III

Als ich aufwachte, war es kurz nach ein Uhr nachts. Mein Mund schmeckte nach Staub. Es roch säuerlich nach verschwitzter Bettwäsche, und vor meinen Augen tanzten Bilder, die ich nicht verstand.

Und … ach ja – ich war noch am Leben.

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Es war Donnerstag, Frühstücksflockentag. Als ich mich kurz nach neun die Treppe runterschleppte, stand Onkel Hank schon in der Küche, einen Kaffeebecher in beiden Händen. Er drehte sich um. »Na, Christian, gut geschlafen?«

»Geht so.« An meinem Platz stand eine Schüssel Schoko Smacks. Normalerweise gab es Cornflakes. Schoko Smacks mochte ich früher am liebsten, aber Tante Jean hatte gemeint, da wäre zu viel Zucker drin. Deshalb hatte ich keine mehr gegessen, seit ich zehn war. Jetzt hatte mir Onkel Hank tatsächlich welche gekauft. Als ich die Schüssel anschaute, bekam ich einen fetten Kloß im Hals und hätte am liebsten losgeheult.

»Kein Wunder.« Onkel Hank schob mir die Milch hin. »Setz dich und iss was.«

Ich verdrückte meine Schoko Smacks. Erst dachte ich, ich kriege die Dinger gar nicht runter, aber ich gab mir Mühe, weil ich Onkel Hank nicht kränken wollte. Das Zeug schmeckte eklig, mir wurde richtig übel. Aber ich aß alles bis zum letzten Krümel auf und trank sogar den Rest Milch aus, so wie früher.

Onkel Hank räusperte sich. »Du sollst am Freitag vor dem Jugendrichter erscheinen.«

»Morgen schon? Das ging aber schnell.« Ich leckte mir den Milchschnurrbart ab. Anscheinend machten die Behörden kurzen Prozess, wenn sie einen erst mal am Arsch hatten.

»Stimmt.« Onkel Hank hatte beim Rasieren ein Fleckchen mit Stoppeln übersehen und an seinem Kinn klebte getrocknetes Blut. Seine Augen waren gerötet. »Wahrscheinlich ist es so am besten. Je eher du die Sache hinter dir hast, desto besser. Und deswegen haben wir heute noch einiges zu erledigen.« Er zählte auf: Anwalt, Sozialarbeiter, psychologische Tests.

Als er fertig war, fragte ich: »Was möchtest du gern?«

»Was meinst du?«

»Möchtest du, dass ich weggehe?«

Er sah ehrlich erschrocken aus. »Unsinn, Christian! Wie kommst du denn auf die Idee?«

Meine Lippen zitterten. »Na, ich hab doch wieder mal alles vermasselt. Alle sind sauer auf mich und bestimmt nimmt mich jetzt keine Uni mehr an und …«

»Hör auf.« Onkel Hank klang ganz heiser, als wäre er erkältet. Er legte mir die Hand auf den Arm. »Du hast nichts getan, was deinen weiteren Werdegang gefährdet, da kann ich dich beruhigen.«

»Das kannst du gar nicht wissen. Mr Eisenmann …«

»Ist jetzt stinkig und daran gewöhnt, seinen Kopf durchzusetzen, aber schließlich hast du ja nicht seine Fabrik abgefackelt. Es geht um eine Scheune, und zwar um eine baufällige. Du kommst vor ein Jugendgericht. Deine Akte bleibt unter Verschluss, die bekommt keine Uni zu sehen. In ein paar Jahren lässt du die ganze Sache und überhaupt diese Stadt hinter dir – und das ist in Ordnung, Christian. Ich lebe nun mal hier in Winter, aber das heißt nicht, dass du dein ganzes Leben hier verbringen musst.«

Mir ging es gleich besser. Dann fiel mir etwas ein. »Was hast du gestern gemeint, als du zu Mr Eisenmann gesagt hast, man hätte diese unselige Scheune längst abreißen sollen?«

»Ach, das …« Onkel Hank sah verlegen aus. »Na ja, vor vielen Jahren, ich war noch gar nicht auf der Welt, wurde in der Scheune jemand umgebracht. Das war im Herbst 1945, damals war noch dein Urgroßvater Jasper der Sheriff hier am Ort. Das Opfer war ein hier ansässiger Fabrikarbeiter. Der Mörder wurde nie gefasst. Aber jeder wusste, wer es war, weil er gleich hinterher untergetaucht ist. Ein anderer Arbeiter aus der Fabrik, ein Einwanderer. Hat seine Frau und seine beiden Kinder zurückgelassen.«

»Und er wurde nie geschnappt?«

»Damals war zu viel anderes los. Der Brand zum Beispiel, von dem ich dir schon erzählt habe, bei dem dein Urgroßvater umgekommen ist – und mit ihm etliche Gewerkschafter und nicht organisierte Arbeiter. Das war nur eine Woche danach. Und dann … wahrscheinlich hatten die Leute andere Sorgen. Der Fall gilt zwar immer noch als ungelöst, aber …« Er zuckte die Achseln. »Die Sache wurde zu den Akten gelegt. Der Mörder lebt inzwischen sowieso nicht mehr, schätze ich.«

»Was fängt Mr Eisenmann eigentlich mit der alten Scheune an?«

»Nichts, aber Mr Eisenmanns Lieblingswort ist ›Haben‹. Nach dem Mordfall konnte der damalige Eigentümer – ich glaube, er hieß Anderson – die Felder nicht mehr bewirtschaften. Im Krieg waren Arbeitskräfte knapp, das galt sowohl für die Landwirtschaft als auch für die Fabrik. Und nach dem Mord behaupteten die Leute, dass es dort spuken würde. Damals hat sogar jemand das Bauernhaus angezündet.«

»Echt? Aber wieso hat derjenige das Haus angezündet und nicht die Scheune?«

»Keine Ahnung, das war vor meiner Zeit. Als ich noch klein war, sind wir an Halloween immer hingegangen und haben uns fürchterlich gegruselt. Natürlich ist nie etwas passiert.«

Mein Mund war ganz klebrig, und ich holte mir ein Glas Leitungswasser. »Aber ich habe die Scheune nicht angesprüht, ehrlich! Ich war mit dir das erste Mal dort. Warum sollte ich irgendwo hingehen, wo ich noch nie war, und mit Farbe rumsprühen? Ich kann mich nicht mal daran erinnern, dass ich die Farbe gekauft …« Ich trank den letzten Schluck, spülte das Glas aus und stellte es aufs Abtropfbrett. Dann drehte ich mich wieder zu Onkel Hank um. »Glaubst du mir?«

»Was ich glaube, spielt keine Rolle.«

»Das hab ich nicht gefragt.«

»Ich glaube an dich«, sagte er. Aber er sah mich dabei nicht an. Dann verkündete er, er müsse jetzt zum Dienst.

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Ich bekam eine vom Jugendgericht gestellte Pflichtverteidigerin. Sie war ganz in Ordnung, aber sie sah andauernd auf die Uhr, und ich hätte sie am liebsten angebrüllt, dass sie gern abhauen und sich um wichtigere Fälle kümmern könnte. Doch ich hielt die Klappe. Das kann ich sowieso am besten.

Eine Sozialarbeiterin kam dazu und unterhielt sich eine ganze Weile erst mit Onkel Hank und dann mit mir. Sie hatte so eine Art zu reden, als wüsste sie ganz genau, wie es mir ging, und das machte mich ganz kirre. (Das ist oft so bei Leuten, die Kindern angeblich helfen wollen. Mich nervt das. Ich denke dann immer, dass der Betreffende in seiner Ausbildung gelernt hat, mit Kindern so zu reden, dass er ihr Vertrauen gewinnt. Aber es ist trotzdem nur ein Beruf, und solche Leute machen das garantiert hundert Mal im Monat, da kann nicht jeder von denen dein Freund sein.)

Außerdem musste ich verschiedene Tests machen, mit denen mein Geisteszustand überprüft werden sollte. Ein Test war besonders bescheuert und dauerte ewig. Die Fragen waren immer wieder die gleichen. Ich kriegte auf einmal Schiss, dass sie mich dadurch austricksen wollten, indem sie mir x-mal dieselbe Frage stellten, um zu sehen, ob ich auch immer gleich antwortete. Ich überlegte kurz, ob ich zurückblättern und einen Blick auf meine vorigen Antworten werfen sollte, aber dann kam ich auf die Idee, dass das womöglich die eigentliche Falle war … Ich kam zu dem Schluss, dass sie mich sowieso am Arsch hatten, also wozu das ganze Theater?

Onkel Hank und ich wechselten kaum ein Wort – nicht viel anders als sonst. Ich hatte sowieso schon alles gesagt, was mir einfiel. Es war wie ein großes Loch in meiner Brust … Ich war eben nicht normal. Er hatte die ganze Zeit sein Möglichstes getan, um für mich zu sorgen und mich in Schutz zu nehmen, und ich machte ihm trotzdem immer nur Kummer. Vielleicht war es doch besser, wenn ich einfach wegging.

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Die Verhandlung war Freitagmittag. Ich brauchte nicht viel zu machen außer Aufstehen, als der Richter mich aufrief und »schuldig« sagte, dann Stehen bleiben und mir von ihm anhören, was für ein Versager ich wäre, dass Vandalismus hier nicht geduldet würde, blablabla. Im Grunde war ich ganz froh, dass ich nur anwesend sein und zuhören musste, denn inzwischen drehte ich total am Rad. Ja, okay: Ich war verschlossen, ein bisschen verträumt und seltsam. Aber ich hatte schließlich keine Brandstiftung begangen, keine Bank überfallen oder mit Drogen gedealt. Kein Vergleich mit manchen Typen aus meiner Schule. Karl Dekker aus der Elften zum Beispiel, der letztes Jahr wegen Vandalismus von der Schule geflogen ist und weil er gesoffen hat und so weiter. Verglichen mit so einem würde es gar nicht so leicht werden, mich ins Heim zu stecken. Trotzdem – wenn das passiert wäre, wäre ich sofort abgehauen! In so einem Heim hätten mich die anderen Jugendlichen abgemurkst. Typen wie Dekker, das sind die, vor denen man sich in Acht nehmen muss!

Außerdem hatte ich noch viel vor. Zum Beispiel Kunst studieren. Im freien Malen und Zeichnen war ich ziemlich gut, und die Vorstellung, eines Tages wie Rembrandt, Velazquez oder Caravaggio malen zu können, fand ich toll. Wie diese Maler das Chiaroscuro beherrschten, wie sie gekonnt Lichter und Schlagschatten setzten – das war eine Sprache, die ich verstand. Oder Dali und Picasso: Wie kriegten die beiden es hin, in ihren Bildern das darzustellen, was den Menschen, die Uhr oder was auch immer eigentlich ausmachte? Wenn ich so richtig im Zeichnen oder Malen drin war und es Klick machte, bewegte ich mich plötzlich auf einer anderen Bewusstseinsebene. Ich weiß schon, das klingt verrückt, aber ich habe Bücher über Maler, Schriftsteller und Komponisten gelesen. Überall steht dasselbe: dass das Gehirn beim Schaffensprozess anders arbeitet als sonst. Mein Biolehrer hat das mal »Denken mit der rechten Hirnhälfte« oder so ähnlich genannt.

Zurück zum Gericht. Am Ende der Sitzung lautete meine Strafe folgendermaßen: Sozialstunden und Wiedergutmachung. Letzteres hieß auf gut Juristisch, dass ich den angerichteten Schaden beheben musste – also die beschmierte Scheunenwand überstreichen. Die Sozialstunden waren an sich nicht weiter schlimm. Ich sollte zweimal die Woche im Altenheim aushelfen. Bloß dass mich der Richter zu insgesamt achthundert Stunden verdonnerte, eine so lächerlich hohe Zahl, dass ich sie bis ins nächste Jahr hinein abarbeiten musste. Egal, es hätte schlimmer kommen können. Ich habe nichts gegen alte Leute. Wenn alte Leute über früher reden (soweit sie sich überhaupt noch erinnern können), finde ich das eigentlich ganz spannend. Und ich habe ja meine eigenen Großeltern nicht gekannt.

Außerdem musste ich noch zum Psychiater. Auch zweimal die Woche. Anscheinend waren meine Testergebnisse nicht berühmt gewesen. Oder der Richter wollte auf Nummer sicher gehen, dass mir neben dem Streichen der Scheune, den Sozialstunden und der Schule nicht mehr allzu viel Freizeit blieb.

Blöd war nur, dass ich Eisenmanns Scheune ja im Schlaf angesprüht hatte. In Anbetracht meiner Träume in letzter Zeit hatte ich Zweifel, ob sich der Geist so einfach wieder in die Flasche verziehen würde.