etwas Unheimliches lauerte.
Warum nicht? Gute Frage. Weil ich die Suche nach meiner Mutter aufgegeben hatte? Nein, das stimmte so nicht. Ich liebte meine Mutter wie eh und je … Obwohl … konnte man das so sagen? Schließlich besaß ich nur noch die Erinnerungen eines Dreijährigen an sie.
Was hätte Dr. Rainier wohl dazu gesagt? Plötzlich fiel mir auf, dass ich mich doch tatsächlich für meine Umwelt interessierte, für das Hier und Jetzt. Um mich herum passierte so viel Spannendes und Neues.
Zum Beispiel hatte ich – gewissermaßen – eine Freundin. Eigentlich hatte Sarah schon immer zu meinem Leben gehört. Doch entweder hatte ich mir nie erlaubt, auf diese Art an sie zu denken, oder ich war so mit meiner Mutter beschäftigt gewesen, dass ich blind für alles andere war.
Meine Recherche über die Ereignisse in Winter hatte mich richtig gepackt. Dass es in unserer Stadt ein Lager für deutsche Kriegsgefangene, vielleicht Nazis, gegeben hatte, die womöglich noch in einen Mord verwickelt waren, und dass das Thema von allen totgeschwiegen wurde – das war schon ein dolles Ding, fand ich.
Mir kam es jedenfalls vor, als ob das alles kein Zufall war. Als ob eine Absicht dahintersteckte, wie die berühmte »höhere Macht«. Wir hingen alle irgendwie zusammen: Sarah, Onkel Hank, Dr. Rainier, David Witek und ich. Ich war schon immer anders gewesen und hatte mich vor meinen besonderen Fähigkeiten gefürchtet, weil ich den wenigen Leuten, denen ich wichtig war, nicht schaden wollte. Damit meine ich natürlich Onkel Hank. Aber meine Gewissensbisse wegen Tante Jean … Hatte Onkel Hank wirklich etwas davon, wenn er wusste, was in Wahrheit geschehen war?
Vielleicht war David ein Katalysator. Vielleicht hatte mein ganzes Leben auf dieses Ziel hingeführt, ohne dass ich es mitbekommen hatte.
Oder das Ganze war ein riesengroßes Hirngespinst.
Trotz aller unangenehmen Begleiterscheinungen und Ängste – ich musste herausbekommen, was sich damals in der Scheune abgespielt hatte. Auch David wollte mir das mitteilen. Oder das verwirrte Hirn des alzheimerkranken Mr Witek hatte sich irgendwie mit meinem kurzgeschlossen.
Jedenfalls würde David Witek bald sterben und sein Gehirn zerbröselte rasend schnell. Bekam ich deswegen keine Traumbotschaften mehr? War er inzwischen endgültig dement geworden und konnte mir nie mehr etwas mitteilen?
Scheiße.
+ + +
Ausnahmsweise setzte ich mich gegen Onkel Hank durch. Er wollte mich zu Dekker hinfahren oder mich von Justin bringen lassen, aber das kam nicht infrage. Das Fahrrad wollte ich auch nicht nehmen, denn Mr Dekkers Schrauberbude lag außerhalb und, ich geb’s zu, ich hatte auch keine Lust auf irgendwelche »Unfälle«.
Ich goss mir Kaffee nach. »Ich bin siebzehn. Du kannst mich nicht ewig in Watte packen. Du meinst es gut, das weiß ich, aber ich muss da allein hin. Du weißt doch, wo ich bin. Mir passiert schon nichts.«
Onkel Hanks Miene wurde finster. »In Autowerkstätten passieren dauernd Unfälle. Hebebühnen geben den Geist auf, Autos kippen um …«
»Ich bin doch gar nicht in der Werkstatt. Bestimmt soll ich das Motorrad im Freien lackieren.« Das war eine reine Vermutung, denn ich hatte noch nie im Leben ein Motorrad lackiert. »Bald kannst du sowieso nicht mehr auf mich aufpassen, wenn ich studiere … oder so. Dann muss ich auch allein klarkommen. Dein Vater hat dich bestimmt nicht überall hingefahren.«
»Das ist etwas anderes.«
»Weil dich nicht alle für gestört gehalten haben?«
Onkel Hank sah mir fest in die Augen. »Du weißt genau, was ich meine! Dreh mir gefälligst nicht das Wort im Mund rum.«
Ich ließ mich nicht beirren. »Ist ja nicht deine Schuld. Trotzdem kannst du mir nicht immer alles abnehmen. Als Tante Jean noch lebte, hast du immer gesagt, das Wichtigste ist, dass man etwas aus sich macht.« Das war jetzt gemein. Ich sah ihm an, dass ich ihn verletzt hatte, aber ich redete weiter: »Die Sache mit Dekker ist ein Schritt in diese Richtung, und da kann ich kein Kindermädchen gebrauchen, das hinter mir herrennt und mit dem Pflaster wedelt, falls ich mal hinfalle und mir das Knie aufschlage.«
Onkel Hank mahlte mit dem Unterkiefer. Ich dachte schon, er würde jetzt endgültig Nein sagen, aber da fiel er in sich zusammen wie ein angestochener Luftballon und seufzte: »Wenn es nur das wäre!«
Er ließ mich allein zu den Dekkers fahren.
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Es war ein kalter Morgen. Auf den Stoppelfeldern lag Reif, und in den Straßensenken sammelten sich Nebelschwaden. Dekkers Vater wohnte fünfzehn Meilen westlich der Stadt in einer Straße, die noch nicht mal einen Namen hatte. Unterwegs entdeckte ich auf einem Feld einen wilden Truthahn, und ein Sperber flog von einem Verkehrsschild auf, als ich vorbeibrauste. Krähen sah ich keine.
Die Werkstatt lag am Ende einer Einkaufsstraße mit vier, fünf Geschäften, die alle leer standen. Gegenüber war eine Tankstelle, in der man auch Angelscheine und Köder kaufen konnte. Daneben gab es eine abgeranzte Kneipe, die in der Angel- und Jagdsaison gut besucht war und sich ansonsten mit den paar Anwohnern begnügen musste. Angeblich lief der Laden deswegen super, weil die Gäste dort ungestört ihre krummen Geschäfte besprechen konnten. Fünfzehn Meilen ist ganz schön ab vom Schuss.
Vor der Werkstatt war ein rostiger Pick-up aufgebockt, an die zehn weitere Schrottkisten parkten im vertrockneten Unkraut. An der Hauswand waren alte Reifen gestapelt, und es gab lauter Haufen aus den verschiedensten Schrottteilen: Rückspiegel, Radkappen, sogar Türgriffe.
Als ich den Motor abstellte, kam Dekkers Vater aus der Tür geschlurft. Er trug ein schmuddeliges Hemd und einen fleckigen, grau verwaschenen Overall, der früher blau gewesen sein mochte. Dazu hatte er ein speckiges rotes Tuch um den Hals geknotet, und als ich ausstieg, nahm er das Tuch ab und wischte sich damit das Schmieröl von den Händen.
»Nanu – heute ohne Leibwache?« Hinter dem struppigen roten Bart, der schon grau wurde, kamen braune Zähne zum Vorschein. »Hat der Sheriff seinen Liebling ganz allein aus dem Haus gelassen?«
»Tag, Mr Dekker.« Ich wusste nicht, was ich mit meinen Händen anfangen sollte. Da er keine Anstalten machte, mir die Hand zu geben, steckte ich die Hände in die Hosentaschen. Mein Atem bildete weiße Wölkchen, aber ich zitterte nicht vor Kälte. Hinter Mr Dekker erspähte ich noch zwei Typen in Overalls. Sie beugten sich über den Motor eines alten Chevrolet-Kombis. Der eine sagte etwas zum anderen, woraufhin sich beide sich nach uns umdrehten und glotzten. »Ich soll Karls Motorrad wieder in Ordnung bringen«, sagte ich. »Äh … ist er denn da?«
»Nö. Muss aber bald kommen, wenn seine Schicht zu Ende ist.«
»Ich kann ja schon mal anfangen.«
»Ist gut.« Aber Mr Dekker rührte sich nicht von der Stelle. Er wischte sich bedächtig weiter die riesigen Pranken ab, dann band er das Halstuch wieder um und deutete mit dem Kinn auf die Werkstatt. »Da hinten.«
Ich folgte ihm den Schotterweg entlang. Hinter der Werkstatt stand ein kleinerer Schuppen, der an ein Wartehäuschen erinnerte: auf drei Seiten geschlossen und nach vorne offen, darüber ein schräges Dach. Hier wartete auch Dekkers Motorrad. Aber zu meiner Verblüffung war es bereits neu lackiert, und zwar wieder glänzend schwarz. Daneben waren drei Bretter auf Böcke gelegt. Auf diesem provisorischen Tisch waren lauter kleine Flaschen mit Acrylfarbe aufgereiht, ein paar Metallgefäße und eine Spritzpistole. Ein Mundschutz, wie man ihn beim Sprühen von Pflanzenschutzmittel aufsetzt, lag neben einem Karton mit Gummihandschuhen. Auf dem Boden stand ein schwarzer Kompressor, der per Schlauch mit der Spritzpistole verbunden war.
Dekkers Vater erklärte: »Karl hat den Schaden schon selber überlackiert. Du sollst ihm ein schickes Motiv auf den Tank sprühen, weil du doch so toll malen kannst.«
»Aber …«
Mr Dekker fiel mir ins Wort: »Airbrush. Erzähl mir nicht, dass du noch nie davon gehört hast.« Er hielt die Spritzpistole in die Höhe und ratterte lauter Fachausdrücke herunter: Luftkappe, Farbdüse, Rändelschraube. »Das Gerät hat ein Fließsystem. Man schraubt einen Becher an und füllt die Farbe ein. Du kannst das Ding beim Sprühen auch ankippen. Ansonsten hältst du einfach drauf.« Er führte mir vor, wie man den Farbbehälter anbrachte, die Farbmenge regulierte und die Düse einstellte. Zum Schluss sagte er: »Du bist doch’n echter Künstler, oder? Du kriegst das schon hin.«
Ich betrachtete das Gerät zweifelnd. »Hat Karl gesagt, was ich malen soll?«
»Da hat er sich noch keine Gedanken gemacht, glaube ich. Vielleicht Flammen, das kommt immer gut.« Als er lachte, roch ich seinen nach Qualm und schlechten Zähnen miefenden Atem. »Und wenn’s ihm nicht gefallen sollte, kannst du jetzt ja jederzeit wiederkommen, stimmt’s?«
+ + +
Damit ließ er mich allein.
Einen Augenblick lang stand ich einfach nur da und betrachtete die Spritzpistole und die Farben. Vielleicht hatte Dekkers Vater ja recht: Ich hatte wirklich ein Talent für so was, ich wusste rein theoretisch, wie Airbrush ging, und so schwer konnte es auch wieder nicht sein. Aber die Spritzpistole hatte so etwas Seelenloses. Sie kam mir eher wie eine Waffe vor, nicht wie das Handwerkszeug eines Künstlers.
Ich sah mich um. Beobachtete der alte Dekker mich? Nein, er war weg. Der Unterstand lag ein ganzes Stück hinter der Werkstatt, und Mr Dekker vertraute anscheinend darauf, dass ich tun würde, was er mir gesagt hatte.
Ich zog Mr Witeks Pinsel aus der Hosentasche. Ich hatte sie mitgenommen. Wozu? Keine Ahnung. Als ich vorhin aus meinem Zimmer gehen wollte, hatte ich schnell noch das Pinselfutteral aus der Schublade geholt. Dort bewahrte ich es seit der Nacht auf, in der die Tür wieder an meiner Wand erschienen war. Ich hatte einfach das Gefühl gehabt, dass ich die Pinsel einstecken sollte. Jetzt war mir auch klar, warum.
Die Pinseltasche fühlte sich vertraut und richtig an, als ich sie so in der Hand hielt. Gleichzeitig spürte ich ein sonderbares Kribbeln, von dem sich mir die Härchen auf den Armen aufstellten.
Was sollte ich bloß malen? Leg einfach los. Denk an Dekker und mal drauflos … Ich wählte einen Pinsel der Stärke 2, denn ich wollte die Umrisse erst mit Weiß skizzieren. Danach wollte ich das Motiv mit Gelb unterlegen, damit die Farben richtig rausknallten. Und ich wollte viel Rot verwenden, Blutrot, denn Dekker hatte für mich mit Blut und Gewalt zu tun, mit Dunkelheit und Alpträumen und …
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Es riecht nach Heu und Pferden. Es ist dunkel draußen und so kalt, dass keine Grillen mehr zirpen. Ob die Grillen die Wölfe im Dunkeln sehen können? Ich sehe sie jedenfalls. Aber sie mich nicht, weil ich oben auf dem Heuboden hocke. Keiner weiß, dass ich hier bin, nicht mal Papa, denn keiner kennt alle meine Verstecke. Und ich habe sie kommen sehen, mit funkelnden Augen und brummenden Motoren. Am Fuß des Hügels leuchtet das einsame gelbe Viereck von Mamas und Papas Zimmer im ersten Stock. Ob Mama wohl gerade Marta tröstet und darauf wartet, dass Papa wiederkommt? Mama hat nicht mitgekriegt, dass ich aus dem Fenster geklettert, am Spalier runtergerutscht und zur Scheune gelaufen bin.
Jetzt spähe ich durch die Lücken zwischen den Bodenbrettern. Da unten sind Mr Eisenmann, ein anderer Mann und Papa. Papa brüllt und fuchtelt Mr Eisenmann mit der Faust vor der Nase herum. Der andere Mann redet auf Papa ein. Er will ihn beruhigen. Er hält ihn am Arm fest: »Lass gut sein, Mordechai, leg dich nicht mit ihm an, das nimmt ein böses Ende!«
Papa flucht und seine Stimme klingt ganz verändert, wie immer, wenn er richtig doll wütend ist. Sein Gesicht kann ich von hier oben nicht sehen, nur den Körper von den Schultern abwärts. Aber er steht breitbeinig da und ballt die Fäuste. Als der andere Mann ihn festhalten will, schubst Papa ihn weg. Ich höre einen Schrei, und es kracht, als der Mann gegen eine Box fliegt. Das Pferd schnaubt, wiehert erschrocken und tritt gegen die Bretter.
»Hör auf, Witek, du machst ja die Gäule verrückt.« Das ist Mr Eisenmann. Es klingt wie ein Befehl. »Es ist nun mal passiert. Was das Finanzielle betrifft …«
»Geld?«, bricht es aus Papa heraus. »Hier geht es nicht um Geld! Sie sind schuld an dem Ganzen! Ich habe Sie gewarnt, aber Sie wollten ja nicht auf mich hören, und jetzt …«
»Sie ist auch nicht ganz unschuldig daran.« Mr Eisenmanns Ton ist kälter als Eis. »Es hat sie schließlich keiner gezwungen. Ich sag’s ungern so drastisch, aber sie hat freiwillig die Röcke gehoben. Ich würde behaupten, ihre Eltern sind daran schuld, weil sie ihre Tochter nicht strenger erzogen haben. Meinst du nicht?«
Papa ist erst mal still. Seine Fäuste öffnen sich, und ich denke: Nein, Papa, nicht, gib nicht auf, lass dich nicht unterkriegen.
Als Papa endlich wieder etwas sagt, klingt er heiser: »Wie viel?«
»Ein jährlicher Unterhalt, für sie selbst und für das … eine Unterhaltszahlung eben. Das ist sehr großzügig, wenn man bedenkt, dass ich dazu nicht im Mindesten verpflichtet bin.«
Das hätte er nicht sagen sollen. »Das haben Sie bestimmt schon alles geklärt – typisch! Sie halten sich für allmächtig. Sie glauben, Ihnen kann nichts passieren. Aber warten Sie’s ab, warten Sie’s nur …« Papa bleibt die Stimme weg, und er weint. Sein Weinen geht mir durch und durch; ich halte es kaum aus. »Immer müssen wir Juden den Preis zahlen, immer …«
»Jetzt übertreib mal nicht, Mordechai. Ich habe dir Arbeit und ein Dach über dem Kopf verschafft. Kann ich etwas dafür, dass man mich ausgenutzt hat?« Mr Eisenmann klingt fast ein bisschen gelangweilt. »Deine Familie ist nicht die erste und auch nicht die letzte, die von so etwas betroffen ist. Sei lieber froh, dass ich die Mittel habe, dir zu helfen.«
»Sie wollen doch bloß einen Skandal verhindern!«
»Du etwa nicht?«
Papa schweigt.
»Na bitte. Eine kluge Entscheidung. Du musst schließlich auch an deinen Sohn denken. Und an deine Frau.«
Ich höre Papa an, dass er sich mächtig beherrscht. »Ich bin nicht Ihr Eigentum!«
»Oh doch! Du verdankst mir alles: deine Stellung, deine Arbeit, dein ganzes Leben! Ich habe dich damals aus dieser schäbigen Absteige in Milwaukee zwischen Ratten und Kakerlaken erlöst. Ich habe Anderson überredet, dir das Bauernhaus für einen Appel und ein Ei zu vermieten, damit du nach Herzenslust malen kannst. Ich habe dich aus der Gosse geholt, und ich kann dich auch wieder hineinstoßen. Erzähl du mir gefälligst nicht, was ich zu tun und zu lassen habe! Ich sage dir, wo’s lang geht, verstanden?«
Stille. »Verstanden.«
»Na also. Dann sei doch so gut und teile deinen Freunden von der Gewerkschaft mein allerletztes Angebot mit. Und danke deinem Gott, dass ich euch nicht allesamt ins Kittchen werfen lasse. Ich kann mir meine Arbeitskräfte auch woanders beschaffen, das ist überhaupt kein Problem.«
»Das könnte Ihnen so passen! Ihr seid doch alle gleich, ihr Deutschen«, sagt Papa bitter.
»Ihr Juden vielleicht nicht? Das ist doch nur natürlich, dass man sich um seinesgleichen kümmert. Du hast es gerade nötig, mir Moralpredigten zu halten.«
»Wir Juden sind wenigstens keine Mörder.«
»Nein, bloß Diebe«, erwiderte Mr Eisenmann leichthin. »Diebe und Betrüger.«
»Wie bitte?«
»Du hast mich sehr wohl verstanden. Oder brauchst du ein Wörterbuch? Soll ich’s dir vielleicht aufmalen? Aber nein, der Maler bist ja du … wenn du nicht gerade damit beschäftigt bist, fremdes Eigentum zu vögeln!«
Mir bricht der Schweiß aus. Ich hab nichts verraten, Papa, ehrlich nicht!
Eisenmann lacht hämisch. »Wie der Vater, so die Tochter, was? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, wie es so schön heißt.«
»Ich …« Papa klingt, als ob er an seinen eigenen Worten erstickt. »… Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Also wirklich! Hältst du mich für blöd? Glaubst du, ich wüsste nicht längst Bescheid? Ich spreche von dir und Catherine! Ich spreche von meinem Angestellten und meiner reizenden Zukünftigen!«
Ach, Papa, Papa … Unter mir ist es wieder still. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Geh weg, Papa, geh weg von diesen Leuten, geh weg, lass die Wölfe machen, was sie wollen …
Der andere Mann sagt: »Das muss ich mir nicht anhören.«
»Du bleibst hier, Walter!«, sagt Mr Eisenmann. »Ich brauche einen Zeugen, falls Mr Witek auf die Idee kommen sollte, seine Probleme mit Gewalt zu lösen.«
Schließlich sagt Papa: »Es ist nichts vorgefallen.«
Mr Eisenmann lacht böse. »Ach nein? Da habe ich aber etwas anderes gehört.«
»Sie können gar nichts gehört haben. Und wenn doch, dann war es gelogen.«
»Also eins kann ich dir versichern: Catherine ist wahrhaftig kein Engel, aber sie belügt mich nicht. Sie hat mir sogar erzählt, dass dein Kleiner euch beide beobachtet hat. Das fand sie übrigens aufregend. Nachdem sie mir von ihrer Eskapade erzählt hatte, ist sie richtig über mich hergefallen. Wie geht’s eigentlich deinem Kleinen? Hoffentlich hat er nicht den Schreck seines Lebens gekriegt, als er seinen Papa in dieser verfänglichen Situation ertappt hat.«
Papa schweigt. Mein Gesicht wird heiß.
»Hat’s dir die Sprache verschlagen, Mordechai? Jetzt mach nicht so ein Gesicht. Sie war doch ganz wild drauf, dass du zu ihr nach Hause kommst, das ist mir natürlich nicht entgangen. Mir entgeht nie etwas. Du warst mein kleines Geschenk an sie – schließlich bezahle ich das Porträt. Catherine ist wie eine läufige Katze. Sie hatte Lust auf einen Künstler, und ich habe ihr einen verschafft. Aber freu dich nicht zu früh, Mordechai. Catherine ist ein verwöhntes reiches Mädchen und hat ihr neues Spielzeug rasch satt. Noch findet sie dich spannend. Aber wenn sie dich irgendwann überhat, wirft sie dich weg. Ich tue dir einen großen Gefallen, wenn ich dich davor warne.
Du warst schon seit dem Bild mit dem Sonnenuntergang scharf auf sie, stimmt’s? Was bist du doch für ein braver Ehemann, ein Mann mit Grundsätzen … Kein Wunder, dass du sofort zugegriffen hast, als ich dir einen Arbeitsplatz in Winter angeboten habe. Du wolltest dringend aus Milwaukee weg, gib’s zu! Was mag in dir vorgegangen sein, als sie hier auftauchte und du hören musstest, dass sie verlobt ist? Wenn hier jemand der Geschädigte ist, dann ja wohl ich!«
Papa findet die Sprache wieder. »Sie haben doch keine Ahnung, was für ein Leben meine Familie und ich führen! Verglichen mit Ihnen sind wir arme Leute. Wir sind Juden, und jetzt hat meine Tochter auch noch …«
»Jetzt hat deine Tochter bewiesen, dass auch Jüdinnen nicht unfehlbar sind. Auch in Bezug auf ihre … missliche Lage verhalte ich mich äußerst großzügig, und das weißt du auch. Sei froh, dass du überhaupt noch in Lohn und Brot bist.« Mr Eisenmanns Ton wird schärfer. »Damit wäre ja wohl alles geklärt. Wenn du jetzt bitte den Wagen holen würdest, Brotz …«
»Warten Sie!«, ruft Papa. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, dass die Sache damit aus der Welt ist! Das sind Nazis! Sie haben mein Volk umgebracht, meine Eltern …!«
»Ich lasse mir von dir nichts vorschreiben. Ob und wann ich jemanden zur Rechenschaft ziehe, ist meine Sache, nicht deine, und … Lass los … Mordechai! Ich warne …«
Ein Schrei, dumpfe Schläge, noch mehr Gepolter. Die Pferde schnauben und schlagen aus, dann ruft der andere Mann, dieser Walter: »Hör auf, Mordechai, lass ihn los, du bringst ihn ja um!«
Nein, Papa, nicht! Ich kann nichts mehr sehen, weil die drei aus meinem Blickfeld verschwunden sind, darum krabble ich zur Treppe und spähe wieder nach unten. Papa hat Blut auf dem Hemd, im Gesicht und an den Händen. Es ist Mr Eisenmanns Blut, das in hohem Bogen aus seiner Nase sprudelt. Mr Eisenmanns ganzes Gesicht ist rot, sein Kinn ist verschmiert, es riecht bis zu mir hoch nach Rost. Er liegt auf dem Rücken, hält die Arme vors Gesicht, und Papa steht über ihm und drischt auf ihn ein. Dieser Walter kommt dazu, zieht Papa weg und schreit: »Hilfe, Hilfe!«
Ich höre Schritte und Rufe, und noch zwei Männer kommen herein … Ihre Gesichter verwandeln sich, ihre Augen werden gelb, der eine rennt nach rechts, und ich sehe ihn nicht mehr, und dann … Papa, Papa, die Heugabel, die Heugabel … nein, nicht
Geschrei erfüllt die Luft
Was hast du
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»Was hast du mit meiner Maschine gemacht, verdammte Scheiße?«
Ich fuhr mit der Spritzpistole in der Hand herum. Über mir kreisten die Krähen und schrien heiser, aber das war es nicht, was mich zu Eis erstarren ließ.
Karl Dekker stand vor mir, die Kippe im Maul, und blinzelte durch den Qualm. Er war noch verdreckter als sonst. Breite Rußstreifen zogen sich über Hals und Gesicht und er hatte schwarz verschmierte Augenringe. Er sah aus, als käme er aus dem Kohlebergwerk, aber er roch nach versengtem Metall. Er trug noch seinen Arbeitsoverall und hatte einen Henkelmann in der schmutzigen Hand. Jetzt nahm er den Zigarettenstummel aus dem Mund und schnippte ihn auf das Motorrad. »Ey, ich hab dich was gefragt! Was hast du mit meiner Kiste angestellt, du Wichser? Hab ich dir gesagt, dass du diesen Dreck draufmalen sollst?«
»Ich …« Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich weggewesen war – in Davids Vergangenheit –, und mein erster Gedanke war, dass ich Dekkers Kiste womöglich einen Jackson Pollock verpasst hatte.
Ich drehte mich nach dem Motorrad um.
Ich hatte einen Wolfskopf auf die Verkleidung gemalt, mit gelben Augen und länglicher Schnauze. Die dolchähnlichen Reißzähne leuchteten über und unter den Scheinwerfern. Sozusagen als letzten Schliff – und ebenfalls, ohne dass mein Bewusstsein daran beteiligt gewesen wäre – hatte ich mitten auf das Schutzblech ein Hakenkreuz gemalt.
Ich stand aus der Hocke auf. Mordechai Witeks Pinsel hatte ich noch in der Hand. »Ich … äh …« Ich schluckte. »Ich …«
Dekker packte mich am Kragen und zog mich zu sich heran. »Pass mal auf, du Arsch! Wenn ich irgendwelchen Nazikack auf meiner Maschine haben will, dann hätte ich dir das von meinem Dad ausrichten lassen. Was soll das, hä? Was willst du mir damit sagen?«
Sein Atem stank nach Zigaretten und abgestandenem Bier. »Das … Ich wollte das nicht«, sagte ich. »Ich … Ich war …«
Dekker schüttelte mich durch, dann stieß er mich von sich. Ich wankte rückwärts, rutschte aus, prallte gegen einen Tischbock, und das ganze Gebilde krachte zusammen. Rote Farbe ergoss sich auf die Erde.
»Und jetzt?«, knurrte Dekker. »Soll ich vielleicht so durch die Gegend fahren, hä?« Er wollte mir in die Eier treten, aber ich rollte mich zur Seite, kam auf alle viere und krabbelte schutzsuchend in den Unterstand.
»He!« Dekkers Vater kam aus der Autowerkstatt. »Lass gut sein, Karl.« Er schnappte sich seinen Sohn und zerrte ihn von mir weg. Dekker schimpfte und wehrte sich, aber sein Vater drehte ihn in Richtung Werkstatt und verpasste ihm einen energischen Schubs. Dekker brüllte noch etwas über die Schulter – garantiert nichts Nettes.
»An deiner Stelle würd ich ihm ’ne Weile aus dem Weg gehen.« Dekkers Vater stemmte die Fäuste in die Hüften. »Das soll nicht heißen, dass du Pfusch abgeliefert hast. Ich find’s gut. Der Wolf sieht richtig echt aus – nur den Scheiß hier vorne hättste dir sparen können. Was hast du dir dabei gedacht, Cage? Du hast echt ’ne Klatsche. Jetzt müssen wir drüberlackieren und noch mal von vorn anfangen …« Mr Dekker schüttelte bedauernd den Kopf. »Du legst es echt drauf an, dass dir jemand die Fresse poliert, was?«
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Ich säuberte hastig meine Pinsel, wobei mir Dekkers Dad die ganze Zeit vorwurfsvolle Vorträge hielt. Dann stieg ich ins Auto und brauste davon. Mir war klar, dass ich das Motorrad nicht zum letzten Mal gesehen hatte – und Karl Dekker auch nicht.
Kaum war die Werkstatt außer Sichtweite, kehrten meine Gedanken zu meiner jüngsten Zeitreise zurück, falls es denn eine gewesen war. Sie war ganz anders verlaufen als meine Träume und mein voriges Erlebnis in der Scheune. Diesmal war ich hellwach gewesen, und der Übergang hatte sich nahtlos vollzogen. Eben noch hier, im nächsten Augenblick dort. Immerhin ergab die Geschichte jetzt endlich einen Sinn – jedenfalls für David.
Von dem Schluss mal abgesehen. Als die Wölfe auftauchten. Da war wieder alles durcheinandergeraten.
Ich begriff, dass Mordechai Witeks Pinsel der Auslöser gewesen waren. Sonst hatte ich immer nur im Schlaf gemalt und gezeichnet. Die Pinsel hatten mir geholfen, klarer zu sehen.
Vielleicht ging das ja allen Malern so – so, wie ein Schriftsteller Wörter zu Sätzen aneinanderfügt, die wiederum Absätze ergeben und schließlich eine ganze Geschichte. Bloß dass ein Maler seine Geschichte Strich für Strich, Farbtupfer für Farbtupfer erschafft.
Keine Ahnung, warum sich Mr Witek ausgerechnet diesen Zeitpunkt ausgesucht hatte, um sich in Gedanken mit mir kurzzuschließen. Oder warum die Bilder, die ich mit den Augen des kleinen Jungen gesehen hatte, diesmal so scharf umrissen gewesen waren. Die Antwort auf die Frage, was das Trauma ausgelöst hatte, dem sich David sein Leben lang nicht hatte stellen können, lag mir weniger auf der Zunge als auf der Pinselspitze.
Ich hatte eine Eingebung. Vielleicht löste sich die allerletzte Blockade ja, wenn ich in Davids Nähe malte. Schließlich hatte Mr Witek schon einmal auf mich reagiert, als ich in seinem Zimmer gewesen war. Er hatte die Augen aufgeschlagen, mich angeschaut und mir seine Eindrücke von damals übermittelt. Er hatte gespürt, dass zwischen uns beiden eine Verbindung bestand. In seinem Zimmer im Heim, wo die Gemälde seines Vaters hingen, konnte ich seine Gedanken vielleicht gezielt anzapfen und aufmalen, was damals geschehen war. Ich würde die Ereignisse in Gedanken vor mir sehen, und sie würden durch meine Hände aufs Papier fließen. Hatte ich nicht auch den Wolf gemalt? War ich nicht eine Art Sprachrohr für Davids Gedanken? Eine halbe Stunde würde bestimmt reichen. Wenn ich das nächste Mal ins Altenheim ging, musste ich mich in Mr Witeks Zimmer schleichen. Vielleicht konnte mir Dr. Rainier ja dabei helfen.
Ich fuhr gerade an einem Kürbisfeld vorbei, als mir etwas auffiel.
Auf jedem Zaunpfosten entlang der Straße saß eine Krähe.
Es waren bestimmt fünfzig, sechzig Vögel. Mindestens. Und kein einziger flatterte auf, als ich vorbeifuhr. Sie krächzten auch nicht. Sie blickten mich nur unverwandt an. Ich kam mir vor wie ein General bei der Truppenparade.
Ich trat das Gaspedal durch, aber ihre Blicke folgten mir und mich überkam ein total ungutes Gefühl.
Als ich ins Haus trat, kam Onkel Hank aus der Küche. Ich war immer noch mit meinem neuesten Plan beschäftigt, in Mr Witeks Zimmer zu malen, und hörte gar nicht, dass er mich ansprach. Ich nahm ihn erst wahr, als er mich am Arm fasste. »’tschuldige«, sagte ich und sah ihn an – und mir blieb fast das Herz stehen.
Dr. Rainier … was war … »Was ist los, Onkel Hank?«
»Helen – Dr. Rainier – hat eben angerufen. David Witek ist tot.«