4
Die nächsten Tage
vergingen ohne jeden Zwischenfall. Flick unterdrückte ihre Ungeduld
und beobachtete beharrlich alles, lauschte jeder Unterhaltung. Sie
ritt am Morgen und auch am Nachmittag, jeden Tag, dann blieb sie
jeden Morgen, solange sie konnte, im Stall und zögerte am Abend das
Nachhausegehen hinaus, bis alle anderen gegangen waren. Nach drei
Tagen war der einzige Verdächtige, den sie entdecken konnte, der
Cousin eines der Stalljungen, der zu Besuch aus dem Norden gekommen
war. Und die einzige verdächtige Unterhaltung, die sie mitbekommen
hatte, drehte sich um die Aktivitäten einer rothaarigen
Barfrau.
Wie Demon es gesagt
hatte, hatte er jeden Tag gewissenhaft das Training beobachtet –
und auch sie hatte er eingehend betrachtet. Das Gefühl, seine
Blicke zu spüren, wuchs von Tag zu Tag. Sie hatte erleichtert
aufgeseufzt, als sie an einem Morgen gehört hatte, wie er
Carruthers sagte, dass er den Nachmittag damit verbringen wollte,
sich in den anderen Ställen umzusehen, um die Konkurrenz
abzuschätzen.
Um drei Uhr verließ
sie den General, der über seinen Büchern saß und döste, und ritt
auf Jessamy zu dem heruntergekommenen Häuschen – Felicity in ihrem
blauen Reitkleid aus Samt. Sie fühlte sich nicht länger ängstlich,
sondern war wesentlich selbstsicherer, und sie fürchtete sich nicht
mehr vor dem, was ihr im Stall begegnen würde.
Dillon stand auf der
Lichtung, als sie herangeritten kam, der alte Gaul graste in der
Nähe. Sie zog die Zügel an und glitt aus dem Sattel, wandte sich um
und ging in das Haus – ohne Dillon auch nur einen Blick zuzuwerfen.
Er würde den Gaul satteln und würde Jessamy den Sattel abgenommen
haben, wenn sie wieder aus dem Haus kam.
Seit sie die ganze
Wahrheit erfahren hatte, hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen.
Immer wenn sie zu dem Haus kam, versuchte er, ihre Blicke auf sich
zu ziehen, er lächelte und wollte sie wieder friedlich
stimmen.
Während Flick ihr
Samtkleid auszog, stieß sie ein unwilliges Geräusch aus. Dillon war
äußerst vorsichtig in ihrer Nähe, und so konnte es ruhig noch eine
Weile weitergehen. Sie hatte ihm noch nicht verziehen, dass er sie
belogen hatte, und sie hatte sich selbst noch nicht verziehen, dass
sie so leichtgläubig gewesen war. Sie hätte sich denken können,
worum es bei dieser Sache wirklich ging, denn sie wusste, dass er
nicht so unschuldig war, wie es den Anschein hatte, doch der
Gedanke, dass er so dumm sein könnte, Geld für seine Dienste zu
nehmen, war ihr gar nicht gekommen.
Sie strich sich die
Locken glatt und zog die Kappe darüber. Sie war es leid, Dillons
Fehler immer wieder auszubügeln, es ihm immer wieder leicht zu
machen, aber …
Sie seufzte. Sie
würde auch weiterhin Dillon beschützen, denn die Alternative wäre,
den General aufzuregen. Und Aufregung war nicht gut für ihn, das
hatte Dr. Thurgood ziemlich deutlich gemacht. Ihm seine Ruhe zu
verschaffen war auch eine Möglichkeit, wie sie all das wieder
gutmachen konnte, was er ihr gegeben hatte.
Ein Zuhause – einen
sicheren Ort, an dem sie aufwachsen konnte, eine ruhige Hand, ein
noch ruhigeres Herz und ein unerschütterliches Vertrauen in
sie.
Sie war als
verwirrtes, sieben Jahre altes Kind nach Hillgate End gekommen, das
ganz plötzlich allein in der Welt stand. Ihre Tante Scroggs, bei
der ihre Eltern sie in London gelassen hatten, war nicht bereit
gewesen, sie noch länger zu behalten, als es sich herausgestellt
hatte, dass aus einer augenblicklichen Verlegenheit ein längerer
Aufenthalt werden musste. Niemand hatte sie haben wollen, bis ganz
plötzlich aus dem Nichts der General aufgetaucht war, ein
entfernter Verwandter ihres Vaters. Er hatte sie freundlich
angelächelt und sie mit zu sich nach Hause genommen.
Auf das Land, wo sie
am liebsten war, in die Nähe von Pferden – ihren
Lieblingstieren.
Nach Hillgate End zu
kommen hatte ihr Leben von Grund auf verändert, alles war viel
besser geworden. Auch wenn sie nicht arm gewesen war, wer konnte
wissen, wie ihr Leben ohne die Freundlichkeit des Generals, ohne
seine Fürsorge verlaufen wäre? Sie verdankte es dem General, dass
sie hier gelandet war und ein glückliches Leben gehabt hatte und
dass ihr alle Möglichkeiten offen standen. Sie schuldete ihm sehr
viel.
Sie holte tief Luft
und trat aus dem Schuppen. Dillon wartete bereits; er hielt den
alten Gaul, der gesattelt und aufgezäumt war, in der Nähe des
umgestürzten Baumstammes, den sie immer benutzte, um auf das Pferd
zu steigen. Flick betrachtete ihn, als sie über den Hof ging, doch
sie weigerte sich, seinem Blick zu begegnen. Trotz ihrer Zuneigung
zu dem General ertrug sie Dillon im Augenblick nur
schwer.
Sie stieg auf den
Gaul, griff nach den Zügeln und ritt ohne ein Wort
davon.
Wenigstens Demon
hatte die Wahrheit aus Dillon herausbekommen. Auch wenn sie sich
dumm vorkam, weil sie die Widersprüche in Dillons Erzählung nicht
bemerkt hatte, so konnte sie doch froh sein, dass Demon sich
eingemischt hatte. Seit er sich einverstanden erklärt hatte zu
helfen, trotz seiner lächerlichen Beharrlichkeit, sie zu
beobachten, hatte sie das Gefühl, die Last auf ihren Schultern sei
ein wenig leichter geworden. Er war da, teilte diese Last mit ihr
und tat alles, genau wie sie, um dem General Kummer zu ersparen.
Und das war eine deutliche Erleichterung für sie.
Als sie den Weg
erreicht hatte, drängte sie den Gaul in einen langsamen Trab. Im
Stall hatte einer der Jungen bereits The Flynn gesattelt. Sie
überprüfte die Sattelgurte und stieg dann mithilfe des Jungen auf
den Rücken des Pferdes. Das Tier war bereits an sie gewöhnt und
kannte ihre Stimme, und sie brauchte es nur ein wenig zu ermuntern,
damit es lostrabte.
Carruthers wartete
schon auf sie. »Reite eine lange Strecke langsam, dann gehst du in
einen sanften Trab über, mindestens sechs Meilen, dann reite wieder
langsam und bring ihn zurück.«
Flick nickte, dann
zog sie die Zügel an. Die Arbeit am Nachmittag war immer einfach;
nicht jeder Trainer machte sich so viel Mühe mit den
Tieren.
Sie ritt zusammen
mit den anderen, lauschte dem Geplauder der Jungen und der anderen
Reiter um sie herum und suchte mit ihren Blicken die Heide ab, wo
die Zuschauer und auch die Wettberater, die für die Buchmacher oder
auch für private Kunden unterwegs waren, sich versammelt
hatten.
Wie immer war sie
die Letzte, die ihr Pferd zurück zum Stall lenkte, also konnte sie
sehr gut beobachten, ob irgendein Außenseiter versuchte, mit einem
der Reiter zu reden. Doch niemand fiel ihr auf, niemand näherte
sich einem der Reiter in Demons Gruppe und auch nicht den Jungen
aus den anderen Ställen.
Enttäuscht stellte
sie sich die Frage, ob sie wohl je etwas Nützliches hören oder
sehen würde. Sie glitt aus dem Sattel, und der Junge führte The
Flynn weg. Nach einem Augenblick folgte sie ihm.
Sie half dem Jungen,
The Flynn abzusatteln, dann überließ sie ihm das Säubern des
Troges, während sie Futter und dann auch Wasser holte. Der Junge
ging weiter zum nächsten Pferd, um das er sich kümmern musste.
Flick seufzte, und The Flynn wandte seinen großen Kopf und stieß
sie mit den Nüstern an.
Sie lächelte ein
wenig schief und tätschelte seine Nase. Aus einem Impuls heraus
kletterte sie auf die Wand der Box und lehnte die Schulter gegen
die Außenwand. Sie blickte über die Boxen und hörte den gemurmelten
Unterhaltungen zu – die meisten der Jungen unterhielten sich leise
mit den Pferden.
The Flynn stieß die
Nüstern gegen ihr Bein, sie murmelte ihm leise Worte zu und
lächelte, als er mit dem Kopf nickte.
»Oh, um Himmels
willen – verschwinde! Ich will gar nicht hören, was du zu sagen
hast, also hau endlich ab.«
Flick reckte sich so
plötzlich, dass sie beinahe von der Wand heruntergefallen wäre. Die
Worte waren so deutlich – und dann wurde ihr klar, dass sie sie
durch die Mauer des Stalles hörte. Derjenige, der sie ausgesprochen
hatte – sie erkannte die wohlklingende Stimme eines der besten
Rennjockeys -, war draußen.
»Nun, nun. Wenn du
mich nur ausreden lassen würdest …«
»Ich habe dir gesagt
– ich will von dir gar nichts hören! Und jetzt verschwinde, ehe ich
dir den alten Carruthers auf den Hals hetze!«
»Es ist immerhin
dein Verlust.«
Der zweite Mann
hatte eine sehr kratzige Stimme, die verstummte.
Flick kletterte von
der Wand herunter, rannte durch den Stall und wich den Jungen mit
den Eimern mit Wasser und dem Futter aus. Die Jungen fluchten, doch
sie blieb nicht stehen. Sie erreichte die Tür und schaute
vorsichtig nach draußen.
Eine große Gestalt
in einem alten dicken Mantel verschwand am Rande der Heide. Der
Mann hatte eine Kappe tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den
Manteltaschen vergraben. Sie konnte nicht mehr sehen, als auch
Dillon gesehen hatte.
Der Mann verschwand
in Richtung Stadt.
Einen Augenblick
lang stand Flick auf dem Vorhof des Stalles und überlegte, welche
Möglichkeiten sie hatte. Dann wirbelte sie herum und eilte in den
Stall zurück.
Demon kam am Ende
des Arbeitstages in den Stall geschlendert. Sanftes Schnauben und
leises Wiehern drangen an seine Ohren, während die Stalljungen ihre
Schützlinge in den Boxen versorgten. Der Geruch nach Pferden lag
schwer in der Luft, doch das bemerkte Demon kaum. Was er allerdings
bemerkte, war der alte Gaul, der ruhig in einer Ecke des Stalles
döste, ein paar Hände voll Heu lagen vor ihm, und ein Eimer mit
Wasser stand daneben. Demon blickte nach rechts und nach links und
ging dann den Gang zwischen den Boxen entlang.
Vor der Box von The
Flynn blieb er stehen, das große Pferd war versorgt und fraß
zufrieden sein Heu. Er ging weiter und entdeckte Carruthers, der
die Hufe eines Fohlens untersuchte.
»Wo ist
Flick?«
Carruthers sah ihn
an, dann schnaufte er verächtlich. »Der ist schon weg. Und er hatte
es sehr eilig. Er hat sogar seinen Gaul hier gelassen – hat gesagt,
er würde ihn später abholen.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf
den Huf, den er untersuchte.
Demon hielt sich
zurück. »Hat er sonst noch etwas gesagt?«
»Nee!« Mit einer
schnellen Bewegung zog Carruthers einen Stein aus dem Huf. »Er ist
genau wie all die anderen Jungen auch, er konnte es nicht abwarten,
in den Swan zu kommen, zu einem Glas Bier.«
»In den
Swan?«
»Oder ins Bells.«
Carruthers gab das Bein des Pferdes wieder frei und richtete sich
auf. »Wer kennt sich schon aus mit diesen jungen Kerlen
heutzutage?«
Demon zögerte.
Carruthers beobachtete, wie das Fohlen den Fuß auf den Boden
stellte. »Flick ist also in die Stadt gegangen?«
»Aye, das habe ich
doch gesagt. Normalerweise reitet er nach Hause nach Lidgate, ganz
ruhig, aber heute wollte er so schnell wie möglich in die
Stadt.«
»Wie lange ist er
denn schon weg?«
Carruthers zuckte
mit den Schultern. »Zwanzig Minuten.«
Demon unterdrückte
einen Fluch, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den
Stall.
Er fand Flick weder
im Swan noch im Bells, beides waren anständige Lokale. Er entdeckte
sie in einem verräucherten Nebenzimmer im Fox and Hen, einer
zwielichtigen Taverne in einer schmalen Seitenstraße. Sie saß mit
einem vollen Glas in einer Ecke, umgeben von Bier trinkenden
brutalen Kerlen, die dreimal so groß waren wie sie.
Sie versuchte, nicht
aufzufallen. Gott sei Dank war ein Dartspiel in vollem Gang, und
viele der Gäste kamen erst jetzt in das Lokal. Die meisten von
ihnen waren abgelenkt und hatten sich noch nicht
umgesehen.
Demon biss die Zähne
zusammen, holte sich einen Krug Bier von dem überarbeiteten Barmann
und ging durch den Raum. Seine Größe, die durch den schweren Mantel
noch mehr beeindruckte, machte es ihm leicht, sich einen Weg durch
die Menschenmenge zu bahnen. Es gab auch noch andere Männer seines
Standes in diesem Lokal, Gentlemen, die mit den einfachen Leuten
auf Du und Du standen und die Gesellschaft von spärlich bezahlten
Beamten und dem Gesindel der Rennbahnen suchten, daher erregte
seine Anwesenheit keine unnötige Aufmerksamkeit.
Als er den Tisch in
der Ecke erreicht hatte, vermied er den Blick aus Flicks großen
Augen. Mit einem lauten Geräusch stellte er seinen Krug Bier auf
den Tisch, dann setzte er sich ihr gegenüber. Erst jetzt sah er sie
an. »Was, zum Teufel, tust du hier?«
Sie warf ihm einen
bösen Blick zu, dann schaute sie zum Tisch neben ihnen und wieder
zu ihm zurück.
Demon hob lässig
seinen Krug, nippte an dem Bier und warf dann einen schnellen Blick
zu dem Tisch neben dem ihren. Zwei Männer saßen dort, jeder hatte
einen Krug Bier vor sich stehen. Sie beobachteten beide das
Dartspiel, und als Demon sich wieder abwandte, blickten sie vor
sich auf den Tisch und nahmen ihre Unterhaltung wieder
auf.
Demon sah, dass sich
Flicks Augen weiteten. Sie beugte sich zu ihm vor. »Hör zu«,
flüsterte sie.
Es dauerte einen
Augenblick, ehe er sich über die allgemeine Geräuschkulisse hinweg
auf die Unterhaltung konzentrieren konnte, doch als es ihm gelang,
konnte er die beiden Männer deutlich verstehen.
»Also, über welches
Pferd und welches Rennen reden wir hier überhaupt?« Der Mann, der
diese Worte ausgesprochen hatte, war ein Jockey, einer, der noch
nie für Demon geritten war und den er nur flüchtig vom Sehen
kannte. Er bezweifelte, dass der Jockey von ihm mehr wusste als nur
seinen Namen, doch er wandte sein Gesicht ab.
»Ich habe gehört,
dass du in ein paar Wochen Rowena in dem Nell Gwyn Stakes reiten
sollst.«
Die Stimme des
zweiten Mannes war tief und rau und über den anderen Unterhaltungen
in dem Raum deutlich zu verstehen. Demon hob den Blick und schaute
Flick an, sie nickte nur und richtete dann ihre Aufmerksamkeit
wieder auf ihre Nachbarn.
Der Jockey trank
einen großen Schluck aus seinem Krug, dann stellte er ihn auf den
Tisch zurück. »Aye – das ist richtig. Wo hast du das denn gehört?
Das ist doch noch gar nicht bekannt.«
»Wo ich das gehört
habe, tut nichts zur Sache – du solltest dich lieber darauf
konzentrieren, dass dir eine Chance geboten wird, weil ich es
gehört habe.«
»Eine Chance, sagst
du?« Der Jockey trank noch einen großen Schluck von seinem Bier.
»Von wie viel sprichst du?«
»Von zweihundert bei
Lieferung.«
Lauter Jubel kam von
den Dartspielern, und beide Männer blickten auf. Demon warf Flick
einen schnellen Blick zu, die mit weit aufgerissenen Augen den Mann
beobachtete – den Kontaktmann. Unter dem Tisch stieß er sie gegen
das Bein. Sie sah ihn an, und er beugte sich zu ihr vor. »Wenn du
nicht aufhörst, ihn so anzustarren, wird er es
bemerken.«
Sie sah Demon aus
zusammengezogenen Augen an, dann senkte sie den Blick auf ihr Bier
– das sie noch nicht angerührt hatte. Wieder ertönte lauter Jubel
von den Dartspielern, alle sahen hin, sogar Flick. Schnell tauschte
Demon ihre Krüge aus, seinen halb vollen Krug stellte er vor sie
hin. Dann hob er ihren Krug hoch und trank ihn halb leer. Das
Gebräu im Fox and Hen ließ zu wünschen übrig, doch in der Mitte
dieser Menschenmenge zu sitzen und seinen Krug mehr als fünf
Minuten nicht anzurühren würde nur ungewollte Aufmerksamkeit
erregen.
Das Dartspiel war zu
Ende. Der Jubel verklang, und alle wandten sich wieder ihren
Getränken und der Unterhaltung zu.
Der Jockey schaute
in seinen Krug, als könne er darin eine Lösung finden.
»Zweihundertfünfzig.«
»Zweihundertfünfzig?« Der Kontaktmann schnaubte
verächtlich. »Du bist ziemlich überzeugt von dir selbst, mein
Junge.«
Der Gesichtsausdruck
des Jockeys wurde hart. »Zweihundertfünfzig. Ich bin derjenige, der
bei diesem Rennen auf dem Rücken von Rowena sitzt, und sie ist in
diesem Rennen der Favorit. Die Wetten werden hoch sein – sehr hoch
sogar. Wenn du sie nicht als Gewinner sehen willst, dann kostet
dich das zweihundertfünfzig.«
»Hm.« Jetzt war es
der Kontaktmann, der nachdenklich in seinen Bierkrug schaute.
»Zweihundertfünfzig? Wenn du zweihundertfünfzig haben willst, dann
musst du dafür sorgen, dass sie nicht einmal auf einen vorderen
Platz kommt.«
»Nee.« Der Jockey
schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Wenn sie nicht unter die
Ersten kommt, dann werden die Aufseher hinter mir her sein, und das
wäre die Sache nicht wert. Ich werde für dich nicht meine Lizenz
aufs Spiel setzen. Wenn ich sie als Zweite ins Ziel bringe … nun
ja, das kann ich tun, aber nur, weil Cynster ein ausgezeichnetes
Stutfohlen im Rennen eingesetzt hat. Rowena ist zwar besser, aber
ich kann dafür sorgen, dass sie hinter dem Pferd von Cynster ins
Ziel kommt, und es wird so aussehen, als ob alles in Ordnung wäre.
Aber falls es nicht noch einen anderen Teilnehmer an diesem Rennen
gibt, den wir bis jetzt noch nicht gesehen haben, sind diese beiden
die einzig möglichen Gewinner. Auf keinen Fall kann ich dafür
sorgen, dass Rowena nicht unter die ersten Plätze
kommt.«
Der Kontaktmann
runzelte die Stirn, dann trank er seinen Krug leer. »Also gut.« Er
sah dem Jockey in die Augen. »Zweihundertfünfzig dafür, dass sie
nicht gewinnt – einverstanden?«
Der Jockey zögerte,
doch dann nickte er. »Einverstanden.«
»Aaargh!« Ein lauter Schrei übertönte den Lärm.
Alle wandten sich um und entdeckten einen wütenden, brutalen Kerl,
der gerade seinem Nachbarn einen Bierkrug auf dem Kopf
zertrümmerte. Der Krug zerbrach, und das Opfer sank zu Boden. Von
irgendwoher kam eine Faust, und der Angreifer verlor das
Gleichgewicht.
Und dann ging es
los.
Alle sprangen auf,
Stühle fielen um, Bierkrüge flogen durch die Luft. Alle gingen
aufeinander los, einige Männer stürzten zu Boden. Von einem
Augenblick zum anderen wurde das Durcheinander immer größer, weil
mehr und mehr Gäste sich in den Streit einmischten.
Demon wirbelte
herum. Flick war aufgesprungen und sah sich mit großen Augen um.
Mit einem Fluch stieß er die beiden Krüge vom Tisch und kippte den
Tisch um. Dann packte er Flick an der Schulter. »Ducke
dich!«
Er zwang sie hinter
die provisorische Barrikade, legte eine Hand auf ihren Kopf und
drückte sie nach unten. »Bleib hier!«
In dem Augenblick,
als er die Hand wegnahm, hob Flick den Kopf. Er fluchte und griff
nach ihr, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.
Er wirbelte gerade
noch rechtzeitig herum, um dem Schlag einer großen Faust zu
entgehen. Die Faust traf ihn am Kinn – und sein Temperament ging
mit ihm durch. Als er die Balance wieder gefunden hatte, schlug er
seinem Angreifer die Faust in den Magen, dann setzte er noch eine
gerade Rechte auf sein Kinn.
Der riesige Schläger
schwankte zur Seite, dann fing er sich wieder, nur um inmitten der
anderen Streitenden zu Boden zu gehen.
»Demon!«
Er duckte sich und
warf seinen nächsten Angreifer zu Boden, wich schnell zur Seite,
und der Schläger landete an der Mauer hinter Flick und fiel nicht
auf sie.
Ein Mietkutscher
löste sich aus dem allgemeinen Durcheinander und kam auf Demon zu.
Der Mann sah ihm in die Augen und blieb dann wie angewurzelt
stehen, schwankte, dann wandte er sich um und stürzte sich wieder
in das allgemeine Durcheinander von Körpern und fliegenden
Fäusten.
»Hört auf, ihr
Halunken!« Der Barmann sprang über die Theke und ging mit einem
Reisigbesen auf die Prügelnden los. Doch er hatte keinen Erfolg.
Die Männer waren schon viel zu sehr in ihren Streit verwickelt und
genossen ihn offensichtlich.
Demon sah sich um.
Die einzige Tür lag auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes,
hinter der Menge der Kämpfenden, doch in der Wand zu ihrer Linken
gab es zwei schmutzige Fenster. Er schob Tische und Stühle beiseite
und erreichte schließlich das erste der beiden Fenster, mühte sich
mit dem Verschluss ab und atmete erleichtert auf, als sich nach ein
paar vergeblichen Versuchen das Fenster öffnete.
Er wandte sich um,
packte Flick am Kragen, zerrte sie aus ihrem Versteck und schob sie
durch das Fenster. Sie versuchte hinauszuklettern, doch er hatte
sie von hinten gepackt, obwohl sie wütend zischte und nach seinen
Händen schlug. Auf halbem Weg zögerte sie, um sich zu entscheiden,
wohin sie die Füße setzen sollte, doch er legte eine Hand auf ihren
Po und schob weiter.
Sie landete auf
allen vieren im Gras.
Flick zog scharf den
Atem ein, ein Fluch lag ihr auf der Zunge, doch sie hatte nicht
genug Atem, um ihn auszustoßen. Ihr Po brannte, und ihre Wangen
hatten sich gerötet. Sie warf einen Blick zurück zum Fenster. Demon
war schon zur Hälfte hindurchgeklettert. Sie fluchte leise und kam
wieder auf die Beine, wischte sich die Hände an den Oberschenkeln
ab – dabei wagte sie es nicht, ihren Po zu berühren.
Das andere Fenster
flog auf, und ein paar Männer kletterten nach draußen. Demon
tauchte plötzlich neben ihr auf, packte sie am Ellbogen und schob
sie von dem Haus weg, während immer mehr Männer auf diesem
Fluchtweg das Lokal verließen. Ein Obstgarten grenzte an das Haus –
und Demon in ihrem Rücken, lief Flick zwischen den Bäumen hindurch.
Es wurde immer dunkler. Hinter ihnen hörten sie Rufe durch die
offenen Fenster, dann ertönte der laute Pfiff eines Polizisten.
Flick warf einen Blick zurück: Noch immer kletterten Männer durch
die Fenster und liefen durch den Obstgarten davon.
»Komm schon!« Demon
packte ihre Hand. Er übernahm die Führung, und sie musste sich
anstrengen, mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Sie
versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, doch er warf ihr einen bösen
Blick zu, packte ihre Hand noch fester und rannte dann noch
schneller. Flick fluchte. Demon musste es gehört haben, doch er
ließ sich nichts anmerken. Er zerrte sie weiter, lief bis zum Ende
des Obstgartens, der von einer zwei Meter hohen Mauer
eingeschlossen war.
Demon ließ Flicks
Hand los, während andere Männer sie einholten und sofort begannen,
über die Mauer zu klettern. Flick warf einen skeptischen Blick auf
die Mauer. »Gibt es irgendwo ein Tor?«, fragte sie.
Er deutete mit dem
Kopf auf die anderen Männer, die die Mauer überkletterten. »Sieht
nicht so aus.« Er zögerte, dann trat er näher an die Mauer. »Komm
schon – ich helfe dir rüber.«
Er lehnte sich gegen
die Mauer und verschränkte die Hände. Mit einer Hand hielt sich
Flick an der Mauer fest, die andere legte sie auf seine Schulter,
dann stellte sie einen Fuß in seine Hände, und er hob sie hoch. Es
hätte einfach sein sollen, denn der Rücken von The Flynn war
beinahe genauso hoch wie die Mauer. Doch die Mauer war hart und
schmal, nicht so glatt wie ein Sattel. Es gelang ihr, halb über die
Mauer zu klettern, ihr Oberkörper war auf der einen, die Beine auf
der anderen Seite der Mauer.
Sie stützte sich auf
die Arme, reckte sich und suchte mit den Füßen nach einem Halt.
Doch wenn sie sich zu sehr reckte, riskierte sie es,
hinunterzufallen, und wenn sie sich nicht genug reckte, fand sie
keinen Halt für ihre Füße. Wie eine Wippe hing sie zu beiden Seiten
der Mauer herab.
Unter sich hörte sie
einen erschöpften Seufzer.
Wieder legte sich
Demons Hand auf ihren Po und schob sie hoch. So verlegen war sie
noch nie zuvor in ihrem Leben gewesen, ihre Wangen brannten, und
sie schwang schnell ein Bein über die Mauer.
Und dann versuchte
sie, zu Atem zu kommen.
Demon zog sich neben
ihr auf die Mauer. Dann saß er rittlings darauf, betrachtete sie
eingehend, schwang das zweite Bein über die Mauer und ließ sich
nach unten fallen.
Flick atmete tief
ein, dann schwang sie das andere Bein ebenfalls über die Mauer,
rückte ein Stück vor und sprang hinunter – ehe er sich gezwungen
fühlte, ihr noch einmal zu helfen. Sie richtete sich auf, klopfte
sich die Hände ab und fühlte seinen abschätzenden Blick auf ihrem
Körper.
Sie hob den Kopf und
hielt seinem Blick stand, bereit zum Kampf.
Doch er stieß nur
ein unwilliges Geräusch aus und deutete mit der Hand die Straße
hinunter.
Sie ging neben ihm
her die Straße entlang. Es waren viel zu viele andere Menschen
unterwegs, um eine Unterhaltung riskieren zu können. Als sie an der
Einmündung der Straße ankamen, griff Demon nach ihrem Ellbogen und
schob sie in die Straße, die zur High Street führte. »Ich habe
meinen Wagen im Jockey Club gelassen.«
Sie änderten noch
einmal die Richtung und ließen schließlich die anderen hinter
sich.
»Du solltest mir
eine Nachricht schicken, sobald du etwas erfahren
hast.«
Seine Worte hatte er
leise flüsternd ausgesprochen, er schien sich nur mühsam
zurückzuhalten.
»Das hätte ich auch
getan«, entgegnete sie, »wenn ich erst einmal die Möglichkeit
gehabt hätte. Aber wen hätte ich schon aus dem Stall zu dir
schicken können? Carruthers?«
»Beim nächsten Mal
überbringst du mir die Nachricht selbst, wenn du niemand anderen
findest.«
»Und verpasse die
Möglichkeit, noch mehr herauszufinden – wie heute?«
»Ach ja. Heute. Und
wie, stellst du dir vor, hättest du überlebt, wenn ich nicht
rechtzeitig gekommen wäre?«
Sie betrachtete ein
kleines Haus an der Straße.
»Hm, mal
sehen.«
Seine sanfte Stimme
ging ihr unter die Haut. Flick widerstand dem Wunsch, abweisend zu
reagieren.
»Zunächst ist da
einmal die Frage, ob du überhaupt der allgemeinen Aufmerksamkeit
entgangen wärst, abgesehen von der Prügelei. Immerhin hast du dir
ein Bier bestellt und konntest es nicht trinken. Deine Verkleidung
wäre wohl sehr schnell aufgefallen, und allen wäre klar geworden,
dass das Mündel des Generals, Miss Felicity Parteger, sich in einer
Kaschemme in Newmarket herumtreibt, gekleidet wie ein
Junge.«
»Es war ein
Gasthaus, keine Kaschemme.«
»Für eine Lady ist
dieser Unterschied ganz besonders wichtig.«
Flick brummte
unwillig.
»Und was wäre wohl
geschehen, wenn du die Prügelei überstanden hättest, ohne
bewusstlos geschlagen zu werden, und dann in den Armen der Polizei
gelandet wärst? Man kann sich nur fragen, was sie wohl mit dir
angestellt hätten.«
»Das werden wir wohl
nie wissen«, zischte Flick. »Das Wichtigste ist doch wohl, dass wir
Dillons Kontaktmann identifiziert haben. Hast du gesehen, wohin er
verschwunden ist?«
»Nein.«
Sie blieb stehen.
»Vielleicht sollten wir zurückgehen und …«
Demon ging einfach
weiter, griff nach hinten, packte sie am Arm und zerrte sie mit
sich, sodass sie neben ihm hergehen musste. »Du wirst niemandem
folgen, nirgendwohin.« Der Blick, mit dem er sie bedachte, war
selbst in der Dämmerung gefährlich. »Für den Fall, dass es dir
entgangen sein sollte: Einem solchen Mann in sein Stammlokal zu
folgen ist für eine vornehme Frau sehr gefährlich.«
Seine abgehackte
Stimme gab seinen Worten einen ungewohnten Unterton. Als sie in die
High Street einbogen, hob Flick hochmütig die Nase. »Du hattest die
Möglichkeit, ihn dir genauer anzusehen, und das habe ich auch
getan. Wir sollten in der Lage sein, ihn wieder zu finden, und dann
können wir auch herausbekommen, für wen er arbeitet, und dieses
ganze Durcheinander klären. Das war unsere erste wichtige
Entdeckung heute.«
Nach einem
Augenblick seufzte er. »Ja, du hast Recht. Aber überlasse mir die
nächsten Schritte – oder vielmehr Gillies. Ich werde ihn
beauftragen, durch die Gasthäuser und die Tavernen zu ziehen –
unser Mann muss in einem davon untergekommen sein.«
Demon blickte auf,
als sie die High Street überquerten und vor dem Jockey Club
ankamen. Unter den wachsamen Augen eines Wachmannes waren seine
Pferde an einem Baum angebunden. »Steig ein. Ich werde dich zurück
zum Stall fahren.«
Flick ging hinüber
zu dem Zweispänner und kletterte hinein. Demon sprach noch kurz mit
dem Wachmann, dann kam er zurück, löste die Leine und setzte sich
auf den Kutschersitz. Er lenkte die Pferde zuerst rückwärts, dann
trieb er sie mit einer leichten Bewegung des Zügels
an.
Während sie die High
Street hinunterfuhren, legte Flick den Kopf ein wenig schief. »Und
du wirst mir sofort Bescheid sagen, wenn Gillies etwas
herausfindet?«
Demon griff nach
seiner Peitsche. Das schwarze Lederband flog nach vorn und berührte
die Ohren seines Leitpferdes. Die Pferde liefen mit kraftvollen
Schritten schneller. Der Zweispänner schoss nach vorn.
Flick hielt sich an
der Seite fest und unterdrückte einen Fluch.
Die Peitschenschnur
zuckte zurück, und der Wagen holperte weiter.
Ohne ein weiteres
Wort fuhr Demon zum Stall.