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Demon stand am nächsten Morgen schon vor der Morgendämmerung auf und ritt zu seinem Stall, um das Morgentraining zu beobachten – und um einen Blick auf Flick und ihren Po zu werfen. Er fühlte sich entschieden schlecht, weil er so früh hatte aufstehen müssen, aber … der Gedanke an sie, an den Engel in blauem Samt, die verkleidet als Junge über die Heide donnerte, mit all den möglichen Katastrophen, die sich daraus ergeben konnten, machte es ihm völlig unmöglich, wieder einzuschlafen.
Also stand er zusammen mit Carruthers in dem leichten Nebel und beobachtete die Pferde, die an ihnen vorüberdonnerten. Die Erde bebte, die Luft zitterte, die Erschütterungen waren ihm so bekannt wie sein Herzschlag. Die Szene war ein Teil von ihm und er ein Teil dieser Szene – und auch Flick gehörte dazu. Sie flog an ihm vorbei, trieb The Flynn zu noch größerer Schnelligkeit an und ließ die anderen Pferde weit hinter sich. Demon stockte der Atem, als sie durch das Ziel ritt, er spürte ihre Erregung – das Gefühl des Triumphes. Es klang in ihm nach, hielt ihn gefangen. Dann holte er tief Luft und zwang sich wegzusehen, dorthin, wo seine anderen Reiter ihre Pferde antrieben.
Der leichte Nebel legte sich auf die Schultern seines Mantels, und sein Haar schimmerte dunkel. Das bemerkte Flick, als The Flynn ein langsameres Tempo anschlug und sie einen Blick zu der Stelle zurückwarf, an der Demon stand. Er sah nicht zu ihr hin, das hatte sie gewusst, denn sonst hätte sie sich nicht umgedreht. Er hatte sie beinahe pausenlos beobachtet, seit er hier angekommen und auch kurz nachdem sie losgeritten war.
Glücklicherweise machte es ihre Verkleidung glaubwürdiger, wenn sie leise vor sich hin fluchte. Doch sie musste alle anderen Anzeichen der Erregung unterdrücken, damit The Flynn nichts von ihrer Nervosität spürte. Sie war schon immer atemlos gewesen, wenn Demon in der Nähe war, und hatte ihre Verlegenheit damit erklärt, dass sie als Kind in ihn vernarrt gewesen war. Doch das hier war anders – dieses nervenaufreibende Bewusstsein, dieses zittrige Gefühl in ihrem Bauch. Sie schob den Gedanken beiseite, dass es etwas – ziemlich viel sogar – damit zu tun hatte, dass sie diesen atemlosen Schock verspürt hatte, als er sie am vergangenen Abend in den Sattel gehoben hatte. Das Letzte, was sie wollte, war, dass The Flynn sich vor Demons Augen produzierte. Demon könnte das als Grund ansehen, seine Meinung zu ändern und sie von ihren Pflichten zu entbinden.
Doch die Rennstrecke zu reiten, während er ihr dabei zusah, stellte sich als größere Herausforderung heraus, als nur für Carruthers zu reiten, trotz der Tatsache, dass der alte Geizkragen der anspruchsvollste Trainer in der ganzen Gegend war. In Demons blauen Augen lag ein harter, abschätzender Blick, den Carruthers nicht hatte, und während ihre Nervosität wuchs, fragte sie sich, ob Demon das mit Absicht tat – ob er sie absichtlich beunruhigen wollte -, damit sie einen dummen Fehler machte und er einen Grund hätte, sie wegzuschicken.
Gott sei Dank hatten die vielen Jahre, in denen sie geritten war, sie gelehrt, ihre Gefühle sorgfältig zu verbergen, und sie und The Flynn boten den Zuschauern eine gute Show. Schließlich lenkte sie den großen Braunen zurück zum Stall.
Demon nickte zustimmend, als sie The Flynn in den Stall ritt und dann an der Stelle stehen blieb, an der die Pferde abgesattelt wurden. Sie zog die Füße aus den Steigbügeln und glitt auf der von Demon und Carruthers abgewandten Seite vom Pferd. Ein Lehrjunge kam herbeigelaufen und griff nach den Zügeln, ehe sie noch reagieren oder nachdenken konnte, und führte The Flynn in seine Box. Flick blieb vor Carruthers und Demon stehen.
»Gute Arbeit.« Demons Blick hielt den ihren gefangen. Er nickte knapp. »Wir sehen dich also heute Nachmittag. Komm nicht zu spät.«
Flick biss sich auf die Zunge. Bis jetzt hatte sie The Flynn immer selbst abgesattelt und abgerieben. Aber ihre Verkleidung verlangte von ihr, dass sie sich fügte, deshalb senkte sie den Kopf. »Ich werde rechtzeitig hier sein.« Mit diesen wenigen Worten wandte sie sich um und dachte noch daran, nicht zu hölzern zu gehen, dann schlenderte sie durch den Gang, zu der Stelle, an der ihr Gaul in der Nähe der Tür stand. Sie kletterte in den Sattel und ritt los, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen – ehe die Versuchung sie übermannte.
Sie hörte, wie hinter ihr Demon Carruthers eine Frage stellte – und fühlte noch immer seinen Blick in ihrem Rücken.
 
Nachdem Demon Flick in Sicherheit wusste, ging er in ein Kaffeehaus auf der Newmarket Street, das von den Mitgliedern des Jockey Club bevorzugt wurde.
Als er über die Schwelle trat, winkte ihm sofort jemand zu. Er grüßte nach rechts und links und ging dann zur Theke, wo er ein großes Frühstück bestellte, dann gesellte er sich zu einer Gruppe an einem langen Tisch, die zum größten Teil aus den Eigentümern der Ställe bestand.
»Wir unterhalten uns gerade über die Aussichten für die kommende Saison«, wandte sich Patrick McGonnachie, der Manager des Stalles des Herzogs von Beaufort, an Demon, als dieser sich setzte. »Im Augenblick haben wir natürlich fünfmal so viele Gewinner wie Rennen.«
»Das klingt ganz so, als hätten wir eine neue Gruppe von Pferden«, antwortete Demon gedehnt. »Das wird dem General eine Menge Arbeit bereiten.«
McGonnachie blinzelte, dann aber verstand er, worauf Demon hinauswollte. Wenn Pferde, die zuvor noch nicht gewonnen hatten, in den Kreis der Gewinner kamen, würde der General sich um ihren Stammbaum kümmern müssen. McGonnachie setzte sich zurecht. »Ah, ja. Eine Menge Arbeit.«
Er sah zu den anderen am Tisch. Demon widerstand dem Wunsch, ihn zu bedrängen. McGonnachie und auch alle anderen Männer in Newmarket kannten die enge Bindung zwischen Demon und dem General. Gäbe es irgendeinen Klatsch, der den General betraf, so würde McGonnachie es sicher nicht Demon erzählen.
Also aß er, lauschte der Unterhaltung am Tisch und trug auch seinen Teil dazu bei. Und er ertrug gelassen die gutmütigen Scherze über seine Aktivitäten in London.
»Du musst dich wohl ändern, wenn du dir deine Chancen nicht entgehen lassen willst«, meinte der alte Arthur Trumble, einer der angesehensten Gestütsbesitzer, der am anderen Ende des Tisches saß. »Nimm dir meinen Rat zu Herzen und verbringe weniger Zeit damit, den Mesdames in London die Röcke zu heben, sondern mehr Zeit, dich um deine Geschäfte zu kümmern. Je anspruchsvoller deine Zucht ist, desto mehr Zeit musst du dafür aufbringen.« Er hielt inne, um seine Pfeife zu stopfen. »Und der Himmel allein weiß, dass es so aussieht, als würdest du in diesem Jahr den Pokal der Züchter gewinnen.«
Die anderen stimmten sofort in diese Meinung ein, und Demon hatte keinen Grund, ihnen zu widersprechen. Er hörte ihnen zu, doch er bemerkte keinerlei Andeutungen eines Gerüchtes, das den General betraf, bis auf McGonnachies Zögern zuvor.
»Mister Figgins ist wieder da – hast du das schon gehört?« Buffy Jeffers beugte sich vor und sah um McGonnachie herum. »Sawyer hat ihn zuerst entdeckt – er konnte es kaum erwarten, zu sehen, ob sein Bein standhält, aber so ist es. Also hat dein Mighty Flynn einen ernsthaften Konkurrenten. Und die Handikap-Rennen werden demnach nicht so einfach sein, wie es bis jetzt ausgesehen hat.«
»Oh?« Demon plauderte mit Buffy über die Chancen von The Flynn, während er in Gedanken einen ganz anderen Weg verfolgte.
Er hatte sich schon gefragt, wie wohl Dillons Syndikat das erste Rennen dieses Jahres kontrollieren wollte. Die frühen Rennen, die bereits vor dem Beginn der Frühjahrssaison ausgetragen wurden, wurden normalerweise dazu benutzt, die Pferde, die neu in den Rennen waren, auszuprobieren. Wenn das der Fall war, dann bedeutete ein Betrug, dass man sichergehen musste, dass ein ganz besonderes Pferd das Rennen gewann, und das bedeutete gleichzeitig, dass man mindestens eine Hand voll der anderen Pferde in dem Rennen beeinflussen musste. Mehrere Jockeys zu bestechen bedeutete auch mehr Geld, und es war gefährlicher als alle anderen Möglichkeiten, ein Rennen zu beeinflussen. Aber die andere Methode machte es nötig, dass man über ein herausragendes Rennpferd verfügte – einen Favoriten.
Als Buffy eine Pause machte, um Luft zu holen, fragte Demon: »Sag mal, hat Mister Figgins denn gewonnen? Das hast du noch gar nicht erzählt.«
»Er hat es spielend geschafft«, antwortete Buffy. »Er hat allen anderen auf der Geraden nur noch sein Hinterteil gezeigt.«
Demon lächelte, dann ließ er es zu, dass sich die Unterhaltung um andere Themen drehte.
Wenigstens wusste er jetzt, wie das Syndikat arbeitete. Sie mussten Mister Figgins mit aller Macht über die Gerade getrieben haben. Mister Figgins war das Pferd, mit dem im Rennen betrogen werden sollte, das Syndikat würde es so einrichten, dass er verlor, und ihre Helfer – wie viele Buchmacher sie auch in ihr Spiel gelockt hatten – hätten gute Quoten auf Mister Figgins geboten und große Wetten eingeholt und in diesem Fall einen riesigen Verlust eingefahren. Das war der einzige Nachteil bei dieser Methode – sie konnte auch fehlschlagen, wenn das Bestechungsgeld nicht stimmte oder das Rennen nicht richtig vorbereitet wurde.
Und das erklärte auch, warum Dillon in so großen Schwierigkeiten steckte.
Nach dem Frühstück in der Gesellschaft der anderen schlenderte Demon über die Straße in den Jockey Club. Diesen heiligen Ort kannte er so gut wie sein eigenes Zuhause, und die nächsten Stunden verbrachte er damit, durch die verschiedenen Räume zu schlendern, sich mit Jockeys und mit der Renn-Elite zu unterhalten – mit diesen Gentlemen, die wie er den Mittelpunkt der englischen Rennwelt bildeten.
Während seiner Unterhaltungen bemerkte er öfter ein Zögern oder einen schnellen Blick nach allen Seiten, als wolle jemand einer unsichtbaren Wahrheit ausweichen. Noch lange, ehe er Reginald Molesworth begegnete, wusste Demon, dass es zweifellos gewisse Gerüchte gab.
Reggie, ein alter Freund, wartete gar nicht erst, bis ihm Demon eine Frage stellte. »Also«, meinte er gleich, nachdem sie einander begrüßt hatten, »hast du Zeit? Lass uns einen Kaffee trinken gehen – im The Twig and Bough sollte es um diese Zeit recht ruhig sein.« Er begegnete Demons Blick. »Da gibt es etwas, das du wissen solltest«, fügte er hinzu.
Demon versuchte, sein Interesse zu verbergen, und verließ zusammen mit Reggie den Club und schlenderte mit ihm die Straße entlang. Sie betraten das The Twig and Bough, ein Kaffeehaus, das eher von der vornehmeren Gesellschaft der Stadt bevorzugt wurde und nicht von den Mitgliedern der Renngemeinde.
Als sie das Kaffeehaus betraten, starrten zwei der Bedienungen sie mit offenem Mund an, doch die Besitzerin hatte sich schnell wieder gefangen. Sie kam hinter der Theke hervor, als die beiden Männer sich an einen Tisch an der Wand setzten. Nachdem sie bestellt hatten, verbeugte sich die Frau und eilte davon. In schweigender Übereinstimmung unterhielten sich Demon und Reggie über beiläufige Themen der gehobenen Gesellschaft in London, bis ihr Kaffee und der Kuchen serviert worden und die Bedienung wieder gegangen war.
Reggie beugte sich über den Tisch. »Ich dachte mir, dass du davon erfahren solltest.« Seine Stimme senkte sich zu einem verschwörerischen Flüstern. »Man erzählt Dinge über den Haushalt in Hillgate End.«
»Was für Dinge?«, fragte Demon mit ausdruckslosem Gesicht.
»Wie es scheint, gibt es Vermutungen, dass die Rennen nicht so laufen, wie sie eigentlich laufen sollten. Nun ja, es wird eben immer geredet, wenn ein Favorit verliert, aber in letzter Zeit …« Reggie rührte in seinem Kaffee. »In der letzten Saison waren es Trumpeter und The Trojan und Big Biscuits, Hail Well und The Unicorn in Doncaster. Ganz zu schweigen von The Prime in Ascot. Nicht so viele, das ist wahr, aber man braucht nicht im Geschäft zu sein, um das zu begreifen. Eine Menge Geld hat den Besitzer gewechselt, nachdem diese Pferde verloren haben, und die angebotenen Chancen in jedem Fall … nun ja, ganz sicher gibt es Gründe nachzudenken. Und das war nur in der Herbstsaison.«
Demon nickte. »Ist es offiziell?«
Reggie verzog das Gesicht. »Ja und nein. Das Komitee glaubt, dass es ganz sicher einige Fragen gibt, und sie wollen Antworten, das kannst du dir vorstellen. Im Augenblick untersuchen sie nur den letzten Herbst, doch es wird alles unter der Decke gehalten. Deshalb hast du vielleicht auch noch nichts davon gehört.«
Demon schüttelte den Kopf. »Ich habe wirklich noch nichts davon gehört. Gibt es Gründe, zu glauben, dass es auch im Frühling so weitergegangen ist?«
»Ich denke schon, aber die Beweise – damit meine ich die angebotenen Quoten, die man nur als offensichtlich viel versprechend ansehen konnte – sind noch nicht deutlich genug.«
»Weiß man denn schon, in welche Richtung das Komitee untersucht?«
Reggie sah auf und blickte Demon in die Augen. Reggies Vater saß in diesem Komitee. »Nun ja, deshalb denke ich ja, dass du Bescheid wissen solltest. Die Jockeys, die in diese Sache hineingezogen worden sind, halten natürlich den Mund – sie wissen ganz genau, dass es teuflisch schwierig ist, etwas zu beweisen. Aber wie es scheint, hat man den jungen Caxton gesehen. Er hat sich mit den Jockeys unterhalten, die in die Sache verwickelt sein sollen. Und da er sich früher nicht für die Jockeys interessiert hat, ist das natürlich aufgefallen. Das Komitee möchte sich gern mit dem jungen Mann unterhalten, das ist keine sehr große Überraschung. Die Schwierigkeit ist« – Reggie zupfte sich am Ohrläppchen -, »der Junge ist nicht da, er ist verreist, um einige Freunde zu besuchen. Und da er der Sohn des Generals ist, möchte niemand unnötigerweise den ehrwürdigen alten Herrn aufregen, und das Komitee hat sich entschieden, zu warten, bis der junge Caxton wieder zurück ist, um ihn dann ruhig zur Seite zu nehmen und zu befragen.«
Reggie seufzte, dann sprach er weiter. »Das ist natürlich ein guter Plan, aber als er gemacht wurde, ist man davon ausgegangen, dass der junge Mann innerhalb einer Woche wieder zurück sein würde. Und das war vor ungefähr zwei Wochen, doch er ist noch immer nicht heimgekommen. Sie sind unsicher, ob sie nach Hillgate End gehen und den General direkt fragen sollen, wo sein Sohn ist, aber sie werden sich zurückhalten, solange es möglich ist. Doch da die Frühjahrssaison vor der Tür steht, können sie nicht ewig warten.«
Demon sah Reggie in seine verräterisch unschuldigen Augen. »Verstehe.«
Und er verstand wirklich. Die Botschaft, die er gerade bekam, stammte nicht von Reggie und auch nicht von dessen Vater, sondern von dem allmächtigen Komitee höchstpersönlich.
»Du hast nicht etwa vielleicht einige … Einsichten in diese Angelegenheit, wie?«
»Nein«, antwortete Demon nach einem Augenblick. »Aber ich verstehe die Ansicht des Komitees.«
»Hm.« Reggie warf Demon einen mitfühlenden Blick zu. »Das ist ja auch nicht schwer zu verstehen, wie?«
»Nein, wirklich nicht.« Sie tranken ihren Kaffee aus, bezahlten und verließen dann das Kaffeehaus. Auf der Treppe vor dem Haus blieb Demon stehen.
Reggie wartete neben ihm. »Wohin willst du?«
Demon warf ihm einen schnellen Blick von der Seite zu. »Nach Hillgate End, wohin sonst?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich will mal nachsehen, wie die Lage dort ist.«
 
»Sie alle glauben, dass ich nicht Bescheid weiß.« General Sir Gordon Caxton saß in dem Sessel hinter seinem Schreibtisch. »Aber ich verfolge die Ergebnisse der Rennen weitaus genauer als alle anderen, und auch wenn ich in letzter Zeit nicht sooft draußen auf den Weiden bin, so sind meine Ohren doch noch immer in Ordnung, wenn ich einmal draußen bin.« Er schnaubte verächtlich.
Demon stand vor dem großen Fenster und betrachtete seinen Freund und Mentor, der beunruhigt seinen Tintenlöscher zurechtrückte. Demon war vor einer Viertelstunde angekommen und, wie es seine Gewohnheit war, gleich in die Bibliothek gegangen. Der General hatte ihn mit Freude begrüßt. Doch in Demons Ohren hatte die Herzlichkeit des Generals gezwungen geklungen. Nachdem sie einander begrüßt hatten, hatte Demon sich nach dem Befinden seines Freundes erkundigt. Die oberflächliche Freude des Generals war sofort verschwunden, und er hatte Demon ein Geständnis gemacht.
»Es wird geflüstert – und noch mehr. Natürlich über Dillon.« Der General sank in sich zusammen und starrte lange Zeit auf eine Miniatur seiner verstorbenen Frau, Dillons Mutter, die auf seinem Schreibtisch stand, dann seufzte er und richtete seinen Blick noch einmal auf den Tintenlöscher. »Abgesprochene Rennen.« Voller Verachtung sprach er diese beiden Wörter aus. »Natürlich könnte er vollkommen unschuldig sein, aber …« Der General holte zittrig Luft, dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht behaupten, dass es mich überrascht. Der Junge hatte schon immer zu wenig Rückgrat – das ist genauso sehr mein Fehler wie der seine. Ich hätte ihn härter anpacken müssen, mit festerer Hand. Aber …« Nach einem langen Augenblick des Schweigens seufzte er noch einmal. »So etwas hatte ich nicht erwartet.«
In seinen ruhig ausgesprochenen Worten lagen ungeheurer Schmerz und Verwirrung. Demon verspürte den dringenden Wunsch, Dillon zu packen und ihm den Kopf gerade zu rücken, im wahrsten Sinne des Wortes, ganz gleich, was Flick auch darüber denken mochte. Der General war trotz seiner mächtigen Gestalt, den buschigen Augenbrauen und dem wilden Haarschopf ein gütiger, sanftmütiger Mann. Er hatte ein weiches Herz, war großzügig, und alle, die ihn kannten, respektierten ihn. Demon hatte ihn in den letzten fünfundzwanzig Jahren regelmäßig besucht, und niemals hatte es einen Mangel an Liebe oder sanfter Führung Dillon gegenüber gegeben. Was auch immer der General sich jetzt vorstellte, die Lage, in die Dillon sich gebracht hatte, war nicht der Fehler des Generals.
Der General verzog sein Gesicht. »Felicity, das liebe Mädchen, und Mrs. Fogarty und Jacobs versuchen alle, die Sache von mir fern zu halten. Ich habe ihnen noch nicht gesagt, dass das gar nicht nötig ist. Sie würden mich nur noch mehr umsorgen, wenn sie wüssten, dass ich längst Bescheid weiß.«
Mrs. Fogarty war seit mehr als dreißig Jahren die Haushälterin des Generals, und Jacobs, der Butler, arbeitete schon genauso lange für ihn. Die beiden, genau wie Felicity, waren dem General vollkommen ergeben.
Der General blickte auf und sah Demon an. »Sag mir, hast du etwas gehört, außer den Vermutungen?«
Demon hielt seinem Blick stand. »Nein – nicht mehr als das.« In Kürze erklärte er ihm alles, was er am heutigen Morgen in Newmarket erfahren hatte.
Der General stieß ein unwilliges Geräusch aus. »Wie ich schon sagte, es würde mich nicht überraschen, wenn ich erfahren würde, dass Dillon in die Sache verwickelt ist. Er ist verreist, zu Freunden – wenn das Komitee damit einverstanden wäre, zu warten, bis er zurück ist, dann wäre das sicher das Beste, nehme ich an. Es hat keinen Zweck, ihn vorzeitig zurückzurufen. Um die Wahrheit zu sagen, wenn ich ihm eine Nachricht schicken würde, wäre ich nicht einmal sicher, ob er nicht ganz verschwinden würde.
Es war mir schon immer ein Rätsel, wie Dillon einen so schwachen Charakter entwickeln konnte, wo er doch zusammen mit Felicity aufgewachsen ist. Sie ist so …« Der General hielt inne, dann lächelte er Demon an. »Nun ja, mir kommt das Wort ›rechtschaffen‹ in den Sinn. Sie von ihrem Weg abzubringen, ein Versuch, den sie sicher zuerst einmal von allen Seiten betrachten würde, wäre völlig unmöglich. So war sie schon immer.« Er seufzte. »Ich habe es immer darauf zurückgeführt, dass ihre Eltern Missionare waren, aber ich denke, das sitzt noch tiefer. Sie ist ein ehrlicher Charakter – standfest und nicht wankend. So ist meine Felicity.«
Sein Lächeln verschwand. »Mir wäre es lieb, wenn ein wenig ihrer Ehrlichkeit auf Dillon abgefärbt hätte, und einiges ihrer Standfestigkeit. Sie hat mir nie auch nur für einen Augenblick lang Sorgen gemacht, aber Dillon? Schon als Kind steckte er ständig in irgendwelchen Schwierigkeiten. Er war ein wahrer Teufel, und er hat sich immer auf Felicity verlassen, damit sie ihn rettete – und das hat sie auch immer getan. Das war zwar alles in Ordnung, solange die beiden noch Kinder waren, aber Dillon ist immerhin zweiundzwanzig. Er sollte langsam erwachsen und über diese albernen Dummheiten hinausgewachsen sein.«
Dillon war von den Dummheiten zur offenen Kriminalität gewechselt, doch diese Ansicht verbarg Demon in seinem Inneren und hielt den Mund.
Er hatte Flick seine Hilfe versprochen, und im Augenblick bedeutete das, Dillon abzuschirmen und ihn in dem heruntergekommenen Häuschen versteckt zu lassen. Doch Flick zu helfen bedeutete auch, den General von allem fern zu halten, auch wenn das nicht ausdrücklich ausgesprochen worden war. Und während er und Flick in den nächsten Tagen einer Auseinandersetzung über einige Dinge gar nicht ausweichen konnten – zum Beispiel über die Einzelheiten ihrer Beteiligung an den Untersuchungen -, so war er doch mit ihr vollkommen einig, seine Seele dafür einzusetzen, um dem General noch mehr Schmerz zu ersparen.
Wenn der General wüsste, wo Dillon war, dann würde er, ganz abgesehen von den Einzelheiten, hin und her gerissen sein zwischen einer Loyalität dem Renngeschäft gegenüber, dem er schon seit Jahrzehnten verbunden war, und der Tatsache, Dillon den Behörden zu übergeben, während er gleichzeitig den Beschützerinstinkt eines Vaters verspürte.
Demon wusste, wie es sich anfühlte, zwischen zwei Loyalitäten zu stehen, doch lieber wollte er die Last auf seinen eigenen Schultern tragen, wo sie im Augenblick ruhte, als das Problem seinem alternden Freund aufzuladen. Er sah aus dem Fenster über den gepflegten Rasen zu den schattigen Bäumen dahinter. »Ich nehme an, auf Dillon zu warten ist die richtige Entscheidung. Wer kennt denn schon die ganze Geschichte? Es könnte Gründe geben, warum er sich so verhält, mildernde Umstände. Daher ist es besser, abzuwarten.«
»Du hast natürlich Recht. Und der Himmel allein weiß, dass ich sowieso schon genug zu tun habe.« Demon sah sich um und stellte fest, dass der General ein schweres Protokollbuch auf den Schreibtisch gezogen hatte. »Du und deine Kollegen, ihr bringt so viel irische Pferde in die Zucht ein, da muss ich ja schon fast Gälisch lernen.«
Demon grinste. Irgendwo ertönte ein Gong.
Sowohl er als auch der General sahen zur Tür. »Zeit zum Essen. Warum bleibst du nicht einfach? Dann kannst du Felicity sehen und dir ein Bild machen, ob du mit meiner Einschätzung von ihr übereinstimmst.«
Demon zögerte. Der General lud ihn von Zeit zu Zeit zum Essen ein, aber in den letzten Jahren hatte er die Einladung nie angenommen, und wahrscheinlich war das der Grund dafür gewesen, dass er Felicity so lange nicht mehr gesehen hatte.
Demon wandte sich von dem Fenster ab. »Ja, warum nicht?« Der General würde Demons Bruch seiner langen Gewohnheit wahrscheinlich nur der Sorge um ihn selbst zuschreiben, und damit hätte er sogar ein wenig Recht.
 
Also blieb er.
Und es machte ihm Freude, Felicity in königlicher Haltung das Esszimmer betreten zu sehen, obwohl sie bei seinem Anblick beinahe über ihre eigenen Füße fiel und nicht wusste, was sie sagen und wie sie auf ihn reagieren sollte.
Und das war schließlich normal, denn auch er wusste nicht, wie er auf ihren Anblick reagieren sollte. Oder, um es genauer zu sagen, er wagte nicht, so zu reagieren, wie sein Instinkt es ihm eingab. Immerhin war sie noch immer – trotz allem – das Mündel des Generals.
Und wie durch ein Wunder war sie erwachsen geworden.
Im hellen Tageslicht, gekleidet in ein Kleid aus elfenbeinfarbenem Musselin, bestickt mit winzigen grünen Blättern, sah sie wie eine Frühlingsnymphe aus, die gekommen war, um das Herz der Sterblichen zu stehlen. Ihr Haar, das sie ordentlich gebürstet hatte, glänzte wie poliertes Gold und umrahmte ein wahrhaft engelgleiches Gesicht.
Es war dieses Gesicht, das ihn gefangen hielt. Das sanfte Blau ihrer Augen, wie ein nebelverhangener Himmel, zog ihn an, drängte ihn dazu, sich in ihren Tiefen zu verlieren. Ihre Nase war gerade, die Stirn breit, ihre Haut makellos. Ihre Lippen baten förmlich darum, geküsst zu werden – sie waren sanft gerundet, rosig, die Oberlippe war voll und sinnlich. Sie waren dazu geschaffen, von den Lippen eines Mannes bedeckt zu werden.
Von seinen Lippen.
Der Gedanke, der so unerwartet kam, erschreckte ihn. Er holte tief Luft und schüttelte die Verzauberung ab. Ein schneller Blick, der anerkennende Blick des Schwerenöters für ihre Figur, brachte ihn beinahe dazu, sich wieder in ihrem Zauber zu verlieren.
Doch er widerstand. Die Erkenntnis, dass er zum ersten Mal in seinem Leben überwältigt worden war, genügte, um ihn bis in sein Innerstes zu erschüttern. Mit seiner üblichen Anmut und einem lässigen Lächeln schlenderte er auf Flick zu und nahm ihre Hand.
Sie blinzelte und hätte ihm beinahe die Hand wieder entzogen.
Demon widerstand dem Wunsch, ihre zitternden Finger an seine Lippen zu ziehen, stattdessen wurde sein Lächeln noch herzlicher. »Guten Tag, meine Liebe. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich zusammen mit euch zu Mittag esse?«
Noch einmal blinzelte sie, dann warf sie dem General einen schnellen Blick zu. »Nein, natürlich nicht.«
Sie errötete ein wenig, und Demon zwang sich, dieses verlockende Bild nicht noch länger zu betrachten. Anmutig führte er sie zum Tisch. Sie setzte sich an ihren Platz zur Linken des Generals, und er rückte ihr den Stuhl zurecht, dann ging er um den Tisch herum und setzte sich rechts neben den General, gleich gegenüber von ihr.
Die Sitzordnung hätte gar nicht besser sein können. Während er sich mit dem General unterhielt, war es vollkommen natürlich, dass sein Blick sie ab und zu streifte.
Sie hatte einen schwanengleichen Hals und sanft gerundete Schultern, die Haut ihres Brustansatzes, der in dem tiefen Ausschnitt ihres Kleides zu sehen war, sah aus wie elfenbeinfarbene Seide. Sie war rank und schlank und vollkommen begehrenswert.
Jedes Mal, wenn Demon sie ansah, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
Flick war sich seiner eingehenden Blicke durchaus bewusst, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund wurde ihr warm, wenn er sie ansah. Es war so, als wenn ein von der Sonne geküsster Hauch sie traf – leicht und verlockend. Sie versuchte, sich dieses Gefühl nicht anmerken zu lassen, immerhin war es keine Überraschung, dass ihm ihr Aussehen so verändert vorkam. Als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, war sie fünfzehn Jahre alt gewesen, dürr, mit zwei langen Zöpfen. Damals hatte er sie kaum bemerkt – sie hatte ihn allerdings fasziniert angestarrt.
Das war das letzte Mal, dass sie sich diese Freiheit gegönnt hatte, danach hatte sie stets dafür gesorgt, ihm aus dem Weg zu gehen, wenn er einen Besuch beim General gemacht hatte. Selbst wenn sie ihn entdeckt hatte, hatte sie sich gezwungen wegzugehen – und zwar deshalb, weil sie sich genau das Gegenteil gewünscht hatte. Sie besaß viel zu viel Stolz, Demon wie ein dummes, liebeskrankes Schulmädchen anzustarren. Und auch wenn es genau das war, was sie für ihn fühlte – und das war wohl kaum überraschend, denn er war schon so viele Jahre lang ihr Idol gewesen -, so gefiel ihr der Gedanke nicht, für ihn zu schwärmen. Sie war sicher, dass er von all den anderen liebeskranken Mädchen und den liebeskranken Ladys genug hatte.
Sie hatte absolut nicht die Absicht, sich in ihre Reihen einzuordnen.
Also zwang sie sich, sich an der Unterhaltung über Pferde und die bevorstehende Rennsaison zu beteiligen. Sie war in Hillgate End groß geworden, also wusste sie über beides gut genug Bescheid, um ihren Beitrag zu der Unterhaltung zu leisten. Zweimal stolperte Demon über ihren Namen und hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück, und sie widerstand dem Wunsch, ihm einen wütenden Blick zuzuwerfen, als ihm dieser Fehler zum zweiten Mal passierte. Ihre Blicke trafen sich, sie zog eine Augenbraue hoch und verzog spöttisch den Mund. Dann presste sie die Lippen zusammen und blickte auf ihren Teller.
»Könntest du mir bitte den Essig reichen, meine Liebe?«
Sie sah sich nach der Essigflasche um, doch Demon hatte sie bereits von dem Tablett genommen. Er reichte sie ihr, sie nahm sie von ihm entgegen – und ihre Finger berührten sich. Ein heftiger Schock durchfuhr ihren Körper. Erschrocken hätte sie die Flasche beinahe fallen lassen, doch sie riss sich gerade noch rechtzeitig zusammen. Vorsichtig reichte sie die Flasche dem General, dann griff sie wieder zu Messer und Gabel, sah auf ihren Teller hinunter und holte tief Luft.
Sie fühlte Demons Blicke auf ihrem Gesicht, ihren Schultern, doch dann wandte er sich an den General. »The Mighty Flynn entwickelt sich gut. Ich erwarte, dass er in dieser Saison mindestens zweimal gewinnen wird.«
»Wirklich?«
Der General war sofort abgelenkt, und Flick atmete erleichtert auf.
Demon hielt die Unterhaltung in Gang, was nicht sehr schwierig war. Viel schwerer fiel es ihm, nicht immer wieder zu Flick zu sehen, doch sie zog immer wieder seine Aufmerksamkeit auf sich. Das war natürlich lächerlich – immerhin war sie erst zwanzig.
Aber sie war da, und sie faszinierte ihn vollkommen.
Er sagte sich, dass es der Kontrast war zwischen Flick, der Rechtschaffenen, die sich als Junge verkleidete und sich ganz allein daranmachte, ein Syndikat aufzudecken, das bei den Pferderennen betrog, und Felicity, dem zierlichen und entschieden anständigen Botticelli-Engel.
Es war dieser Kontrast, der ihn verlockte.
»Vielleicht«, meinte er, als sie nach dem leichten Mahl aufstanden, »würde Felicity gern einen Spaziergang mit mir im Garten machen?«
Er hatte die Frage absichtlich so gestellt, um dem General einen Grund zu geben, ihn in seinem Wunsch zu unterstützen. Doch die Mühe hätte er sich gar nicht erst machen müssen, denn Flick hob den Kopf und sah ihm in die Augen.
»Das wäre nett.« Sie schaute schnell zum General. »Wenn du mich nicht brauchst?«
»Nein, nein!« Der General strahlte. »Ich muss zurück an meine Bücher. Geht ihr beiden nur.«
Er schob sie zu der offenen Terrassentür. Demon wandte sich zu ihm um. »Ich werde vorbeikommen, wenn ich etwas Neues erfahre.«
Der freudige Blick des Generals verschwand. »Ja, tu das.« Dann betrachtete er Flick, und sein Lächeln kehrte zurück. Er nickte freundlich und ging zur Tür.
Flick war neben ihrem Stuhl stehen geblieben und sah Demon an. Er zog eine Augenbraue hoch und deutete mit dem Kopf zur Terrassentür. »Sollen wir?«
Sie kam um den Tisch herum, doch sie blieb nicht stehen, als sie ihn erreichte, und wartete auch nicht darauf, dass er ihr seinen Arm bot. Stattdessen ging sie an ihm vorbei zur Tür hinaus. Demon starrte auf ihren Rücken, dann schüttelte er den Kopf und folgte ihr.
Sie blieb auf der Terrasse stehen, und als sie sah, dass er ihr folgte, ging sie die Treppe in den Garten hinunter. Seine Schritte waren länger, deshalb holte er sie schnell ein, als sie über den Rasen ging. Langsam schlenderte er neben ihr her und überlegte, wie man am besten mit einem Engel umging. Doch noch ehe er zu einem Schluss gekommen war, sprach sie schon.
»Wie soll ich denn irgendwelche Bemerkungen hören oder jemanden entdecken, der sich in deinem Stall an die Reiter heranmacht, wenn ich kaum einen Augenblick dort verbringen kann?« Böse sah sie ihn an. »Ich bin heute Morgen angekommen und habe festgestellt, dass The Flynn bereits gesattelt war. Carruthers hat mich sofort nach draußen geschickt, für eine ausgedehnte Aufwärmphase« – ihre Augen zogen sich zusammen -, »damit er anschließend nicht wieder unruhig wäre. Und dann hast du mich weggeschickt, sobald ich zurückgekommen bin.«
»Ich habe angenommen, dass du so schnell wie möglich hierher zurückwolltest.« Das stimmte zwar nicht, aber es war eine gute Entschuldigung. Er sah sie fragend an. »Wie erklärst du denn deine Abwesenheit jeden Morgen und jeden Nachmittag?«
»Ich bin oft am frühen Morgen ausgeritten, das ist also gar nicht so ungewöhnlich. Wenn Jessamy nicht im Stall steht, nehmen alle an, dass ich irgendwo reite und den Morgen genieße. Solange ich immer zum Mittagessen wieder zurück bin, wird sich niemand Sorgen machen.«
Sie gingen langsamer, als sie in den Schatten der alten Bäume traten, die am Rande der Wiese standen. Flick verzog das Gesicht. »Am Nachmittag ist das schon schwieriger, aber bis jetzt hat mich noch niemand gefragt, wohin ich reite. Ich nehme an, dass Foggy und Jacobs wissen, dass Dillon nicht zu Besuch bei Freunden ist, sondern dass er sich irgendwo in der Nähe aufhält – aber wenn sie mir keine Fragen stellen, dann können sie auch nichts verraten, wenn jemand sie aushorchen will.«
»Verstehe.« Er seufzte und überlegte, ob er es wagen könnte, ihre Hand zu nehmen und sie auf seinen Arm zu legen, sie somit zu zwingen, mit ihm zu gehen, und nicht, ihn zu führen. Aber er hatte gefühlt, dass sich ihr Körper angespannt hatte, als er zuvor ihre Hand ergriffen hatte, und sie hatte immerhin beinahe die Flasche mit dem Essig fallen lassen. Er unterdrückte ein Lächeln und entschied sich, lieber vorsichtig zu sein. »Es gibt keinen Grund, dass du nicht am Morgen nach dem Training noch im Stall bleiben kannst. Es wird dir viel mehr Freiheit geben, wenn du keine bestimmten Aufgaben zu erledigen hast.« Er hatte nicht die Absicht, die Befehle zu ändern, die er Carruthers gegeben hatte. »Allerdings wäre es unvernünftig, wenn du am Nachmittag noch länger bleiben würdest. Zu dieser Zeit ziehen sich die meisten der Jockeys und auch die Zuschauer in die Kneipen zurück.«
»Es gibt aber auch keinen Grund, nicht im Stall zu bleiben, bis sie gegangen sind.«
Demon runzelte insgeheim die Stirn. Sie hatte etwas Störrisches an sich, und ihre Haltung war entschlossen, das hatte er schon zuvor an ihr bemerkt, vorhin im Esszimmer, als sie Felicity gewesen war und nicht Flick. Flick war die rechtschaffene Kämpferin, Felicity war der Engel von Botticelli.
Er ging langsamer und betrachtete einige Narzissen, die sich im Wind bewegten. Hyazinthen und Glockenblumen wuchsen dazwischen und bildeten einen bunten Frühlingsteppich unter den Bäumen. Er deutete mit dem Kopf darauf. »Wunderschön, nicht wahr?«
Ein Engel sollte auf eine so natürliche Schönheit reagieren.
Flick warf kaum einen Blick auf die Schönheit der Natur. »Hm. Hast du schon irgendetwas gehört oder erfahren?« Sie schaute in sein Gesicht. »Du warst doch heute Morgen in der Stadt, nicht wahr?«
Er unterdrückte eine unwillige Bemerkung. »Ja, ja und ja.«
Sie blieb stehen und sah ihn erwartungsvoll an. »Und?«
Verärgert blieb Demon stehen. »Das Komitee wartet darauf, dass Dillon zurückkommt, um mit ihm über eine Anzahl von Rennen in der letzten Saison zu reden, bei denen sie misstrauisch geworden waren und sich fragen, warum der hoch gewettete Favorit nicht gewonnen hat.«
Sie wurde blass. »Oh.«
»In der Tat. Dieser Einfaltspinsel hat nicht einmal begriffen, dass es den Leuten auffallen würde, wenn er es sich plötzlich zur Gewohnheit macht, mit den Jockeys auf Du und Du zu sein, weil er das zuvor niemals getan hat.«
»Aber …« Flick runzelte die Stirn. »Die Aufseher haben noch nicht nach ihm gefragt.«
»Nicht die Aufseher, nein. In diesem Fall war das auch gar nicht nötig – wahrscheinlich haben jede Menge Mitglieder des Komitees in den letzten Wochen den General aufgesucht. Da war es nicht schwierig, zu erfahren, ob Dillon zu Hause ist oder nicht.«
»Das stimmt.« Dann wurden ihre Augen plötzlich ganz groß. »Sie haben doch dem General nicht etwa was gesagt, oder?«
Demon vermied es, sie anzusehen. »Nein, das Komitee sieht keinen Grund dafür, den General unnötig aufzuregen, und bis jetzt haben sie ja auch noch keine Beweise – sie sind nur misstrauisch.«
Als Flick erleichtert aufseufzte, sah er sie wieder an. »Wenn sie sich nur zurückhalten, bis Dillon wieder auftauchen kann …«
»Sie werden sich zurückhalten, solange sie können«, unterbrach er sie. »Aber sie werden nicht – sie können nicht – ewig warten. Dillon wird so bald wie möglich wieder auftauchen müssen, und zwar in dem Augenblick, in dem wir genügend Beweise für die Existenz des Syndikats haben.«
»Also müssen wir zuerst einen Erfolg verbuchen, indem wir Dillons Kontaktmann entlarven? Sind die Gerüchte, dass die Rennen beeinflusst worden sind, denn so weit verbreitet?«
»Nein. Unter den Eigentümern und den Trainern gibt es allerdings diese Gerüchte, aber die anderen wissen noch nichts davon. Einige der Jockeys oder Stallburschen sind vielleicht bereits misstrauisch geworden, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie etwas darüber sagen, nicht einmal untereinander werden sie darüber reden.«
Flick ging weiter. »Wenn nicht offen darüber geredet wird, wenn es keine Gerüchte gibt, dann ist es auch wenig wahrscheinlich, dass jemand etwas sagen wird.«
Demon antwortete ihr nicht, und Flick schien das nicht aufzufallen. Im Augenblick schien sie ihn nicht einmal zu bemerken. Sie hielt ihn wohl für einen freundlichen Onkel oder für jemanden, der ähnlich gutmütig war. Und das war so weit von der Wahrheit entfernt, dass es schon beinahe lächerlich war.
Und es ärgerte ihn auch.
Der Botticelli-Engel aus dem Speisezimmer, der Engel, der bei seiner Berührung erbebt war, der gezittert hatte, als sich ihre Finger berührten, war verschwunden.
Sie schaute ihn an. »Vielleicht könntest du mit den Jockeys anfangen, deren Pferde in der letzten Saison verloren haben. Ich nehme an, wenn sie vielleicht schon zuvor Bestechungsgeld angenommen haben, dann wird es doch nur wahrscheinlich sein, dass man vom Syndikat noch einmal auf sie zukommt.«
»Normalerweise schon. Wenn sie jedoch von den Verwaltern befragt werden, dann kann man davon ausgehen, dass sie nichts verraten werden. Wenn ihre Lizenz als Reiter auf dem Spiel steht, wird keiner der Jockeys sich selbst belasten.«
»Aber es muss doch etwas geben, was du machen kannst, solange ich in deinem Stall die Augen aufhalte.«
Demons Augen weiteten sich, und er hielt sich gerade noch zurück, ehe er mit einer bissigen Bemerkung antwortete und ihr auf diese Art viel mehr Informationen gab, als nötig war. »Mache dir um mich keine Sorgen. Ich bin sicher, dass ich einen Weg finde, dem ich folgen kann.« Er hatte bereits verschiedene Möglichkeiten im Kopf, doch hatte er nicht die Absicht, ihr das zu verraten. »Ich werde gleich damit anfangen, noch ehe ich mir das Training am Nachmittag ansehe.«
»Du könntest dich mit den Wettberatern beschäftigen oder mit den anderen Zuschauern, die am Rande der Ställe herumhängen.«
»In der Tat.« Demon konnte nicht anders – seine Schritte wurden länger, er erreichte sie, trat vor sie und blieb stehen.
Sie holte tief Luft, dann blieb sie ebenfalls stehen, um nicht mit ihm zusammenzustoßen. Sie sah zu ihm auf, und ihre Augen weiteten sich überrascht.
Er lächelte sie an. »Ich werde auch dich im Auge behalten.« Er hielt ihren Blick gefangen. »Daran solltest du nicht zweifeln.«
Sie blinzelte, doch zu seinem Ärger zeigte sich nicht ein Anflug einer Irritation in ihrem Blick. Stattdessen war ihr Blick eher verärgert. Sie betrachtete ihn einen Augenblick lang prüfend, dann zuckte sie mit den Schultern, trat einen Schritt zur Seite und ging um ihn herum. »Ganz, wie du willst, obwohl ich den Grund dafür nicht verstehen kann. Du weißt, dass ich mit The Flynn fertig werden kann, und Carruthers entgeht sowieso nichts.«
Demon unterdrückte einen Fluch, dann wandte er sich um und lief hinter ihr her. Es war ja nicht so, dass es ihm um The Flynn ging, und Flick hielt ihn, Demon, offensichtlich für nicht bedrohlich. Und auch wenn er gar nicht den Wunsch hatte, sie zu bedrohen, so wollte er sie ganz sicher in seinem Bett haben, und das hätte sie eigentlich nervös machen sollen, wenigstens ein wenig vorsichtig. Aber nein – nicht Flick.
Felicity war empfindsam – Felicity war vernünftig. Sie besaß genug Verstand, um sich Demons Anwesenheit bewusst zu sein. Felicity besaß einen gesunden Selbsterhaltungstrieb. Bei Flick war das jedoch, soweit er es sehen konnte, ganz anders. Sie hatte nicht einmal begriffen, dass er nicht der gütige Onkel war und ganz bestimmt nicht die Art von Mann, den ein junges Mädchen unter Kontrolle halten konnte.
»Es wird nicht der Ritt von The Flynn sein, den ich beobachten werde«, erklärte er und blieb an ihrer Seite.
Sie sah auf, ihre Blicke begegneten sich, und sie runzelte die Stirn noch mehr. »Es ist wirklich nicht nötig, mich zu beobachten – ich bin schon seit Jahren nicht mehr aus dem Sattel geflogen.«
»Wie dem auch sei«, schnurrte er. »Ich versichere dir, dich zu beobachten – meine Augen über deinen grazilen Körper gleiten zu lassen, während du auf einem meiner preisgekrönten Pferde sitzt -, denn das ist genau die Art von Benehmen, die man von einem Gentleman wie mir erwartet.«
»Ganz gleich, was du auch sagst, mich zu beobachten, während du die anderen Zuschauer im Auge behalten solltest, ist dumm. Es ist eine verschwendete Gelegenheit.«
»Für mich nicht.«
Flick stieß ein unwilliges Geräusch aus und vermied es, ihn anzusehen. Er machte absichtlich Schwierigkeiten – sie fühlte seine Verärgerung, auch wenn er sie zu verbergen versuchte, aber sie hatte keine Ahnung, welchen Grund er dafür hatte oder warum seine Worte noch weniger Sinn ergaben als die von Dillon. Sie ging weiter und bemühte sich, das Flattern in ihrem Magen zu ignorieren, ebenso ihre aufgebrachten Nerven und die anderen unerwünschten Erinnerungen an ihre Vernarrtheit in ihn, als sie noch ein Mädchen gewesen war.
Er war ihr Idol gewesen, seit sie zehn Jahre alt war und in der Bibliothek ein Buch über die Arbeiten von Michelangelo gefunden hatte. Darin hatte sie eine Skulptur entdeckt, die ihren Vorstellungen von einem gut aussehenden Mann entsprochen hatte. Doch Demon sah noch viel besser aus. Seine Schultern waren breiter, seine Brust muskulöser und seine Hüften schmaler, seine Beine waren länger, kräftiger – sein ganzer Körper sah besser aus. Und was den Rest betraf, so nahm sie nach allem, was sie über ihn gehört hatte, an, dass er auch dort noch besser ausgestattet war. Seine lässige Art, seine Liebe zu den Pferden und seine Verbindungen zur Welt des Rennsports trugen nur noch dazu bei, ihr Interesse zu wecken.
Sie hatte jedoch niemals den Fehler gemacht, sich vorzustellen, dass er ihre Gefühle erwiderte oder sie je erwidern würde. Er war elf Jahre älter als sie, und er konnte unter den schönsten Frauen und den gebildetsten Ladys der gehobenen Gesellschaft wählen. Es wäre äußerst dumm von ihr, sich einzubilden, dass er sie je bemerken würde. Aber eines Tages würde sie heiraten – schon bald. Sie war bereit, zu lieben und geliebt zu werden. Immerhin war sie schon zwanzig, und sie wartete und hoffte. Und wenn es nach ihren Vorstellungen ging, würde sie einen Gentleman heiraten, der genauso war wie Demon. Doch er blieb für sie ein unerreichbares Idol.
Sie machte eine ausladende Handbewegung. »Dieser zwielichtige Kontaktmann von Dillon ist vielleicht gar nicht aus dieser Gegend hier. Vielleicht sollte man sich einmal in den Hotels und Gasthöfen umhören …«
»Darum habe ich mich bereits gekümmert.«
»Oh.« Sie sah auf, und ihre Blicke trafen sich. Einen Augenblick waren seine blauen Augen eindringlich, dann sah er weg.
»Ich werde mich noch einmal umhören, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir auf diesem Weg etwas herausfinden. Immerhin sind wir hier in Newmarket, einem Ort, der voll ist von Gasthöfen und Tavernen. Es ist ein Ort, der zwielichtige Gestalten anzieht, und die meisten kommen nicht von hier aus der Gegend.«
Flick verzog das Gesicht. Sie gingen weiter durch den Garten. Die Ställe lagen vor ihnen, eingerahmt von hölzernen Torbogen, die von Glyzinien überwuchert waren. Sie betraten den Weg, der unter einem der Torbogen hindurchführte. »Dieser Kontaktmann«, begann sie noch einmal nachdenklich, »wer könnte das wohl sein? Einer aus dem Syndikat. Oder vielleicht ein anderer Helfer?«
»Es wird niemand aus dem Syndikat sein.« Demon schlenderte mit lässigen Schritten neben ihr her. Seine Hände hatte er in die Hosentaschen gesteckt. Sein Blick ruhte auf dem Kies vor seinen Füßen. »Wer immer diese Leute sind, das Syndikat hat wahrscheinlich Geld genug, und sie würden nicht das Risiko eingehen, dass man sie entdeckt. Nein – dieser Mann wird jemand sein, den sie angeheuert haben. Vielleicht ist er fest angestellt. Für uns wäre es das Beste.«
»Das heißt, wenn wir ihn identifiziert haben, könnten wir eine Möglichkeit bekommen, durch ihn an seine Hintermänner zu gelangen?«
Demon nickte. Dann blickte er auf und blieb stehen. Sie hatten das Ende des Bogenganges erreicht.
Auch Flick blickte auf und kniff die Augen zusammen, weil die Sonne über seine Schulter hinweg genau in ihre Augen schien. Er sah sie an, sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, doch sie fühlte seinen Blick und seine Anwesenheit mit jeder Faser ihres Körpers. Sie war daran gewöhnt, mit großen Pferden zu arbeiten. Jetzt, wo sie so nahe vor ihm stand, erinnerte sie sich wieder daran, dass er die gleiche Aura von körperlicher Kraft ausstrahlte, die gefährlich werden konnte, wenn man ihn herausforderte. Doch glücklicherweise bedeuteten weder die Pferde noch er für sie eine Gefahr. Innerlich schalt sie sich wegen ihrer Empfindsamkeit, dann legte sie schützend eine Hand über die Augen.
Und sah genau in seine Augen.
Ihr stockte einen Augenblick lang der Atem, sie fühlte sich orientierungslos, und sie wusste nicht mehr, wer sie war, wer er war und wie die Dinge zwischen ihnen wirklich standen. Doch dann änderte sich sein Blick, sie blinzelte und riss sich zusammen. Er sah sie weiterhin an, nicht gerade ernst, aber entschlossen, und den Ausdruck in seinen Augen kannte sie nicht, und sie verstand ihn auch nicht.
Sie wollte gerade fragend eine Augenbraue hochziehen, als er zu sprechen begann. »Jetzt kennst du die ganze Geschichte von Dillons Verwicklung in diese Sache. Bedauerst du es, dass du ihm deine Hilfe angeboten hast?«
»Ob ich das bedaure?« Sie dachte über seine Frage nach. »Ich glaube nicht, dass das die richtige Überlegung ist. Ich habe ihm schon immer geholfen – er steckt ständig in irgendwelchen Komplikationen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe immer geglaubt, dass er eines Tages erwachsen werden und damit aufhören wird. Doch bis jetzt ist das noch nicht der Fall.«
Demon betrachtete ihr Gesicht, sah den ehrlichen Blick ihrer blauen Augen. Sie verrieten ihm nicht, was sie für Dillon empfand, doch er fühlte ihren offensichtlichen Widerstand ihm gegenüber und fragte sich, ob Dillon wohl der Grund dafür war. Wenn sie und Dillon zusammen waren, so war sie der bestimmende Teil – sie war diejenige, die das Sagen hatte. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass Dillon von ihr abhängig war, und es war sogar möglich, dass ihr das gefiel. Zweifellos liebte sie es, die Führung zu übernehmen.
Und das war ja auch alles in Ordnung, aber …
»Also.« Blinzelnd sah sie zu ihm auf. »Was, denkst du, wird als Nächstes passieren?«
Nachdenklich zog er die Augenbrauen hoch. »Wahrscheinlich nicht viel.« Wenigstens nicht in seinem Stall. »Doch solltest du über irgendetwas stolpern, werde ich natürlich erwarten, dass du mich sofort benachrichtigst.«
»Natürlich.« Sie ließ die Hand wieder sinken und ging in Richtung auf den Stall weiter. »Wo wirst du sein?«
Überall würde er sich umsehen. »Schicke eine Nachricht auf das Gestüt – die Shephards wissen immer, wo sie mich finden können.«
»Ich werde dir eine Nachricht schicken, wenn ich etwas erfahre.« Am Rande des Gartens blieb sie stehen und streckte ihm die Hand hin. »Wir sehen uns dann in ein paar Stunden im Stall.«
Demon griff nach ihrer Hand. Er sah ihr in die Augen – und versank in den blauen Tiefen. Ihre Finger lagen vertrauensvoll und ruhig in seiner Hand. Er dachte daran, ihre Hand zu heben und einen leichten Kuss darauf zu drücken, er dachte daran …
Wahnsinn und Unsicherheit mischten sich in seinem Inneren.
Der Augenblick ging vorüber.
Er gab ihre Hand wieder frei. Mit einem hochmütigen Nicken wandte er sich ab, biss die Zähne zusammen und ging zu den Ställen. Bei jedem Schritt wurde ihm immer mehr bewusst, wie stark sein Wunsch war, diesen Botticelli-Engel zu packen – und sie mit in sein Bett zu nehmen.