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Die nächsten Tage vergingen ohne jeden Zwischenfall. Flick unterdrückte ihre Ungeduld und beobachtete beharrlich alles, lauschte jeder Unterhaltung. Sie ritt am Morgen und auch am Nachmittag, jeden Tag, dann blieb sie jeden Morgen, solange sie konnte, im Stall und zögerte am Abend das Nachhausegehen hinaus, bis alle anderen gegangen waren. Nach drei Tagen war der einzige Verdächtige, den sie entdecken konnte, der Cousin eines der Stalljungen, der zu Besuch aus dem Norden gekommen war. Und die einzige verdächtige Unterhaltung, die sie mitbekommen hatte, drehte sich um die Aktivitäten einer rothaarigen Barfrau.
Wie Demon es gesagt hatte, hatte er jeden Tag gewissenhaft das Training beobachtet – und auch sie hatte er eingehend betrachtet. Das Gefühl, seine Blicke zu spüren, wuchs von Tag zu Tag. Sie hatte erleichtert aufgeseufzt, als sie an einem Morgen gehört hatte, wie er Carruthers sagte, dass er den Nachmittag damit verbringen wollte, sich in den anderen Ställen umzusehen, um die Konkurrenz abzuschätzen.
Um drei Uhr verließ sie den General, der über seinen Büchern saß und döste, und ritt auf Jessamy zu dem heruntergekommenen Häuschen – Felicity in ihrem blauen Reitkleid aus Samt. Sie fühlte sich nicht länger ängstlich, sondern war wesentlich selbstsicherer, und sie fürchtete sich nicht mehr vor dem, was ihr im Stall begegnen würde.
Dillon stand auf der Lichtung, als sie herangeritten kam, der alte Gaul graste in der Nähe. Sie zog die Zügel an und glitt aus dem Sattel, wandte sich um und ging in das Haus – ohne Dillon auch nur einen Blick zuzuwerfen. Er würde den Gaul satteln und würde Jessamy den Sattel abgenommen haben, wenn sie wieder aus dem Haus kam.
Seit sie die ganze Wahrheit erfahren hatte, hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen. Immer wenn sie zu dem Haus kam, versuchte er, ihre Blicke auf sich zu ziehen, er lächelte und wollte sie wieder friedlich stimmen.
Während Flick ihr Samtkleid auszog, stieß sie ein unwilliges Geräusch aus. Dillon war äußerst vorsichtig in ihrer Nähe, und so konnte es ruhig noch eine Weile weitergehen. Sie hatte ihm noch nicht verziehen, dass er sie belogen hatte, und sie hatte sich selbst noch nicht verziehen, dass sie so leichtgläubig gewesen war. Sie hätte sich denken können, worum es bei dieser Sache wirklich ging, denn sie wusste, dass er nicht so unschuldig war, wie es den Anschein hatte, doch der Gedanke, dass er so dumm sein könnte, Geld für seine Dienste zu nehmen, war ihr gar nicht gekommen.
Sie strich sich die Locken glatt und zog die Kappe darüber. Sie war es leid, Dillons Fehler immer wieder auszubügeln, es ihm immer wieder leicht zu machen, aber …
Sie seufzte. Sie würde auch weiterhin Dillon beschützen, denn die Alternative wäre, den General aufzuregen. Und Aufregung war nicht gut für ihn, das hatte Dr. Thurgood ziemlich deutlich gemacht. Ihm seine Ruhe zu verschaffen war auch eine Möglichkeit, wie sie all das wieder gutmachen konnte, was er ihr gegeben hatte.
Ein Zuhause – einen sicheren Ort, an dem sie aufwachsen konnte, eine ruhige Hand, ein noch ruhigeres Herz und ein unerschütterliches Vertrauen in sie.
Sie war als verwirrtes, sieben Jahre altes Kind nach Hillgate End gekommen, das ganz plötzlich allein in der Welt stand. Ihre Tante Scroggs, bei der ihre Eltern sie in London gelassen hatten, war nicht bereit gewesen, sie noch länger zu behalten, als es sich herausgestellt hatte, dass aus einer augenblicklichen Verlegenheit ein längerer Aufenthalt werden musste. Niemand hatte sie haben wollen, bis ganz plötzlich aus dem Nichts der General aufgetaucht war, ein entfernter Verwandter ihres Vaters. Er hatte sie freundlich angelächelt und sie mit zu sich nach Hause genommen.
Auf das Land, wo sie am liebsten war, in die Nähe von Pferden – ihren Lieblingstieren.
Nach Hillgate End zu kommen hatte ihr Leben von Grund auf verändert, alles war viel besser geworden. Auch wenn sie nicht arm gewesen war, wer konnte wissen, wie ihr Leben ohne die Freundlichkeit des Generals, ohne seine Fürsorge verlaufen wäre? Sie verdankte es dem General, dass sie hier gelandet war und ein glückliches Leben gehabt hatte und dass ihr alle Möglichkeiten offen standen. Sie schuldete ihm sehr viel.
Sie holte tief Luft und trat aus dem Schuppen. Dillon wartete bereits; er hielt den alten Gaul, der gesattelt und aufgezäumt war, in der Nähe des umgestürzten Baumstammes, den sie immer benutzte, um auf das Pferd zu steigen. Flick betrachtete ihn, als sie über den Hof ging, doch sie weigerte sich, seinem Blick zu begegnen. Trotz ihrer Zuneigung zu dem General ertrug sie Dillon im Augenblick nur schwer.
Sie stieg auf den Gaul, griff nach den Zügeln und ritt ohne ein Wort davon.
Wenigstens Demon hatte die Wahrheit aus Dillon herausbekommen. Auch wenn sie sich dumm vorkam, weil sie die Widersprüche in Dillons Erzählung nicht bemerkt hatte, so konnte sie doch froh sein, dass Demon sich eingemischt hatte. Seit er sich einverstanden erklärt hatte zu helfen, trotz seiner lächerlichen Beharrlichkeit, sie zu beobachten, hatte sie das Gefühl, die Last auf ihren Schultern sei ein wenig leichter geworden. Er war da, teilte diese Last mit ihr und tat alles, genau wie sie, um dem General Kummer zu ersparen. Und das war eine deutliche Erleichterung für sie.
Als sie den Weg erreicht hatte, drängte sie den Gaul in einen langsamen Trab. Im Stall hatte einer der Jungen bereits The Flynn gesattelt. Sie überprüfte die Sattelgurte und stieg dann mithilfe des Jungen auf den Rücken des Pferdes. Das Tier war bereits an sie gewöhnt und kannte ihre Stimme, und sie brauchte es nur ein wenig zu ermuntern, damit es lostrabte.
Carruthers wartete schon auf sie. »Reite eine lange Strecke langsam, dann gehst du in einen sanften Trab über, mindestens sechs Meilen, dann reite wieder langsam und bring ihn zurück.«
Flick nickte, dann zog sie die Zügel an. Die Arbeit am Nachmittag war immer einfach; nicht jeder Trainer machte sich so viel Mühe mit den Tieren.
Sie ritt zusammen mit den anderen, lauschte dem Geplauder der Jungen und der anderen Reiter um sie herum und suchte mit ihren Blicken die Heide ab, wo die Zuschauer und auch die Wettberater, die für die Buchmacher oder auch für private Kunden unterwegs waren, sich versammelt hatten.
Wie immer war sie die Letzte, die ihr Pferd zurück zum Stall lenkte, also konnte sie sehr gut beobachten, ob irgendein Außenseiter versuchte, mit einem der Reiter zu reden. Doch niemand fiel ihr auf, niemand näherte sich einem der Reiter in Demons Gruppe und auch nicht den Jungen aus den anderen Ställen.
Enttäuscht stellte sie sich die Frage, ob sie wohl je etwas Nützliches hören oder sehen würde. Sie glitt aus dem Sattel, und der Junge führte The Flynn weg. Nach einem Augenblick folgte sie ihm.
Sie half dem Jungen, The Flynn abzusatteln, dann überließ sie ihm das Säubern des Troges, während sie Futter und dann auch Wasser holte. Der Junge ging weiter zum nächsten Pferd, um das er sich kümmern musste. Flick seufzte, und The Flynn wandte seinen großen Kopf und stieß sie mit den Nüstern an.
Sie lächelte ein wenig schief und tätschelte seine Nase. Aus einem Impuls heraus kletterte sie auf die Wand der Box und lehnte die Schulter gegen die Außenwand. Sie blickte über die Boxen und hörte den gemurmelten Unterhaltungen zu – die meisten der Jungen unterhielten sich leise mit den Pferden.
The Flynn stieß die Nüstern gegen ihr Bein, sie murmelte ihm leise Worte zu und lächelte, als er mit dem Kopf nickte.
»Oh, um Himmels willen – verschwinde! Ich will gar nicht hören, was du zu sagen hast, also hau endlich ab.«
Flick reckte sich so plötzlich, dass sie beinahe von der Wand heruntergefallen wäre. Die Worte waren so deutlich – und dann wurde ihr klar, dass sie sie durch die Mauer des Stalles hörte. Derjenige, der sie ausgesprochen hatte – sie erkannte die wohlklingende Stimme eines der besten Rennjockeys -, war draußen.
»Nun, nun. Wenn du mich nur ausreden lassen würdest …«
»Ich habe dir gesagt – ich will von dir gar nichts hören! Und jetzt verschwinde, ehe ich dir den alten Carruthers auf den Hals hetze!«
»Es ist immerhin dein Verlust.«
Der zweite Mann hatte eine sehr kratzige Stimme, die verstummte.
Flick kletterte von der Wand herunter, rannte durch den Stall und wich den Jungen mit den Eimern mit Wasser und dem Futter aus. Die Jungen fluchten, doch sie blieb nicht stehen. Sie erreichte die Tür und schaute vorsichtig nach draußen.
Eine große Gestalt in einem alten dicken Mantel verschwand am Rande der Heide. Der Mann hatte eine Kappe tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Sie konnte nicht mehr sehen, als auch Dillon gesehen hatte.
Der Mann verschwand in Richtung Stadt.
Einen Augenblick lang stand Flick auf dem Vorhof des Stalles und überlegte, welche Möglichkeiten sie hatte. Dann wirbelte sie herum und eilte in den Stall zurück.
 
Demon kam am Ende des Arbeitstages in den Stall geschlendert. Sanftes Schnauben und leises Wiehern drangen an seine Ohren, während die Stalljungen ihre Schützlinge in den Boxen versorgten. Der Geruch nach Pferden lag schwer in der Luft, doch das bemerkte Demon kaum. Was er allerdings bemerkte, war der alte Gaul, der ruhig in einer Ecke des Stalles döste, ein paar Hände voll Heu lagen vor ihm, und ein Eimer mit Wasser stand daneben. Demon blickte nach rechts und nach links und ging dann den Gang zwischen den Boxen entlang.
Vor der Box von The Flynn blieb er stehen, das große Pferd war versorgt und fraß zufrieden sein Heu. Er ging weiter und entdeckte Carruthers, der die Hufe eines Fohlens untersuchte.
»Wo ist Flick?«
Carruthers sah ihn an, dann schnaufte er verächtlich. »Der ist schon weg. Und er hatte es sehr eilig. Er hat sogar seinen Gaul hier gelassen – hat gesagt, er würde ihn später abholen.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Huf, den er untersuchte.
Demon hielt sich zurück. »Hat er sonst noch etwas gesagt?«
»Nee!« Mit einer schnellen Bewegung zog Carruthers einen Stein aus dem Huf. »Er ist genau wie all die anderen Jungen auch, er konnte es nicht abwarten, in den Swan zu kommen, zu einem Glas Bier.«
»In den Swan?«
»Oder ins Bells.« Carruthers gab das Bein des Pferdes wieder frei und richtete sich auf. »Wer kennt sich schon aus mit diesen jungen Kerlen heutzutage?«
Demon zögerte. Carruthers beobachtete, wie das Fohlen den Fuß auf den Boden stellte. »Flick ist also in die Stadt gegangen?«
»Aye, das habe ich doch gesagt. Normalerweise reitet er nach Hause nach Lidgate, ganz ruhig, aber heute wollte er so schnell wie möglich in die Stadt.«
»Wie lange ist er denn schon weg?«
Carruthers zuckte mit den Schultern. »Zwanzig Minuten.«
Demon unterdrückte einen Fluch, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Stall.
Er fand Flick weder im Swan noch im Bells, beides waren anständige Lokale. Er entdeckte sie in einem verräucherten Nebenzimmer im Fox and Hen, einer zwielichtigen Taverne in einer schmalen Seitenstraße. Sie saß mit einem vollen Glas in einer Ecke, umgeben von Bier trinkenden brutalen Kerlen, die dreimal so groß waren wie sie.
Sie versuchte, nicht aufzufallen. Gott sei Dank war ein Dartspiel in vollem Gang, und viele der Gäste kamen erst jetzt in das Lokal. Die meisten von ihnen waren abgelenkt und hatten sich noch nicht umgesehen.
Demon biss die Zähne zusammen, holte sich einen Krug Bier von dem überarbeiteten Barmann und ging durch den Raum. Seine Größe, die durch den schweren Mantel noch mehr beeindruckte, machte es ihm leicht, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. Es gab auch noch andere Männer seines Standes in diesem Lokal, Gentlemen, die mit den einfachen Leuten auf Du und Du standen und die Gesellschaft von spärlich bezahlten Beamten und dem Gesindel der Rennbahnen suchten, daher erregte seine Anwesenheit keine unnötige Aufmerksamkeit.
Als er den Tisch in der Ecke erreicht hatte, vermied er den Blick aus Flicks großen Augen. Mit einem lauten Geräusch stellte er seinen Krug Bier auf den Tisch, dann setzte er sich ihr gegenüber. Erst jetzt sah er sie an. »Was, zum Teufel, tust du hier?«
Sie warf ihm einen bösen Blick zu, dann schaute sie zum Tisch neben ihnen und wieder zu ihm zurück.
Demon hob lässig seinen Krug, nippte an dem Bier und warf dann einen schnellen Blick zu dem Tisch neben dem ihren. Zwei Männer saßen dort, jeder hatte einen Krug Bier vor sich stehen. Sie beobachteten beide das Dartspiel, und als Demon sich wieder abwandte, blickten sie vor sich auf den Tisch und nahmen ihre Unterhaltung wieder auf.
Demon sah, dass sich Flicks Augen weiteten. Sie beugte sich zu ihm vor. »Hör zu«, flüsterte sie.
Es dauerte einen Augenblick, ehe er sich über die allgemeine Geräuschkulisse hinweg auf die Unterhaltung konzentrieren konnte, doch als es ihm gelang, konnte er die beiden Männer deutlich verstehen.
»Also, über welches Pferd und welches Rennen reden wir hier überhaupt?« Der Mann, der diese Worte ausgesprochen hatte, war ein Jockey, einer, der noch nie für Demon geritten war und den er nur flüchtig vom Sehen kannte. Er bezweifelte, dass der Jockey von ihm mehr wusste als nur seinen Namen, doch er wandte sein Gesicht ab.
»Ich habe gehört, dass du in ein paar Wochen Rowena in dem Nell Gwyn Stakes reiten sollst.«
Die Stimme des zweiten Mannes war tief und rau und über den anderen Unterhaltungen in dem Raum deutlich zu verstehen. Demon hob den Blick und schaute Flick an, sie nickte nur und richtete dann ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Nachbarn.
Der Jockey trank einen großen Schluck aus seinem Krug, dann stellte er ihn auf den Tisch zurück. »Aye – das ist richtig. Wo hast du das denn gehört? Das ist doch noch gar nicht bekannt.«
»Wo ich das gehört habe, tut nichts zur Sache – du solltest dich lieber darauf konzentrieren, dass dir eine Chance geboten wird, weil ich es gehört habe.«
»Eine Chance, sagst du?« Der Jockey trank noch einen großen Schluck von seinem Bier. »Von wie viel sprichst du?«
»Von zweihundert bei Lieferung.«
Lauter Jubel kam von den Dartspielern, und beide Männer blickten auf. Demon warf Flick einen schnellen Blick zu, die mit weit aufgerissenen Augen den Mann beobachtete – den Kontaktmann. Unter dem Tisch stieß er sie gegen das Bein. Sie sah ihn an, und er beugte sich zu ihr vor. »Wenn du nicht aufhörst, ihn so anzustarren, wird er es bemerken.«
Sie sah Demon aus zusammengezogenen Augen an, dann senkte sie den Blick auf ihr Bier – das sie noch nicht angerührt hatte. Wieder ertönte lauter Jubel von den Dartspielern, alle sahen hin, sogar Flick. Schnell tauschte Demon ihre Krüge aus, seinen halb vollen Krug stellte er vor sie hin. Dann hob er ihren Krug hoch und trank ihn halb leer. Das Gebräu im Fox and Hen ließ zu wünschen übrig, doch in der Mitte dieser Menschenmenge zu sitzen und seinen Krug mehr als fünf Minuten nicht anzurühren würde nur ungewollte Aufmerksamkeit erregen.
Das Dartspiel war zu Ende. Der Jubel verklang, und alle wandten sich wieder ihren Getränken und der Unterhaltung zu.
Der Jockey schaute in seinen Krug, als könne er darin eine Lösung finden. »Zweihundertfünfzig.«
»Zweihundertfünfzig?« Der Kontaktmann schnaubte verächtlich. »Du bist ziemlich überzeugt von dir selbst, mein Junge.«
Der Gesichtsausdruck des Jockeys wurde hart. »Zweihundertfünfzig. Ich bin derjenige, der bei diesem Rennen auf dem Rücken von Rowena sitzt, und sie ist in diesem Rennen der Favorit. Die Wetten werden hoch sein – sehr hoch sogar. Wenn du sie nicht als Gewinner sehen willst, dann kostet dich das zweihundertfünfzig.«
»Hm.« Jetzt war es der Kontaktmann, der nachdenklich in seinen Bierkrug schaute. »Zweihundertfünfzig? Wenn du zweihundertfünfzig haben willst, dann musst du dafür sorgen, dass sie nicht einmal auf einen vorderen Platz kommt.«
»Nee.« Der Jockey schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Wenn sie nicht unter die Ersten kommt, dann werden die Aufseher hinter mir her sein, und das wäre die Sache nicht wert. Ich werde für dich nicht meine Lizenz aufs Spiel setzen. Wenn ich sie als Zweite ins Ziel bringe … nun ja, das kann ich tun, aber nur, weil Cynster ein ausgezeichnetes Stutfohlen im Rennen eingesetzt hat. Rowena ist zwar besser, aber ich kann dafür sorgen, dass sie hinter dem Pferd von Cynster ins Ziel kommt, und es wird so aussehen, als ob alles in Ordnung wäre. Aber falls es nicht noch einen anderen Teilnehmer an diesem Rennen gibt, den wir bis jetzt noch nicht gesehen haben, sind diese beiden die einzig möglichen Gewinner. Auf keinen Fall kann ich dafür sorgen, dass Rowena nicht unter die ersten Plätze kommt.«
Der Kontaktmann runzelte die Stirn, dann trank er seinen Krug leer. »Also gut.« Er sah dem Jockey in die Augen. »Zweihundertfünfzig dafür, dass sie nicht gewinnt – einverstanden?«
Der Jockey zögerte, doch dann nickte er. »Einverstanden.«
»Aaargh!« Ein lauter Schrei übertönte den Lärm. Alle wandten sich um und entdeckten einen wütenden, brutalen Kerl, der gerade seinem Nachbarn einen Bierkrug auf dem Kopf zertrümmerte. Der Krug zerbrach, und das Opfer sank zu Boden. Von irgendwoher kam eine Faust, und der Angreifer verlor das Gleichgewicht.
Und dann ging es los.
Alle sprangen auf, Stühle fielen um, Bierkrüge flogen durch die Luft. Alle gingen aufeinander los, einige Männer stürzten zu Boden. Von einem Augenblick zum anderen wurde das Durcheinander immer größer, weil mehr und mehr Gäste sich in den Streit einmischten.
Demon wirbelte herum. Flick war aufgesprungen und sah sich mit großen Augen um. Mit einem Fluch stieß er die beiden Krüge vom Tisch und kippte den Tisch um. Dann packte er Flick an der Schulter. »Ducke dich!«
Er zwang sie hinter die provisorische Barrikade, legte eine Hand auf ihren Kopf und drückte sie nach unten. »Bleib hier!«
In dem Augenblick, als er die Hand wegnahm, hob Flick den Kopf. Er fluchte und griff nach ihr, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.
Er wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um dem Schlag einer großen Faust zu entgehen. Die Faust traf ihn am Kinn – und sein Temperament ging mit ihm durch. Als er die Balance wieder gefunden hatte, schlug er seinem Angreifer die Faust in den Magen, dann setzte er noch eine gerade Rechte auf sein Kinn.
Der riesige Schläger schwankte zur Seite, dann fing er sich wieder, nur um inmitten der anderen Streitenden zu Boden zu gehen.
»Demon!«
Er duckte sich und warf seinen nächsten Angreifer zu Boden, wich schnell zur Seite, und der Schläger landete an der Mauer hinter Flick und fiel nicht auf sie.
Ein Mietkutscher löste sich aus dem allgemeinen Durcheinander und kam auf Demon zu. Der Mann sah ihm in die Augen und blieb dann wie angewurzelt stehen, schwankte, dann wandte er sich um und stürzte sich wieder in das allgemeine Durcheinander von Körpern und fliegenden Fäusten.
»Hört auf, ihr Halunken!« Der Barmann sprang über die Theke und ging mit einem Reisigbesen auf die Prügelnden los. Doch er hatte keinen Erfolg. Die Männer waren schon viel zu sehr in ihren Streit verwickelt und genossen ihn offensichtlich.
Demon sah sich um. Die einzige Tür lag auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, hinter der Menge der Kämpfenden, doch in der Wand zu ihrer Linken gab es zwei schmutzige Fenster. Er schob Tische und Stühle beiseite und erreichte schließlich das erste der beiden Fenster, mühte sich mit dem Verschluss ab und atmete erleichtert auf, als sich nach ein paar vergeblichen Versuchen das Fenster öffnete.
Er wandte sich um, packte Flick am Kragen, zerrte sie aus ihrem Versteck und schob sie durch das Fenster. Sie versuchte hinauszuklettern, doch er hatte sie von hinten gepackt, obwohl sie wütend zischte und nach seinen Händen schlug. Auf halbem Weg zögerte sie, um sich zu entscheiden, wohin sie die Füße setzen sollte, doch er legte eine Hand auf ihren Po und schob weiter.
Sie landete auf allen vieren im Gras.
Flick zog scharf den Atem ein, ein Fluch lag ihr auf der Zunge, doch sie hatte nicht genug Atem, um ihn auszustoßen. Ihr Po brannte, und ihre Wangen hatten sich gerötet. Sie warf einen Blick zurück zum Fenster. Demon war schon zur Hälfte hindurchgeklettert. Sie fluchte leise und kam wieder auf die Beine, wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab – dabei wagte sie es nicht, ihren Po zu berühren.
Das andere Fenster flog auf, und ein paar Männer kletterten nach draußen. Demon tauchte plötzlich neben ihr auf, packte sie am Ellbogen und schob sie von dem Haus weg, während immer mehr Männer auf diesem Fluchtweg das Lokal verließen. Ein Obstgarten grenzte an das Haus – und Demon in ihrem Rücken, lief Flick zwischen den Bäumen hindurch. Es wurde immer dunkler. Hinter ihnen hörten sie Rufe durch die offenen Fenster, dann ertönte der laute Pfiff eines Polizisten. Flick warf einen Blick zurück: Noch immer kletterten Männer durch die Fenster und liefen durch den Obstgarten davon.
»Komm schon!« Demon packte ihre Hand. Er übernahm die Führung, und sie musste sich anstrengen, mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, doch er warf ihr einen bösen Blick zu, packte ihre Hand noch fester und rannte dann noch schneller. Flick fluchte. Demon musste es gehört haben, doch er ließ sich nichts anmerken. Er zerrte sie weiter, lief bis zum Ende des Obstgartens, der von einer zwei Meter hohen Mauer eingeschlossen war.
Demon ließ Flicks Hand los, während andere Männer sie einholten und sofort begannen, über die Mauer zu klettern. Flick warf einen skeptischen Blick auf die Mauer. »Gibt es irgendwo ein Tor?«, fragte sie.
Er deutete mit dem Kopf auf die anderen Männer, die die Mauer überkletterten. »Sieht nicht so aus.« Er zögerte, dann trat er näher an die Mauer. »Komm schon – ich helfe dir rüber.«
Er lehnte sich gegen die Mauer und verschränkte die Hände. Mit einer Hand hielt sich Flick an der Mauer fest, die andere legte sie auf seine Schulter, dann stellte sie einen Fuß in seine Hände, und er hob sie hoch. Es hätte einfach sein sollen, denn der Rücken von The Flynn war beinahe genauso hoch wie die Mauer. Doch die Mauer war hart und schmal, nicht so glatt wie ein Sattel. Es gelang ihr, halb über die Mauer zu klettern, ihr Oberkörper war auf der einen, die Beine auf der anderen Seite der Mauer.
Sie stützte sich auf die Arme, reckte sich und suchte mit den Füßen nach einem Halt. Doch wenn sie sich zu sehr reckte, riskierte sie es, hinunterzufallen, und wenn sie sich nicht genug reckte, fand sie keinen Halt für ihre Füße. Wie eine Wippe hing sie zu beiden Seiten der Mauer herab.
Unter sich hörte sie einen erschöpften Seufzer.
Wieder legte sich Demons Hand auf ihren Po und schob sie hoch. So verlegen war sie noch nie zuvor in ihrem Leben gewesen, ihre Wangen brannten, und sie schwang schnell ein Bein über die Mauer.
Und dann versuchte sie, zu Atem zu kommen.
Demon zog sich neben ihr auf die Mauer. Dann saß er rittlings darauf, betrachtete sie eingehend, schwang das zweite Bein über die Mauer und ließ sich nach unten fallen.
Flick atmete tief ein, dann schwang sie das andere Bein ebenfalls über die Mauer, rückte ein Stück vor und sprang hinunter – ehe er sich gezwungen fühlte, ihr noch einmal zu helfen. Sie richtete sich auf, klopfte sich die Hände ab und fühlte seinen abschätzenden Blick auf ihrem Körper.
Sie hob den Kopf und hielt seinem Blick stand, bereit zum Kampf.
Doch er stieß nur ein unwilliges Geräusch aus und deutete mit der Hand die Straße hinunter.
Sie ging neben ihm her die Straße entlang. Es waren viel zu viele andere Menschen unterwegs, um eine Unterhaltung riskieren zu können. Als sie an der Einmündung der Straße ankamen, griff Demon nach ihrem Ellbogen und schob sie in die Straße, die zur High Street führte. »Ich habe meinen Wagen im Jockey Club gelassen.«
Sie änderten noch einmal die Richtung und ließen schließlich die anderen hinter sich.
»Du solltest mir eine Nachricht schicken, sobald du etwas erfahren hast.«
Seine Worte hatte er leise flüsternd ausgesprochen, er schien sich nur mühsam zurückzuhalten.
»Das hätte ich auch getan«, entgegnete sie, »wenn ich erst einmal die Möglichkeit gehabt hätte. Aber wen hätte ich schon aus dem Stall zu dir schicken können? Carruthers?«
»Beim nächsten Mal überbringst du mir die Nachricht selbst, wenn du niemand anderen findest.«
»Und verpasse die Möglichkeit, noch mehr herauszufinden – wie heute?«
»Ach ja. Heute. Und wie, stellst du dir vor, hättest du überlebt, wenn ich nicht rechtzeitig gekommen wäre?«
Sie betrachtete ein kleines Haus an der Straße.
»Hm, mal sehen.«
Seine sanfte Stimme ging ihr unter die Haut. Flick widerstand dem Wunsch, abweisend zu reagieren.
»Zunächst ist da einmal die Frage, ob du überhaupt der allgemeinen Aufmerksamkeit entgangen wärst, abgesehen von der Prügelei. Immerhin hast du dir ein Bier bestellt und konntest es nicht trinken. Deine Verkleidung wäre wohl sehr schnell aufgefallen, und allen wäre klar geworden, dass das Mündel des Generals, Miss Felicity Parteger, sich in einer Kaschemme in Newmarket herumtreibt, gekleidet wie ein Junge.«
»Es war ein Gasthaus, keine Kaschemme.«
»Für eine Lady ist dieser Unterschied ganz besonders wichtig.«
Flick brummte unwillig.
»Und was wäre wohl geschehen, wenn du die Prügelei überstanden hättest, ohne bewusstlos geschlagen zu werden, und dann in den Armen der Polizei gelandet wärst? Man kann sich nur fragen, was sie wohl mit dir angestellt hätten.«
»Das werden wir wohl nie wissen«, zischte Flick. »Das Wichtigste ist doch wohl, dass wir Dillons Kontaktmann identifiziert haben. Hast du gesehen, wohin er verschwunden ist?«
»Nein.«
Sie blieb stehen. »Vielleicht sollten wir zurückgehen und …«
Demon ging einfach weiter, griff nach hinten, packte sie am Arm und zerrte sie mit sich, sodass sie neben ihm hergehen musste. »Du wirst niemandem folgen, nirgendwohin.« Der Blick, mit dem er sie bedachte, war selbst in der Dämmerung gefährlich. »Für den Fall, dass es dir entgangen sein sollte: Einem solchen Mann in sein Stammlokal zu folgen ist für eine vornehme Frau sehr gefährlich.«
Seine abgehackte Stimme gab seinen Worten einen ungewohnten Unterton. Als sie in die High Street einbogen, hob Flick hochmütig die Nase. »Du hattest die Möglichkeit, ihn dir genauer anzusehen, und das habe ich auch getan. Wir sollten in der Lage sein, ihn wieder zu finden, und dann können wir auch herausbekommen, für wen er arbeitet, und dieses ganze Durcheinander klären. Das war unsere erste wichtige Entdeckung heute.«
Nach einem Augenblick seufzte er. »Ja, du hast Recht. Aber überlasse mir die nächsten Schritte – oder vielmehr Gillies. Ich werde ihn beauftragen, durch die Gasthäuser und die Tavernen zu ziehen – unser Mann muss in einem davon untergekommen sein.«
Demon blickte auf, als sie die High Street überquerten und vor dem Jockey Club ankamen. Unter den wachsamen Augen eines Wachmannes waren seine Pferde an einem Baum angebunden. »Steig ein. Ich werde dich zurück zum Stall fahren.«
Flick ging hinüber zu dem Zweispänner und kletterte hinein. Demon sprach noch kurz mit dem Wachmann, dann kam er zurück, löste die Leine und setzte sich auf den Kutschersitz. Er lenkte die Pferde zuerst rückwärts, dann trieb er sie mit einer leichten Bewegung des Zügels an.
Während sie die High Street hinunterfuhren, legte Flick den Kopf ein wenig schief. »Und du wirst mir sofort Bescheid sagen, wenn Gillies etwas herausfindet?«
Demon griff nach seiner Peitsche. Das schwarze Lederband flog nach vorn und berührte die Ohren seines Leitpferdes. Die Pferde liefen mit kraftvollen Schritten schneller. Der Zweispänner schoss nach vorn.
Flick hielt sich an der Seite fest und unterdrückte einen Fluch.
Die Peitschenschnur zuckte zurück, und der Wagen holperte weiter.
Ohne ein weiteres Wort fuhr Demon zum Stall.