XXXI
Irgendwann – mir kam es ewig vor, aber wahrscheinlich dauerte es nur ein paar Minuten –, spürte ich etwas Kaltes, Hartes am Rücken. Jemand schüttelte mich und sagte eindringlich: »Wach auf, Christian, wach auf!«
Ich öffnete mühsam die Augen und blinzelte ins grelle Taschenlampenlicht. Meine Schulter pochte, meine rechte Hand war verkrampft. Ich betastete mein Gesicht. Es fühlte sich klebrig an. Als ich die Hand wegnahm, hatte ich Blut an den Fingern. Auch meine Wangen und Augen waren feucht. »W-was … was ist passiert?«
»Du bist umgekippt.« Dr. Rainier klang ausgesprochen erleichtert. »Du hast drauflos gezeichnet wie ein Wilder, dann hast du auf einmal geschrien und Nasenbluten bekommen und … eine Art Krampfanfall gehabt.«
»Kannst du dich aufsetzen?«, fragte eine tiefe Männerstimme, und eine Hand umfasste meinen Hinterkopf. »Aber schön langsam.«
Ich klammerte mich an Onkel Hanks Arm, und er und Dr. Rainier halfen mir, mich hinzusetzen. Onkel Hank gab mir ein Taschentuch, und ich wischte mir das Blut vom Gesicht. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte jemand mit einem Hammer darauf eingeschlagen. »Seit wann bist du denn hier?«
»Seit zehn Minuten. Hel…, äh, Dr. Rainier hat mich angerufen, als du nicht mehr ansprechbar warst. Ich bin gleich ins Auto gesprungen.« Er drehte sich zu Dr. Rainier um. »Was haben Sie sich bloß dabei gedacht? Mit so was ist nicht zu spaßen! Der Junge hätte sich verletzen können oder …«
»Es war meine Idee«, unterbrach ich ihn.
»Das macht es nicht besser. Du bist schließlich noch ein Kind …«
»Ich bin kein Kind mehr! Ich weiß, was ich tue.« Ich blickte Dr. Rainier an. »Ich war dort. Ich habe alles gesehen. Ich weiß jetzt, was passiert ist.«
Dr. Rainier betrachtete die Blätter mit meinem Gekritzel. Auf ihrem Gesicht malten sich erst Unglauben, dann Staunen und schließlich Entsetzen. Als sie sich wieder erholt hatte, sagte sie: »Weißt du was, Christian? Ich kenne diese beiden Männer.«
»Wie bitte?« Onkel Hank nahm ihr die Zeichnungen aus der Hand. »Der hier hat ein Schielauge.«
»Er leidet an Strabismus«, berichtigte ihn Dr. Rainier. »Ich habe sie beide schon mal irgendwo gesehen.«
»Ich nur den einen.« Ich deutete auf den Schielenden. Auf meiner Zeichnung hielt er einen sich sträubenden Jungen gepackt. »Er heißt Daecher, und hinter seinem Namen stand eine Zahlenfolge. Ich glaube, die beiden sind deutsche Kriegsgefangene. Mr Witeks Vater hat damals die Männer im Lager gezeichnet.«
»Stimmt – ich habe ihn in Mr Witeks Skizzenbuch gesehen, das er immer am Bett liegen hatte. Und den hier«, Dr. Rainier klopfte auf das Blatt, »kenne ich auch daher.«
»Nicht nur daher«, sagte ich.
Onkel Hank und Dr. Rainier machten verständnislose Gesichter. »Was meinst du damit?«, fragte Dr. Rainier.
»Sag mal, Onkel Hank, ist Mr Mosby noch hier? Der Typ mit dem Bodenradar?«
»Er und sein Team haben noch ein paar Tage an der Ziegler-Villa zu tun. Warum?«
Ich deutete auf die Nordseite der Scheune – und dann auf eine andere Skizze. Sie zeigte zwei grabende Männer mit Schaufeln. »Ruf ihn an. Er soll herkommen.«
+ + +
Daher weiß ich jetzt auch, wie ein Grab im Bodenradar aussieht, nämlich wie ein dunkelgraues Rechteck. Leider konnte man nicht erkennen, wie viele Leichen darin lagen.
»Aber es ist hier«, sagte Mosby. »Hier unter dem Ziegelboden. Darauf verwette ich meinen Laden!«
Das war kurz vor Mitternacht. Keiner von uns wollte ins Bett, darum trommelten wir die entsprechenden Leute zusammen und machten uns mit Presslufthämmern, Stemmeisen und Spaten daran, das Grab zu öffnen.
Morgens um sieben waren wir so weit. Jemand hatte Dr. Nichols verständigt. Sie war mit verquollenen Augen und plattgedrücktem Haar eingetroffen.
Wir fanden nicht nur ein Skelett, sondern zwei – zwei Männer, die nebeneinander lagen. Anscheinend war es leichter gewesen, ein breites Grab auszuheben als ein tiefes. Nach über sechzig Jahren war alles verwest, was die Knochen zusammengehalten hatte. Die Skelette waren in ihre Einzelteile zerfallen, aber man konnte sie noch unterscheiden.
Das eine Skelett trug eine zerlumpte Arbeitshose und hatte einen eingeschlagenen Schädel. Dr. Nichols tastete sich an Mordechai Witeks Beinen entlang und suchte unter ihm herum, bis sie eine zerfledderte Lederbrieftasche zutage förderte. Sie öffnete die Brieftasche und zog mit spitzen Fingern einen Zehndollarschein heraus, zwei Fünfer und ein verblasstes Foto. Auf dem Foto waren vier Personen, unter anderem Mordechai Witek selbst. Wer die drei anderen waren, konnte ich mir denken, auch wenn sie kaum noch zu erkennen waren. Ich hatte sie sogar schon mal gesehen – auf dem Familienporträt in Mr Witeks Zimmer. Als ich Marta betrachtete, ging mir noch ein anderes Licht auf.
»Damit kann das Labor bestimmt etwas anfangen.« Dr. Nichols steckte das Foto behutsam in einen Plastikbeutel. »Aber das hier ist noch besser.« Sie hielt eine Pappkarte in die Höhe.
Die Karte war früher rosa gewesen. Auf einer Seite prangte ein schwarzes Siegel, das eine lange Brücke vor hohen Bergen zeigte. Darunter stand: IVEBK. Auf der Rückseite war zu lesen:
MITGLIEDSAUSWEIS
Mr M. M. WITEK
ist vollberechtigtes Mitglied der
Internationalen Vereinigung der Eisenkonstrukteure, Brückenbauer und Kunstschmiede
in WINTER, WISCONSIN
Bezirk Nr. 119
Dieser Ausweis ist gültig bis: 31.12.1945
Onkel Hank sagte ungläubig staunend: »Das heißt, er ist nie von hier weggegangen!«
»Scheint so. Wir führen natürlich noch einen Gentest durch und vergleichen das Ergebnis mit einer Probe von seinem Sohn«, sagte Dr. Nichols. »Mr Witeks Nachlassverwalter hat bestimmt nichts dagegen. Aber auch ohne Befund würde ich mal behaupten, dass der Tote hiermit identifiziert ist.«
Das andere Skelett machte es ihr nicht so leicht. Das Nasenbein war beschädigt; das war die einzige Knochenverletzung, die Dr. Nichols auf die Schnelle feststellen konnte. Diesmal fand sie keine Brieftasche. Sie hielt den Toten für einen Landarbeiter. »Wegen der Kleidung. Sein Hemd ist aus derbem Stoff, und hier am Ärmel ist eine Aufschrift. Leider so verblichen, dass ich nichts lesen kann. Aber vielleicht kann man die Stelle im Labor noch säubern. Genauso gut kann es aber sein, dass wir nicht herausfinden, um wen es sich handelt.«
Ich wusste sehr genau, um wen es sich handelte. Ich hatte gesehen und gezeichnet, was die beiden Deutschen, Wulf und Daecher, nicht gesehen hatten, denn wenn man jemandem die Kehle durchschneidet, ist das eine ziemlich blutige Angelegenheit. Vor allem, wenn der Betreffende dabei noch lebt. Und Blut verdeckt so manches.
»Wenn Sie den linken kleinen Finger finden, könnte uns das weiterhelfen«, sagte ich.
Dr. Nichols siebte zehn Minuten lang sorgfältig eine Kelle Erde nach der anderen durch, dann rief Dr. Rainier aus: »Halt! Da ist was!«
Dr. Nichols’ hielt erst einen Knochen in die Höhe – »Metakarpalknochen« sagte sie dazu –, dann einen goldenen Siegelring mit drei verschnörkelten Buchstaben drauf.
»C-R-E«, sagte ich, »Charles Randall Eisenmann.«
»Ausgeschlossen!« Onkel Hank schaute erst den Ring an, dann mich und schließlich Dr. Rainier. »Das ist ganz ausgeschlossen«, wiederholte er. »Charles Eisenmann lebt doch noch!«
»Wo kommt der Ring dann her? Auf allen alten Fotos von Eisenmann sieht man ihn mit diesem Ring. Und mit der goldenen Uhrkette – die trägt er immer noch. Aber wenn man ein Foto von 1944 mit einem von 1946 vergleicht, ist der Ring 1946 verschwunden, wetten? Und zwar deshalb, weil ihn der echte Charles Eisenmann am Finger hatte, als er starb, und der Typ, der seine Stelle eingenommen hat, vergessen hat, ihm den Ring abzunehmen. Er hat die Kleidung mit ihm getauscht und die Uhrkette an sich genommen, aber nicht den Ring.«
Onkel Hank war noch nicht überzeugt. »Aber sein Mörder war doch nicht sein Doppelgänger. Wieso sind alle Leute darauf hereingefallen?«
»Wegen der Narben. Angeblich wurde Eisenmann bei dem Mord ebenfalls angegriffen und verletzt, stimmt’s? Kann doch aber auch sein, dass sich der Typ die Narben selbst zugefügt hat, mit ein bisschen Hilfe!«
»Das wäre immerhin denkbar«, warf Dr. Nichols ein. Vor allem, wenn es sehr schwere Verletzungen waren und der Betreffende auch noch die gleiche Kleidung und die gleiche Uhr getragen hat. Dann genügt eine oberflächliche Ähnlichkeit, um Außenstehende zu täuschen.«
Onkel Hank blieb skeptisch. »Also ich weiß nicht …«
Ich wandte mich an Dr. Rainier. »Sie haben doch die beiden Männer auf meinen Skizzen erkannt, oder?« Sie nickte. »Kommen Sie irgendwie an Mr Witeks Skizzenbuch ran?«
»Das Heim verwahrt seine Besitztümer. Aber wenn Sie mir eine entsprechende Befugnis ausstellen, Hank … Die Indizienbeweise hier reichen doch bestimmt aus, um das zu begründen.«
»Klar. Aber wozu? Wen suchen wir eigentlich?«
»Den Zwilling.« Ich blätterte in meinen Zeichnungen und hielt Onkel Hank die Skizze mit dem Mann hin, der sich mit dem Messer in der Hand zu Eisenmann herunterbeugte. »Den hier.«
»Vor Gericht würde es heißen, du hättest dir Witeks Zeichnung eingeprägt und sie ist aus deinem Unterbewusstsein wieder aufgetaucht«, wandte Onkel Hank ein. »Ich würde das auch vermuten.«
»Nicht unbedingt.« Dr. Nichols scharrte auf ihrem Sieb herum und schob mit dem Daumen die Erdkrümel von einer ovalen Metallplakette.
»Was ist das?«, fragte Dr. Rainier.
Die Plakette war aus Aluminium und fast so groß wie Dr. Nichols’ Handfläche. In der Mitte war eine tiefe, waagerechte Rille. Drei Löcher waren in das Metall gestanzt, zwei über und eins unter der Mittelrille. Durch die beiden oberen Löcher war eine morsche Schnur gefädelt. Ober- und unterhalb der Rille war eine Folge von Zahlen und Buchstaben eingeprägt: 9356 Pz. Gen. Rgt. 26 und links unten war eine große Null.
»Fragt mich nicht, was die Abkürzungen bedeuten«, sagte Dr. Nichols, »aber es handelt sich offensichtlich um eine Erkennungsmarke. Die Nummer dient zur Identifizierung des Trägers.«
»Es gab eine deutsche Panzerdivision, deren Abzeichen der Wolfshaken war«, sagte ich. »P und Z könnten die Abkürzung für Panzer sein und die Marke gehört Soldat Nummer 9356.«
»Die Null wäre dann die Blutgruppe«, warf Dr. Rainier ein.
»Wir tüten das Ding ein und lassen es untersuchen, aber eigentlich bin ich sicher«, meinte Dr. Nichols. »Noch mal zum Gentest: Wenn der Tote tatsächlich der echte Charles Eisenmann ist, können wir seine DNA mit der seiner Verwandten abgleichen. Seine Eltern sind doch bestimmt hier in Winter begraben. Die DNA muss zu fünfzig Prozent mit der DNA der Mutter übereinstimmen und zu fünfzig Prozent mit der des Vaters. Diese Zahlen lügen nicht. Wenn Sie mir einen Abstrich von dem Typen besorgen, der sich heute als Charles Eisenmann ausgibt, wird die DNA zweifelsfrei zeigen, ob er ein Schwindler ist.« Dr. Nichols war hörbar stolz. »Tja, Sheriff, ich würde sagen, für eine Exhumierung reichen die Indizien allemal.«
+ + +
Jemand hatte uns Kaffee und Donuts vorbeigebracht, aber ich verzichtete. Inzwischen war ich hundemüde und wollte nur noch ins Bett. Ich verließ die Scheune, diesen Schreckensort, und wankte in den strahlend schönen Sonntagmorgen hinaus. Zarte Nebelschleier lagen über dem Teich und den Viehweiden. Ich atmete tief durch, aber mein Kopf wurde nicht klarer. Es kam mir vor, als hätte ich noch etwas vergessen. Aber was?
Dr. Rainier und Onkel Hank kamen jetzt auch nach draußen. Sie wirkten ebenfalls müde, doch Onkel Hank hatte noch einen langen Arbeitstag vor sich. »Dr. Rainier fährt dich heim«, sagte er. »Du siehst völlig fertig aus.«
»Bin ich auch. Aber …«
»Was denn?«
Ich drehte mich nach der Scheune um. »Ich weiß auch nicht, es ist bloß … keine Ahnung.« Ich ging um die Scheune herum auf die Nordwestseite, wo noch das blöde Gerüst stand. Onkel Hank und Dr. Rainier kamen hinterher. Das eine Hakenkreuz war noch verschwommen zu erkennen. Hatte es eigentlich etwas zu bedeuten, dass ich ausgerechnet diese Wand der Scheune angesprüht hatte? Bis jetzt war an der ganzen Geschichte nichts zufällig gewesen, nicht meine Träume, nicht die Begegnung mit Mr Witek, nicht der Ausblick vom Heuboden – alles hatte eine Bedeutung gehabt. Warum also diese Wand?
Etwas anderes fiel mir auf: Alle Krähen waren fort. Trotzdem spürte ich, dass sie ganz in der Nähe waren.
»Bin gleich wieder da.« Ich kletterte das Gerüst hoch, bis zu der Stelle, wo ich vor Wochen zum ersten Mal einen eisigen Schauder verspürt hatte – auf Höhe des Hakenkreuzes. Ich ließ den Blick über die Felder und Hügel schweifen.
»Was suchst du da oben, Christian?«, rief Onkel Hank zu mir hoch.
Mein Blick streifte die Ruine, Davids niedergebranntes Elternhaus (wie war es eigentlich zu dem Brand gekommen?), dann wandte ich mich dem Teich mit der Espengruppe am Ufer zu.
Dort waren die Krähen! Die Bäume waren schwarz von ihnen. Die Äste bogen sich, so viele waren es.
Aber die Vögel hätten mich gar nicht darauf hinweisen müssen. Zwischen den Bäumen lag etwas, das mir nicht aufgefallen war, als ich den Ausblick seinerzeit mit Davids Augen betrachtet hatte. Drinnen in der Scheune fehlte jetzt etwas, das am Abend des Mordes noch dagewesen war.
In Gedanken hörte ich Eisenmann höhnisch zu Mordechai Witek sagen: Bei ihr hat die Natur doch sowieso gepfuscht.
»Christian?«, rief Onkel Hank.
Ich kletterte in einem Affentempo wieder nach unten. »Ich hab’s!«
Ich rannte los. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein entsprungener Irrer: wilder Blick, zerzaustes Haar und blutverschmierte Klamotten (vom Nasenbluten). Onkel Hank und Dr. Rainier riefen mir etwas nach, aber ich blieb nicht stehen. Das hohe Gras schlang sich um meine Beine und wickelte sich um meine Turnschuhe, doch ich war nicht zu bremsen. Als ich an die Espengruppe kam, flatterten die Krähen krächzend auf wie eine schwarze Wolke. Ich bahnte mir einen Weg durchs Unterholz, schlug Ranken und Zweige beiseite, bis ich davorstand.
Da lagen sie.
Onkel Hank und Dr. Rainier kamen angekeucht. »Was ist denn in dich gefah…«, setzte Onkel Hank an.
Ich hielt ihm einen unter die Nase. Die Unterseite trug den Stempel ›Gold & Brick 1941‹. »Das sind die Ziegel aus der Scheune. Vom Fußboden.«
»Aber warum wurde das arme kleine Ding eingemauert?«, fragte Dr. Rainier. »Marta war doch nur ein Hausmädchen. Kein Mensch hätte sich darüber aufgeregt.«
»Das Baby war zugleich ein Beweis und eine Mahnung«, erklärte Onkel Hank feierlich. »Der Mörder wollte ganz sicher gehen, dass alle Witeks zum Schweigen gebracht waren.«