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1. März 1820
Newmarket, Suffolk
 
Unbegrenzte Freiheit! Er war entkommen.
Mit einem arroganten Lächeln ließ Harold Henry Cynster – von allen, sogar von seiner Mutter in ihren schwächeren Augenblicken, nur Demon genannt – seinen zweirädrigen Zweispänner im Hof hinter seinem Stall in Newmarket anhalten. Er warf seinem Stallknecht Gillies die Zügel zu, der hinten von der eleganten Equipage gesprungen war und sie auffing, dann trat Demon in den gepflasterten Hof. Schwungvoll fuhr er mit der Hand über das glänzende Fell seines Leitpferdes und warf dann einen Blick voller Besitzerstolz über den Hof.
Hier gab es keine Ränke schmiedende Mutter und auch keine Witwe, die ihn mit ihren missbilligenden Blicken durchbohrte.
Noch einmal tätschelte er liebevoll sein Pferd, dann ging Demon zur offenen Hintertür des Stalles. Er hatte London völlig unerwartet zur Mittagszeit verlassen und sich dann vom frischen Fahrtwind das übertrieben süße Parfüm einer ein wenig anstößigen Gräfin aus dem Kopf vertreiben lassen. Er war mehr als zufrieden, all die Ballsäle, die Partys und die unzähligen Fallen hinter sich zu lassen, die von den Müttern aufgestellt wurden, um Gentlemen wie ihn dazu zu bringen, ihre Töchter zu heiraten. Dabei fiel es ihm normalerweise nicht einmal schwer, solchen hinterhältigen Fallen zu entkommen, doch in letzter Zeit lag ein besonderer Duft in der Luft, eine Vorahnung von Gefahr, und er war viel zu erfahren, um das zu ignorieren.
Zuerst hatte es seinen Cousin Devil erwischt, dann seinen eigenen Bruder, Vane, und jetzt auch seinen ihm am nächsten stehenden Cousin Richard – wer würde der Nächste aus der Gruppe der sechs werden, der Bar Cynster, wie sie genannt wurden, den das Schicksal in die Arme einer liebenden Ehefrau treiben würde?
Wer auch immer es sein würde, er war es ganz sicher nicht.
Er blieb vor der offenen Stalltür stehen, dann wandte er sich um und blinzelte im grellen Sonnenlicht. Einige seiner Pferde befanden sich mit den Stalljungen auf den Weiden. Auf der Heide dahinter trainierten eine Reihe von Pferden aus anderen Ställen unter den Augen ihrer Eigentümer und Trainer.
Die Szene war ausschließlich männlich. Die Tatsache, dass er sich hier vollkommen zu Hause fühlte – er merkte bereits nach wenigen Minuten, dass alle Spannung von ihm abfiel war reine Ironie. Er konnte wohl kaum behaupten, dass er Frauen nicht mochte und ihre Gesellschaft nicht genoss, und auch nicht, dass er nicht sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart eine beträchtliche Zeit dafür aufgewendet hatte, sie zu umwerben.
Und er konnte ebenfalls nicht leugnen, dass ihm solche Eroberungen Freude und auch eine gewisse Befriedigung bereiteten. Immerhin war er ja ein Cynster.
Er lächelte. All das stimmte, allerdings …
Auch wenn die anderen Mitglieder der Bar Cynster als reiche, wohlerzogene Gentlemen die Tatsache akzeptiert hatten, dass sie irgendwann heiraten und eine Familie gründen würden, so hatte er sich doch geschworen, es anders zu halten. Er war entschlossen, niemals zu heiraten, niemals das Schicksal zu versuchen, mit dem sein Bruder und seine Cousins gekämpft und gegen das sie verloren hatten. Eine Ehe, um die Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber einzuhalten, war ja recht gut, aber eine Lady zu heiraten, die man liebte, war bis jetzt das verhängnisvolle Schicksal aller männlichen Cynsters gewesen.
Ein verhängnisvolles Schicksal, in der Tat, für einen geborenen Krieger – für immer der Gnade einer Frau ausgeliefert zu sein. Einer Frau, die sein Herz, seine Seele und seine Zukunft in ihrer kleinen, zerbrechlichen Hand hielt.
Das genügte, um auch den stärksten Krieger erbleichen zu lassen.
Davon wollte er nichts wissen.
Er warf noch einen letzten Blick über den Hof, stellte fest, dass das Pflaster sauber gefegt und die Zäune in ausgezeichnetem Zustand waren, dann wandte Demon sich um und betrat den Hauptstall, in dem seine Rennpferde untergebracht waren. Die Arbeit des Nachmittags hatte bereits begonnen – er würde sich seine Pferde beim Training ansehen, zusammen mit seinem sehr fähigen Trainer, Carruthers.
Demon war auf dem Weg zu seinem Gestüt, das drei Meilen weiter südlich der Rennbahnen in einem sanften, hügeligen Gelände, das an die Heide grenzte, lag. Da er die Absicht hatte, für den Rest seines Lebens einer Ehe zu entkommen, und da die Atmosphäre in London zu vibrieren schien, weil die Ballsaison kurz bevorstand, und seine Tanten und auch seine Mutter voller Aufregung waren über Hochzeiten, Ehefrauen und zu erwartende Babys, hatte er sich entschieden, sich rar zu machen und die Saison aus der sicheren Entfernung seines Gestütes und der ungefährlichen Gesellschaft in Newmarket zu beobachten.
Das Schicksal hätte keine Möglichkeit, ihn hier zu erwischen.
Er sah nach unten, um den unvermeidlichen Hinterlassenschaften seiner bevorzugten Lieblinge auszuweichen, dann ging er lässig den langen zentralen Gang zwischen den leeren Pferdeboxen entlang, die sich links und rechts von ihm öffneten. Am anderen Ende des Gebäudes war ein großes Tor geöffnet, das auf die Heide führte. Es war ein schöner Tag, der leichte Wind fuhr den Pferden durch die Mähnen und ließ die langen Schwänze wehen – seine Pferde waren draußen und taten das, was sie am besten konnten. Sie rannten.
Nachdem er die letzten Stunden in seinem Wagen verbracht hatte, die Schultern von der Sonne gewärmt, war es im schattigen Stall kühl. Ein unerwartet kalter Hauch strich ihm über die Schultern, und ein eisiger Schauer rann ihm über den Rücken.
Demon runzelte die Stirn und zog die Schultern hoch. Als er die Stelle erreicht hatte, an der sich der Gang zu dem Platz ausweitete, wo die Reiter auf die Pferde stiegen, blieb er stehen und sah auf.
Ein wohl bekannter Anblick bot sich ihm – ein Junge oder ein Trainer schwang das Bein über den glatten Rücken eines seiner Champions. Das Pferd zeigte ihm sein Hinterteil, doch Demon erkannte sofort eines seiner Lieblingspferde, einen irischen Wallach, der in der kommenden Saison ganz sicher gut laufen würde. Das jedoch war es nicht, was ihn innehalten ließ und warum er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb.
Er konnte von dem Reiter nur den Rücken sehen und ein Bein. Der Junge hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen, trug eine schäbige Reitjacke und eine weite Cordhose. Die Hose war weit, bis auf eine Stelle – wo sie sich eng um den Po des Reiters schmiegte, der gerade sein Bein über den Sattel schwang.
Carruthers stand neben dem Pferd und gab Anweisungen. Der Junge setzte sich in den Sattel, dann stellte er sich in die Steigbügel, um sich in die richtige Position zu bringen. Wieder spannte sich die Cordhose.
Demon zog scharf den Atem ein. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und entschlossen vorgeschobenem Kinn ging er nach vorn.
Carruthers schlug dem Pferd auf das Hinterteil. Der Reiter nickte und ließ dann das Pferd, The Mighty Flynn, hinaus in den Sonnenschein trotten.
Carruthers wandte sich um und kniff die Augen zusammen, als Demon näher kam. »Oh, Sie sind das.« Trotz der knappen Begrüßung und dem mürrischen Ton lag eine warme Zuneigung in Carruthers Blick. »Sie sind wohl gekommen, um zu sehen, wie sie sich machen, wie?«
Demon nickte, seine Augen ruhten noch immer auf dem Reiter, der auf The Mighty Flynn saß. »In der Tat.«
Zusammen mit Carruthers ging er langsam hinter The Flynn her, dem letzten seiner Pferde, das auf die Heide hinausritt.
Schweigend beobachtete Demon, wie seine Pferde ihre Arbeit machten. The Mighty Flynn bekam heute nur ein leichtes Training, Gehen, Traben, dann wieder Gehen. Obwohl er auch beobachtete, wie die anderen Pferde trainierten, so ruhte Demons Blick die meiste Zeit auf The Flynn.
Carruthers stand neben ihm und beobachtete seine Schützlinge ganz genau. Demon sah in sein altes Gesicht mit den vielen Falten, vom Wetter gegerbt wie abgetragenes Leder. Seine blassbraunen Augen waren weit geöffnet, während er jeden Schritt, jede Bewegung beobachtete. Carruthers machte sich niemals Notizen, man brauchte ihn auch nicht daran zu erinnern, welches Pferd was getan hatte. Wenn seine Schützlinge in den Stall kamen, würde er ganz genau wissen, wie es jedem einzelnen Pferd ging und was nötig war, um das Beste in ihnen herauszuholen. Carruthers war der erfahrenste Trainer in ganz Newmarket, er kannte seine Pferde besser als seine Kinder, und genau deshalb hatte Demon ihn geplagt und verfolgt, bis er endlich einverstanden gewesen war, Demons Pferde zu trainieren und seine Zeit ausschließlich Demons Pferden zu widmen.
Demon sah wieder zu dem großen Braunen. »Dieser Junge auf The Flynn – er ist neu, nicht wahr?«, murmelte er.
»Aye«, antwortete Carruthers, doch er ließ den Blick nicht von den Pferden. »Es ist ein Junge aus Lidgate. Ickley ist abgehauen – wenigstens nehme ich das an. Er ist eines Morgens nicht mehr aufgetaucht, und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ungefähr eine Woche später kam der junge Flick und suchte nach Arbeit, also habe ich ihn auf eines der reizbaren Pferde gesetzt.« Carruthers deutete mit dem Kopf in die Richtung, in der The Flynn gerade ritt. Er hielt Schritt mit dem Rest der Pferde, und die kleine Gestalt auf seinem Rücken hatte ihn erstaunlich gut im Griff. »Er hat dieses Pferd ganz leicht geritten, also habe ich ihn auf The Flynn gesetzt. Noch nie habe ich gesehen, dass ein Pferd so willig seine Arbeit getan hat. Der Junge hat das richtige Händchen, daran besteht kein Zweifel. Ein ausgezeichnetes Händchen und einen guten Hintern.«
Demon gestand sich insgeheim, dass er da nicht widersprechen konnte. »Gut« war jedoch nicht das Adjektiv, das er benutzt hätte. Aber er musste sich geirrt haben. Carruthers war ein zuverlässiges Mitglied der Bruderschaft, er war der Letzte, der eine Frau auf eines seiner Pferde steigen lassen würde, geschweige denn, der einer Frau The Flynn anvertrauen würde.
Und dennoch …
In seine Gedanken hatte sich ein leiser Zweifel eingeschlichen, eine ständige Störung, etwas, das stärker war als nur Misstrauen. Und auf einer ganz bestimmten Ebene – auf der Ebene, die von seinem Gefühl beherrscht wurde – wusste er, dass er sich nicht irrte.
Kein Junge hatte einen solchen Hintern.
Dieser Gedanke rief ihm den Anblick wieder ins Gedächtnis. Demon trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und fluchte innerlich. Er hatte die Gräfin erst vor wenigen Stunden verlassen, seine lüsternen Dämonen sollten eigentlich gar nicht munter sein, geschweige denn, ihren Kopf heben. »Dieser Flick …« Als er den Namen aussprach, fühlte er einen Anflug – eine Erinnerung? Wenn der Junge hier aus der Gegend kam, war er ihm vielleicht schon einmal begegnet. »Wie lange ist er schon bei uns?«
Carruthers war noch immer in den Anblick der Pferde versunken, die jetzt abgekühlt wurden, ehe sie zurück in den Stall kamen. »Ungefähr zwei Wochen.«
»Und er arbeitet den ganzen Tag?«
»Ich habe ihn nur auf halbe Bezahlung gesetzt – eigentlich brauchte ich bei der Stallarbeit keine Hilfe mehr. Ich brauchte ihn nur zum Reiten – zum Training und zum Galoppieren. Wie es sich herausstellte, passte ihm das recht gut. Seiner Mutter geht es nicht so gut, also kommt er hierher geritten, macht am Morgen die Arbeit im Stall und reitet dann nach Lidgate zurück, um sich um seine Mutter zu kümmern, und am Nachmittag kommt er wieder.«
»Hm.« Die ersten Pferde kamen bereits zurück, Demon trat in den Stall, und zusammen mit Carruthers stand er an dem Platz, an dem die Pferde abgesattelt wurden, als die Jungen auf ihren Pferden in den Stall geritten kamen. Die meisten der Jungen kannte er. Während sie einander begrüßten und die letzten Neuigkeiten austauschten, während Demon mit Kennerblick seine Pferde betrachtete, ließ er doch The Flynn nicht aus dem Auge.
Flick ritt am Ende der Reihe. Er hatte höchstens mal kurz mit dem Kopf genickt und ab und zu ein Wort mit den anderen Jungen gewechselt. Inmitten der allgemeinen Kameradschaft schien Flick ein Einzelgänger zu sein. Aber die anderen Jungen schienen nichts Ungewöhnliches darin zu sehen. Sie gingen an ihm vorüber, während er auf dem riesigen Braunen herangeritten kam, dem Pferd den seidigen Hals tätschelte, und Demon konnte an den Ohren des Tieres erkennen, dass Flick ihm anerkennende Worte zumurmelte. Innerlich fluchte Demon und fragte sich noch einmal, ob er sich wirklich geirrt haben konnte.
The Flynn kam als Letzter in den Stall. Demon hatte die Hände in die Hüften gestützt. Er stand neben Carruthers im Schatten, der durch die strahlend helle Sonne im Westen noch tiefer wurde. Flick ließ den Braunen noch einmal tänzeln, dann beruhigte er ihn und lenkte ihn in den Stall. Als die Hufe des Pferdes auf den Pflastersteinen dröhnten, sah Flick auf.
Augen, die an das Sonnenlicht gewöhnt waren, blinzelten, richteten sich auf Carruthers und glitten dann schnell weiter zu Demon.
Flick zog die Zügel an und riss seine Augen auf.
Einen angespannten Augenblick lang starrten Eigentümer und Reiter einander an. Dann zerrte Flick an den Zügeln, The Flynn wirbelte herum, und Flick warf Carruthers einen entsetzten Blick zu. »Er ist immer noch unruhig – ich reite noch einmal schnell los.« Mit diesen Worten waren die beiden verschwunden wie in einem Wirbelwind.
»Was, zum …!« Carruthers machte ein paar Schritte nach vorn, dann blieb er stehen, weil er wusste, dass jede Verfolgung vergeblich wäre. Verwirrt wandte er sich an Demon. »So etwas hat er noch nie zuvor gemacht.«
Ein Fluch war Demons einzige Antwort. Er rannte bereits den Gang entlang. An der ersten offenen Box blieb er stehen, wo gerade einer der Jungen den Sattelgurt eines der kräftigeren Pferde löste.
»Lass das.« Demon schob den Jungen beiseite. Mit einer Handbewegung befestigte er den Gurt wieder, dann sprang er in den Sattel und lenkte das Pferd rückwärts aus der Box.
»Hier – ich kann einen der Jungen hinter ihm herschicken.« Carruthers trat einen Schritt zurück, als Demon auf dem Pferd an ihm vorüberritt.
»Nein, überlassen Sie das nur mir. Ich knöpfe mir den Jungen schon vor.«
Demon bezweifelte, dass Carruthers die doppelte Bedeutung verstanden hatte, doch er hatte nicht die Absicht, anzuhalten und ihm eine Erklärung zu geben. Er murmelte ein paar Worte vor sich hin, dann machte er sich an die Verfolgung.
In dem Augenblick, als sein Pferd den Stall hinter sich gelassen hatte, grub er ihm die Fersen in die Seiten, und das Pferd ging vom Trab über zum Galopp. Zu diesem Zeitpunkt hatte Demon seine Beute schon erspäht, die weit weg gerade im Schatten von einigen Bäumen verschwand. Hätte er noch eine Minute länger gezögert, er hätte sie verloren.
Er biss die Zähne zusammen und kämpfte mit den Steigbügeln, während er weiterritt. Seine Flüche verwehten im Wind. Endlich hatte er die Steigbügel richtig eingestellt, setzte sich im Sattel zurecht und machte sich an die Verfolgung.
Die auf und ab hüpfende Gestalt auf The Flynn warf einen Blick zurück und sah dann wieder nach vorn. Eine Sekunde später vergrößerte The Flynn sein Tempo.
Demon änderte die Richtung und versuchte, die Lücke zu schließen, indem er diagonal ritt – doch dann stellte er fest, dass er dadurch nur auf unebenes Gelände kam. Er war gezwungen, langsamer zu reiten und sich seitwärts zu wenden. Als er aufsah, stellte er fest, dass Flick abrupt in die andere Richtung gewechselt war. Statt die Entfernung zu verkürzen, war der Abstand zwischen ihnen noch gewachsen.
Demon schob entschlossen sein Kinn vor und kniff die Augen zusammen, er vergaß seine Flüche und konzentrierte sich auf seinen Ritt. Innerhalb von zwei Minuten hatte er seinen ursprünglichen Plan geändert – Flick einzuholen und eine Erklärung zu verlangen -, jetzt war er nur noch darauf aus, diese verdammte Frau nicht aus den Augen zu verlieren.
Sie ritt wie der Teufel – oder sogar noch besser. Es schien nicht möglich, aber …
Er selbst war ein ausgezeichneter Reiter, wahrscheinlich der geschickteste Reiter seiner Zeit. Er konnte alles reiten, was vier Beine und eine Mähne hatte, überall, auf jedem Gelände. Aber Flick bot ihm eine fröhliche Jagd. Und dabei war es nicht einmal so, dass sein Pferd bereits müde war oder dass er wesentlich schwerer war als sie. Auch The Flynn war müde, und er wurde noch härter geritten. Flick floh vor ihm, und er folgte ihr nur. Doch sie schien mit ihrem Pferd eins geworden zu sein, auf eine Art, die nur ein anderer Experte richtig verstehen konnte.
Er verstand es und konnte nicht anders, als sie brummend zu bewundern, selbst dann noch, als ihm klar wurde, dass es keinerlei Hoffnung für ihn gab, sie einzuholen.
Sie. Daran bestand jetzt kein Zweifel mehr. Jungen hatten nicht so zierliche Schultern, so schwanengleiche Hälse und Hände, die sogar noch in Lederhandschuhen klein und schmal wirkten. Und was ihr Gesicht betraf: das wenige, das er davon über dem dicken Wollschal gesehen hatte, den sie um Nase und Kinn gebunden hatte, war viel madonnenhafter gewesen als das Gesicht eines Mannes.
Eine Frau mit dem Namen Flick. Irgendwo in seinem Kopf erwachte eine Erinnerung, doch viel zu schwach, um ihm ein richtiges Bild zu geben. Er versuchte, diese Erinnerung ans Licht zu bringen, aber das gelang ihm nicht. Er war sicher, noch niemals eine Frau Flick genannt zu haben.
Sie war noch immer gut eine Viertelmeile vor ihm, und sie hielt diesen Abstand mit Leichtigkeit. Sie ritten jetzt direkt nach Westen, hinaus auf die weniger belebte Heide. Sie waren an einigen der Pferde vorübergeritten, die draußen trainierten, und die Reiter hatten überrascht die Köpfe gehoben, um ihnen nachzusehen. Demon bemerkte, dass Flick sich noch einmal umschaute, und einen Augenblick später änderte sie erneut die Richtung. Mit grimmiger Entschlossenheit kniff Demon die Augen vor der untergehenden Sonne zusammen und folgte ihr.
Er war vielleicht nicht in der Lage, sie einzuholen, aber er würde sie, verdammt noch mal, nicht aus den Augen verlieren.
Sogar Flick hatte seinen Entschluss mittlerweile begriffen. Sie stellte ein paar Überlegungen an über die Schwerenöter, die in London lebten und sich dann ohne Vorankündigung entschieden, ihr Gestüt zu besuchen, um sich ihr in den Weg zu stellen, sie aus der Bahn zu werfen und sie in eine lächerliche Nervosität zu versetzen, doch dann erwog sie irritiert und ein wenig verzweifelt ihre Möglichkeiten.
Viele waren es nicht. Und auch wenn sie leicht noch eine Stunde so weiterreiten könnte, so konnte The Flynn das nicht. Und das Pferd, auf dem Demon ritt, war noch viel schlimmer dran. Trotz ihrer Panik hatte es keinen Zweck, noch weiter vor ihm davonzulaufen.
Sie würde sich auf die eine oder andere Art, entweder jetzt oder ein wenig später, Demon stellen müssen. Sie wusste nicht, ob er sie erkannt hatte, aber in diesem einen Augenblick des Schreckens im Stall, als der Blick seiner blauen Augen auf ihr geruht hatte, hatte sie den Eindruck gehabt, dass er ihre Verkleidung durchschaut hatte.
In der Tat hatte sie den Eindruck gehabt, dass er direkt durch ihre Kleidung hatte hindurchsehen können – ein deutlich unangenehmes Gefühl.
Und dennoch, selbst wenn er erkannt hatte, dass sie eine Frau war, so hatte doch ihre impulsive Reaktion eine Konfrontation unvermeidlich gemacht. Sie war weggelaufen – und das konnte sie ihm unmöglich erklären, nicht, ohne ihm viel zu viele Andeutungen über ihre Identität zu geben.
Sie versuchte, zu Atem zu kommen, und warf einen Blick zurück. Er war noch immer da; entschlossen verfolgte er sie. Sie wandte den Kopf wieder nach vorn und sah sich um. Sie war zuerst nach Westen geritten, dann nach Süden, war um die Ställe und die Weiden herumgeritten, der Rennbahn ausgewichen und dann weiter auf die offene Heide geflohen. Sie warf einen Blick zur Sonne. Es war mindestens noch eine Stunde Zeit bis zur Dämmerung. Da alle anderen zurück in den Ställen waren, wo sie die Pferde für die Nacht vorbereiteten, lag dieser Teil der Heide jetzt verlassen da. Wenn sie einen Ort finden könnte, an dem sie einigermaßen versteckt waren, dann wäre das eine gute Stelle für eine Unterredung, der sie, wie es schien, jetzt sowieso nicht mehr ausweichen konnte.
Ehrlichkeit war ihre einzige Möglichkeit. Und das war ihr auch lieber – Lügen und Ausflüchte waren nie ihr Stil gewesen.
Etwa hundert Meter weiter entdeckte sie eine Hecke. Ihre Erinnerung sagte ihr, was dahinter lag. The Flynn wurde langsam müde. Sie beugte sich vor und streichelte seinen glänzenden Hals, flüsterte ihm Worte des Lobes zu und ermunterte ihn. Dann bereitete sie ihn auf die Hecke vor.
The Flynn flog darüber hinweg und kam problemlos dahinter auf. Flick fühlte einen Augenblick lang ein heißes Glücksgefühl, dann lenkte sie das Pferd nach links in die langen Schatten einer kleinen Baumgruppe. An der Stelle zwischen der Hecke und der Baumgruppe, die von drei Seiten nicht einzusehen war, zügelte sie das Pferd und wartete.
Und wartete.
Nach fünf Minuten begann sie sich zu fragen, ob Demon im entscheidenden Augenblick vielleicht weggesehen hatte und so nicht bemerkt hatte, wohin sie geritten war. Als noch eine weitere Minute verging und sie kein Hufgetrappel hörte, runzelte sie die Stirn und richtete sich in ihrem Sattel auf. Sie wollte gerade die Zügel anziehen und ihr Versteck verlassen, um ihren Verfolger zu suchen, als sie ihn entdeckte.
Er war nicht über die Hecke gesprungen. Trotz seines Wunsches, sie einzuholen, hatte die Sorge um sein Pferd den Vorrang gehabt. Er war an der Hecke entlanggeritten, bis er eine Lücke gefunden hatte. Jetzt kam er angetrabt, im Licht des späten Nachmittags, seine breiten Schultern waren gestrafft, die langen Beine entspannt, den Kopf hatte er erhoben, und die Sonne warf einen goldenen Schein auf sein glänzendes Haar. Sein Gesicht war grimmig verzogen, als er mit den Augen das Gebiet vor sich absuchte und sie zu entdecken versuchte.
Flick erstarrte. Es war verlockend – so verlockend -, still sitzen zu bleiben. Sie konnte ihn in aller Ruhe betrachten, konnte ihn an sich vorbeireiten lassen und ihre Sinne befriedigen, während sie in ihrem sicheren Versteck blieb. Wenn sie kein Geräusch machte, würde er sie wahrscheinlich nicht entdecken. Sie würde sich ihm nicht stellen müssen … doch leider gab es auf diesem Weg zu viele Hürden. Sie reckte sich, riss sich zusammen und hob das Kinn. »Demon!«
Sein Kopf fuhr herum. Er lenkte sein Pferd in ihre Richtung und entdeckte sie dann. Selbst auf diese Entfernung erkannte sie seinen bohrenden Blick, dann sah er sich die Umgebung an. Offensichtlich zufrieden lenkte er seinen Grauen auf sie zu und verlangsamte das Tempo.
Er trug einen eleganten Rock, so blau, dass er zu seinen Augen passte, seine langen Schenkel steckten in einer eng anliegenden Lederhose. Dazu trug er ein elfenbeinfarbenes Hemd, eine elfenbeinfarbene Halsbinde und glänzende Stiefel. Er sah genauso aus, wie sie ihn sich immer vorstellte – der Ausbund eines Schwerenöters aus London.
Flicks Blick ruhte auf seinem Gesicht, und sie wünschte sich sehr, dass sie größer wäre. Je näher er kam, desto kleiner fühlte sie sich, immer mehr wie ein Kind. Sie war aber kein Kind mehr, auch wenn sie ihn schon seit ihrer Kinderzeit kannte. Es fiel ihr schwer, das nötige Selbstvertrauen aufzubringen. Mit der Kappe, unter der ihr Gesicht im Schatten lag, ihrem Schal, der Nase und Kinn bedeckte, konnte sie sich nicht vorstellen, wie er sie sah – als Mädchen mit Zöpfen oder als junge Dame, die bemüht gewesen war, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie war beides gewesen, doch nichts davon zählte jetzt mehr. Jetzt befand sie sich auf einem Kreuzzug, bei dem sie seine Hilfe gebrauchen konnte. Wenn er damit einverstanden war, ihr diese Hilfe zu gewähren.
Unter ihrem Schal presste sie die Lippen zusammen, dann hob sie ihr Kinn und hielt seinem wütenden Blick stand.
Demons Erinnerungen waren geweckt, als er sein Pferd in den Schatten der Baumgruppe lenkte. Sie hatte ihn »Demon« genannt – nur jemand, der ihn kannte, würde ihn so nennen. Bilder aus der Vergangenheit kamen und gingen, Bruchstücke aus den Jahren eines Kindes, eines Mädchens, das ihn Demon nannte, ohne dabei zu erröten. Bilder eines Mädchens, das reiten konnte – o ja, geritten war sie schon immer, aber wann hatte sie es zu einer solchen Meisterschaft gebracht? -, ein Mädchen, dem er schon vor langer Zeit die Qualitäten zugeschrieben hatte, die Carruthers einen »guten Hintern« nannte – dieser offene Mut, der schon beinahe an Leichtsinn grenzte.
Als er sein Pferd gegenüber von The Flynn anhielt, hatte er sich ein gutes Bild von ihr gemacht. Sie war nicht Flick. Sie hieß Felicity.
Seine Augen hatte er zu Schlitzen zusammengezogen, als er sie jetzt eindringlich ansah, dann streckte er die Hand aus und zog ihr den Schal vom Gesicht.
Und stellte fest, dass er in das Gesicht eines Engels von Botticelli sah.
Er ertrank fast in diesen klaren blauen Augen, die heller waren als seine. Sein Blick wurde unwiderstehlich angezogen von einem Mund, der perfekt geformt war, und von Lippen von dem zartesten Rosa, das er je gesehen hatte.
Er holte Luft, zog sich ein wenig von ihr zurück und war innerlich erschrocken darüber, wie tief er bereits in sie versunken war. Er schüttelte die Verzauberung ab, dann warf er der Ursache dieser Verzauberung einen bösen Blick zu. »Was, zum Teufel, denkst du dir eigentlich?«