17
 
Die Zeit verging wirklich wie im Flug, doch nicht so, wie Flick das gehofft hatte. Vier Tage später saß sie am Abend in Lady Horatias Kutsche und versuchte, nicht enttäuscht zu sein. Jede andere junge Lady würde sich über diesen Wirbel von Aktivitäten freuen. Sie war bei Almacks gewesen, auf Partys, Bällen, Musicals und Soireen. Was konnte sie sich noch mehr wünschen?
Die Antwort saß ihr gegenüber, in seiner üblichen schwarzen Kleidung. Als die Kutsche anfuhr, bewegten sich seine Schultern. Sie sah sein helles Haar und das blasse Oval seines Gesichtes, doch nicht seinen Gesichtsausdruck. Ihre Gedanken jedoch zeigten ihr diesen – er hatte wieder die übliche Maske für die Gesellschaft aufgesetzt. Höflich, mit einem Anflug kühlen Hochmutes, zeigte diese Maske leichte Langeweile. Er erlaubte sich keinen Anflug von Interesse, weder sinnlich noch sonst wie.
Immer öfter fragte sich Flick, ob dieses Interesse überhaupt noch bestand.
Tagsüber sah sie ihn fast nie. Seit der Ausfahrt in den Park hatte er sie nicht mehr besucht, und er war auch nicht im Park aufgetaucht, um an ihrer Seite über die Wiesen zu spazieren. Sie konnte ja verstehen, dass er vielleicht mit anderen Dingen beschäftigt war, aber sie hatte nicht erwartet, dass er sie in die Stadt bringen und sie dann allein lassen würde.
Wäre nicht die Freundschaft mit den Zwillingen gewesen und die Wärme seiner Familie, sie hätte sich verloren gefühlt – so allein wie damals, als ihre Eltern gestorben waren.
Dennoch hatte sie noch immer den Eindruck, dass er sie heiraten wollte und dass alle erwarteten, dass sie schon sehr bald heiraten würden. Ihre Worte, die sie zu den Zwillingen gesagt hatte, verfolgten sie. Sie hatte zwar die Wahl getroffen, aber sie hatte sich noch nicht dazu durchgerungen, dies auch deutlich zu machen. Wenn diese Wahl bedeutete, dass sie ein Leben wie dieses würde führen müssen, dann war sie nicht sicher, ob sie das auch ertragen könnte.
Die Kutsche hielt an, dann bewegte sie sich noch ein Stück weiter und hielt noch einmal an, diesmal unter dem hell erleuchteten Portikus des Arkdale House. Demon streckte die langen Beine aus – die Tür der Kutsche öffnete sich, und er stieg aus, wandte sich um, half zuerst ihr und dann seiner Mutter aus der Kutsche. Horatia schüttelte ihre Röcke, strich ihre Frisur glatt und nahm dann den Arm des Butlers, der sie ins Haus führte. Sie überließ es Demon, Flick ins Haus zu begleiten.
»Sollen wir?«
Flick blickte in sein Gesicht, doch es war die übliche Maske, die sie immer sah, und seine Stimme klang gelangweilt – wie immer. Überaus korrekt bot er ihr den Arm. Sie senkte zustimmend den Kopf und legte die Fingerspitzen auf seinen Arm.
Während sie das Haus betraten und die geschwungene Treppe hinaufgingen, lächelte sie – und versuchte, nicht auf seine steife Haltung zu achten, auf den Arm, den er so abgewinkelt hatte, dass sie ihm nicht zu nahe kam. So war es in letzter Zeit immer. Er zog sie nicht länger an sich, als wäre sie etwas ganz Besonderes für ihn.
Sie begrüßten Lady Arkdale, dann folgten sie Horatia zu einer chaise an der Wand. Demon bat sie um den ersten Kotillon und den ersten Ländler nach dem Essen, dann verschwand er in der Menschenmenge.
Flick unterdrückte einen Seufzer und hielt den Kopf hoch erhoben. Es war immer das Gleiche – er begleitete sie gewissenhaft auf jeden Ball, doch es ging nie darüber hinaus, dass sie die Hand auf seinen Arm legte, auf dem Weg ins Haus oder bei einem Kotillon oder einem Ländler, bei dem sie sich noch weniger nahe kamen. Es gab immer wieder ein unnatürlich geziertes Essen, bei dem sie von ihren Bewunderern umgeben war, ein paar Blicke über die Köpfe der Menschen hinweg, und dann legte sie noch einmal die Hand auf seinen Arm, wenn sie wieder gingen. Wie sich nur jemand vorstellen konnte, dass es zwischen ihnen beiden eine Beziehung gab – irgendetwas, das schließlich zu einer Ehe führen würde -, das konnte sie nicht verstehen.
Wenn er ging, war das das Signal für ihre Verehrer, sich um sie zu versammeln. Sie bemühte sich um den angemessen freudigen Ausdruck auf ihrem Gesicht, dann widmete sie sich den jungen Gentlemen, die ihr zu Füßen sinken würden, sobald sie das zuließ.
Auch dieser Abend entwickelte sich genauso wie die anderen Abende, die diesem vorangegangen waren.
 
»Also – Vorsicht!«
»Oh! Es tut mir so Leid.« Flick errötete, dann lächelte sie ihren Partner, Lord Bristol, einen ernsthaften jungen Gentleman, entschuldigend an. Sie wirbelten in einem Walzer über die Tanzfläche, doch leider fand Flick, dass dieser Tanz mit einem anderen Mann als Demon eher eine Plage als ein Vergnügen war.
Denn wenn sie nicht mit ihm tanzte, versuchte sie ständig, ihn irgendwo zu entdecken, während er am Rande der Tanzfläche stand und sich unterhielt.
Es war eine schreckliche Angewohnheit, und sie rief sich deswegen immer wieder zur Ordnung. Doch es nützte nichts. Wenn er da war, wurden ihre Blicke wie magisch von ihm angezogen – sie konnte es nicht verhindern. Glücklicherweise waren die Ballsäle in der gehobenen Gesellschaft riesig und ständig überfüllt. Ein schneller Blick war also alles, was ihr je gelang. Ihren Partnern war, soweit Flick das beurteilen konnte, ihre Angewohnheit noch nicht aufgefallen.
Noch nicht einmal dann, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte.
Innerlich zuckte sie zusammen und ermahnte sich ernsthaft, dass sie aufmerksamer sein musste. Sie hasste es, sich so dumm zu benehmen. Wieder einmal verhielt sie sich wie das vernarrte Mädchen von früher, das zwischen dem Treppengeländer hindurchgeschaut hatte, um ihn irgendwo zu entdecken. Ihr Idol. Der einzige Mann, den sie je gewollt hatte, der jedoch weit außerhalb ihrer Reichweite gewesen war. Mehr und mehr hatte sie das Gefühl, dass es noch immer so war.
Sie mochte es nicht, ihn zu beobachten, und dennoch tat sie es – wie unter einem geheimen Zwang. Und was sie sah, machte ihr keine Freude. Es war ganz unvermeidlich, dass ständig eine Frau an seiner Seite war, irgendeine schrecklich schöne Frau, die den Kopf gehoben hatte, um in sein Gesicht zu sehen, die über eine gewagte Bemerkung von ihm lächelte oder lachte. Ein schneller Blick genügte, um alles in sich aufzunehmen – die lässig eleganten Gesten, die messerscharfen, klugen Bemerkungen, das elegante und verführerische Hochziehen seiner Augenbrauen.
Die Frauen drängten sich nahe an ihn, und er ließ es zu. Einige hoben sogar die weiße Hand, um sie ihm auf den Arm oder auf seine Schulter zu legen, sie lehnten sich an ihn, während sie ihn bezauberten und neckten und ihn dazu verlockten, seine Verführungskünste an ihnen auszuprobieren, die er ihr nicht länger zeigte.
Warum sie immer wieder zu ihm hinsah – warum sie sich selbst quälte -, das wusste sie nicht. Aber sie tat es trotzdem.
»Glauben Sie, das Wetter wird morgen so schön bleiben?«
Flick konzentrierte sich wieder auf Lord Bristol. »Ich denke schon.« Seit einer Woche war der Himmel blau.
»Ich hatte gehofft, Sie würden mir und meinen Schwestern die Ehre erweisen, uns auf einer Fahrt nach Richmond zu begleiten.«
Flick lächelte freundlich. »Danke, aber ich fürchte, Lady Horatia und ich sind morgen schon beschäftigt.«
»Oh – ja, natürlich. Es war auch nur so ein Gedanke.«
Flick legte einen Anflug von Bedauern in ihr Lächeln und wünschte sich, es wäre Demon gewesen, der sie gebeten hätte, ihn zu begleiten. Sie machte sich nichts aus den ständigen Abwechslungen, die in dieser Gesellschaft üblich waren, eine Fahrt nach Richmond hätte ihr allerdings gefallen, aber sie durfte in Lord Bristol nicht die Hoffnung wecken, dass er bei ihr eine Chance hatte.
Das Essen war bereits vorüber, Demon hatte sie mit kühler Freundlichkeit abgeholt und sie steif in das Esszimmer begleitet, dann hatte er neben ihr gesessen und kein einziges Wort gesprochen, während ihre Verehrer sich bemüht hatten, sie zu unterhalten. Dieser Walzer war gleich nach dem Essen gefolgt, und ohne nachzudenken hatte sie getanzt und darauf gewartet, dass sie noch einmal einen Blick auf das Objekt ihrer Begierde werfen konnte. Er stand am anderen Ende des Raumes.
Dann wirbelte Lord Bristol sie herum. Sie sah zu Demon – und hätte beinahe erschrocken aufgekeucht. Sie wurde wieder herumgewirbelt, holte tief Luft und versuchte, ihren Schock zu verbergen. Ihre Lungen zogen sich zusammen, es tat richtig weh.
Wer war sie – die Frau, die ihn beinahe umarmt hatte? Sie war erstaunlich schön – dunkles Haar war hoch aufgetürmt um ein wundervolles Gesicht, und ein Körper, der üppigere Rundungen aufwies, als Flick sich jemals vorstellen konnte. Und was noch viel schlimmer war, sie war ihm so nahe, und die Art, wie sie ihn ansah, schrie förmlich danach, dass die beiden eine Beziehung hatten.
Lord Bristol, der glücklicherweise von alldem nichts bemerkte, wirbelte sie durch den Raum. Alles um sie herum wurde schwarz, eine segensreiche Erleichterung der schrecklichen Eifersucht, die sie erfasst hatte. Ihr war schwindlig.
Die Musik hörte auf, der Tanz war zu Ende. Lord Bristol ließ sie los – sie wäre beinahe gestolpert, und erst im letzten Augenblick erinnerte sie sich daran, einen Knicks vor ihm zu machen.
Flick wusste, dass sie blass geworden war. Innerlich zitterte sie. Sie lächelte Lord Bristol schwach an. »Danke.« Dann wandte sie sich um und verschwand in der Menschenmenge.
 
Sie hatte gewusst, dass er eine Geliebte hatte.
Das Wort ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Als sie sich blind durch die Menge schob, kam ihr der Instinkt zu Hilfe, und sie ging zu der Palmengruppe hinüber. Es war zwar kein Alkoven dahinter, doch im Schatten der großen Blätter in der Nähe der Wand fand sie Schutz.
Nicht ein einziges Mal stellte sie die Richtigkeit ihrer Vermutung infrage. Sie wusste, dass sie Recht hatte. Was sie nicht wusste, war, was sie jetzt tun sollte. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so verloren gefühlt.
Der Mann, den sie gerade beobachtete, der Mann, der die Augen halb geschlossen hatte, während er Scherze mit seiner Geliebten machte, war nicht der Mann, den sie von der Heide in Newmarket kannte – der Mann, dem sie sich willig im besten Zimmer im Gasthof Angel hingegeben hatte.
Ihr Verstand arbeitete nicht richtig – Bruchstücke ihres Problems kamen an die Oberfläche, doch sie konnte das ganze Bild nicht sehen.
»Ich kann sie im Augenblick nicht entdecken, aber sie ist ein so hübsches kleines Ding. Recht passend. Jetzt, wo Horatia sie unter ihre Fittiche genommen hat, wird zweifellos alles gut gehen.«
Die Worte kamen von der anderen Seite der Palme, mit mütterlich anerkennendem Ton. Flick blinzelte.
»Hm«, antwortete eine zweite Stimme. »Nun, man kann ihm wohl kaum vorwerfen, dass er vernarrt ist in sie, nicht wahr?«
Flick blickte zwischen den langen Blättern hindurch – zwei alte Ladys lehnten auf ihren Stöcken und schauten suchend durch den Ballsaal.
»So sollte es auch sein«, meinte die Erste. »Ich bin sicher, dass es genauso ist, wie Hilary Eckles es gesagt hat – er hatte genügend Verstand, zu erkennen, dass es Zeit war, sich eine Frau zu nehmen, und er hat gut gewählt. Sie ist ein wohlerzogenes Mädchen, das Mündel eines Freundes der Familie. Es ist zwar keine Liebesheirat, aber das ist auch besser so!«
»In der Tat.« Die Zweite nickte entschieden. »Diese Liebesheiraten sind so ermüdend gefühlvoll. Ich selbst sehe wirklich keinen Sinn darin.«
»Sinn?« Die Erste schnaufte verächtlich. »Weil es keinen Sinn gibt. Doch leider ist das gerade die neueste Mode.«
»Hm.« Die zweite Lady hielt einen Augenblick inne, doch dann sprach sie mit einer ein wenig verwunderten Stimme weiter. »Scheint eigenartig für einen Cynster, nicht nach der Mode zu gehen, ganz besonders in diesem Punkt.«
»Das stimmt. Aber wie es scheint, ist Horatias Junge der Erste, der einen klaren Kopf behält. Er mag ja ein Satansbraten sein, aber in dieser Hinsicht hat er einen ganz ungewöhnlichen Verstand entwickelt. Nun ja« – die Lady machte eine ausladende Geste mit der Hand -, »wo wären wir wohl gelandet, wenn wir zugelassen hätten, dass die Liebe unseren Verstand ausschaltet?«
»Genau. Dort ist Thelma – mal sehen, was sie dazu zu sagen hat.«
Die beiden Ladys stapften davon. Sie stützten sich schwer auf ihre Stöcke, doch Flick fühlte sich nicht länger sicher hinter den Palmen. In ihrem Kopf drehte sich alles. Der Ruheraum schien wohl der beste Platz für sie zu sein.
Sie schlüpfte durch die Menschenmenge, ging allen, die sie kannte, aus dem Weg, ganz besonders den Cynsters. Als sie die Tür zum Flur erreicht hatte, trat sie in die Schatten. Eine kleine Dienstmagd sprang von einem Hocker auf und führte sie in das Zimmer, das für die Ladys bereitgestellt worden war, damit sie sich erfrischen konnten.
Der Raum war auf der Seite hell erleuchtet, an der einige Spiegel hingen, der Rest lag im Schatten. Flick ließ sich von der Zofe ein Glas Wasser reichen und zog sich dann in einen Sessel im Schatten zurück. Sie nippte an dem Wasser und saß einfach nur da. Andere Ladys kamen und gingen, niemand entdeckte sie in der dunklen Ecke. Allmählich fühlte sie sich besser.
Dann öffnete sich die Tür weit, und Demons Geliebte betrat das Zimmer. Eine der Ladys, die vor dem Spiegel stand, entdeckte sie und wandte sich lächelnd zu ihr um. »Celeste! Und wie geht es mit deiner Eroberung?«
Celeste war stehen geblieben, hatte die Hände auf ihre üppigen Hüften gestützt und sah sich in dem Raum um. Ihr Blick ruhte ganz kurz auf Flick und glitt dann zu ihrer Freundin. Sie lächelte; es war ein Lächeln voll weiblicher Sinnlichkeit. »Also, es geht, chérie – es geht!«
Die Ladys vor dem Spiegel lachten.
In einer sinnlichen Bewegung, die die Aufmerksamkeit auf ihre üppigen Hüften lenkte, auf die schmale Taille und die vollen Brüste, schritt Celeste durch das Zimmer. Vor einem langen Spiegel blieb sie stehen und betrachtete kritisch ihre Erscheinung.
Die anderen Ladys warfen einander viel sagende Blicke zu, zogen die Augenbrauen hoch und gingen, bis auf Celeste und ihre Freundin, die kunstvoll ihre Lippen rot malte.
»Du hast es schon gehört, nicht wahr?«, murmelte Celestes Freundin. »Es gibt Gerüchte, dass er heiraten wird.«
»Hm«, schnurrte Celeste. Ihr Blick glitt zu Flick. »Aber warum sollte ich mir deshalb Sorgen machen. Ich will ihn ja nicht heiraten
Ihre Freundin kicherte. »Wir wissen alle, was du willst, aber er hat vielleicht andere Ideen. Wenigstens, wenn er erst einmal verheiratet ist. Immerhin ist er ein Cynster.«
»Das verstehe ich nicht.« Celeste hatte einen ganz besonderen Akzent, einen, den Flick nicht genau definieren konnte, doch er machte ihre Stimme noch sinnlicher, noch herausfordernder. »Was macht denn schon sein Name aus?«
»Nicht sein Name – seine Familie. Nicht einmal das, aber … nun ja, sie alle sind erstaunlich beständige und gute Ehemänner.«
Celeste verzog den Mund, dann legte sie den Kopf ein wenig schief – unter den halb geschlossenen Lidern blitzten ihre Augen. Absichtlich lehnte sie sich zum Spiegel vor, und ihre Finger glitten herausfordernd über ihre vollen Rundungen und den tiefen Ausschnitt ihres Kleides, der die Ansätze ihrer Brüste enthüllte. Dann reckte sie sich wieder, hob anmutig die Arme und wandte sich halb um, um auch ihre Rückseite betrachten zu können, die sich in ihrem Satinkleid deutlich zeigte. Dann fiel ihr Blick auf Flick. »Ich nehme an«, schnurrte sie, »dass es in diesem Fall eine Ausnahme geben wird.«
Flick fühlte sich elender als zu dem Zeitpunkt, als sie diesen Raum betreten hatte. Sie stand auf. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, zu dem Tisch neben der Tür zu gehen. Mit zitternden Fingern stellte sie das Glas ab – das Geräusch lenkte die Aufmerksamkeit von Celestes Freundin auf sie. Als Flick durch die Tür verschwand, sah sie noch den entsetzten Blick auf ihrem Gesicht und hörte, wie sie aufstöhnte: »O Gott!«
Die Tür schloss sich hinter Flick, und sie stand in dem nur schwach erhellten Flur. Der Drang wegzulaufen war übermächtig. Aber wie konnte sie einfach verschwinden? Sie holte tief Luft und hob das Kinn. Trotz der Übelkeit und dem Schwindelgefühl, das sie erfasst hatte, ging sie zurück in den Ballsaal und versuchte, nicht an das zu denken, was sie gehört hatte.
Sie war noch keine drei Schritte gegangen, als aus dem Schatten plötzlich eine Gestalt trat.
»Da bist du ja, Miss! Ich suche dich schon seit Stunden.«
Flick blinzelte – und sah in das verkniffene Gesicht ihrer Tante Scroggs. Sie nahm den letzten Rest an Würde zusammen und machte einen höflichen Knicks. »Guten Abend, Tante. Ich habe gar nicht gewusst, dass du hier bist.«
»Zweifellos! Du warst bei weitem viel zu beschäftigt mit diesen jungen Kerlen um dich herum. Und genau darüber will ich mit dir reden.« Edwina Scroggs legte ihre dürren Finger um Flicks Arm und blickte in Richtung auf den Ruheraum.
»Dort sind Ladys drin.« Flick konnte es nicht ertragen, noch einmal dort hineinzugehen, geschweige denn, ihrer Tante zu erklären, warum sie das nicht wollte.
»Hm!« Edwina sah sich um, dann zog sie Flick zur Seite in die Nähe der Wand, an der ein großer Wandbehang hing. »Dann werden wir hiermit vorlieb nehmen müssen – es ist ja niemand in der Nähe.«
Diese Bemerkung ließ Flick einen Schauer über den Rücken rinnen. Lady Horatia hatte ihr geholfen, ihre Tante wieder zu finden, und sie hatte sie am Anfang ihrer Zeit in London besucht. Doch zwischen ihnen gab es nicht mehr als nur ein Pflichtgefühl – ihre Tante hatte gesellschaftlich unter ihrem Stand geheiratet und lebte jetzt als ärmliche Witwe, obwohl sie eigentlich recht wohlhabend war.
Edwina Scroggs war von Flicks Eltern dafür bezahlt worden, sich für die kurze Zeit, die sie eigentlich hatten wegbleiben wollen, um Flick zu kümmern. In dem Augenblick, in dem die Nachricht von ihrem Tod sie erreicht hatte, hatte Mrs. Scroggs erklärt, dass man von ihr nicht erwarten konnte, ein Mädchen von sieben Jahren bei sich wohnen zu lassen, es zu versorgen und zu behüten. Sie hatte Flick der Gnade der Familie ausgeliefert – und Gott sei Dank war der General bereit gewesen, sich um sie zu kümmern.
»Es geht um all die jungen Leute, die an deinen Röcken hängen.« Edwina kam Flick ganz nahe und zischte: »Vergiss sie, hast du mich gehört?« Sie hielt Flicks erstaunten Blick gefangen. »Es ist meine Pflicht, dich in die richtige Richtung zu lenken, und es wäre in der Tat ein Fehler, wenn ich es dir nicht sagen würde. Du wohnst bei den Cynsters – und in der Stadt wird geflüstert, dass der Sohn ein Auge auf dich geworfen hat.«
Edwina kam ihr noch näher, und Flick konnte nicht mehr atmen.
»Mein Rat an dich, Miss, ist es, dafür zu sorgen, dass er dich nimmt. Du bist schnell genug – und diese Chance ist zu gut, als dass du sie dir entgehen lassen solltest. Die Familie gehört zu den reichsten Familien des Landes, aber sie können ein wenig hochnäsig sein. Also hör auf meinen Rat und sorge dafür, dass du so schnell wie möglich seinen Ring an deinen Finger bekommst. Und du weißt, wie du das machen musst.« Edwinas Augen leuchteten. »Wie es scheint, sind die Cynsters immer bereit, das zu nehmen, was sie bekommen können. Dieses Haus ist riesig genug – es wird wohl nicht schwer sein, ein ruhiges Zimmer zu finden, wo du …«
»Nein!« Flick schob sich an ihrer Tante vorbei und lief den Flur entlang.
Kurz vor den hellen Lichtern, die aus dem Ballsaal fielen, blieb sie stehen. Sie ignorierte den überraschten Blick der kleinen Zofe, presste die Hand auf die Brust, schloss die Augen und bemühte sich, tief Luft zu holen, ihre dummen Tränen zurückzudrängen und das Dröhnen in ihrem Kopf zu unterdrücken.
Cynsters sind immer bereit, sich das zu nehmen, was sie bekommen können.
Es gelang Flick, zweimal durchzuatmen, dann hörte sie die Schritte ihrer Tante, die näher kamen …
Sie atmete noch einmal tief ein, öffnete die Augen und ging dann in den Ballsaal.
Und stieß dort mit Demon zusammen.
»Oh!« Es gelang ihr, einen Aufschrei zu unterdrücken, dann senkte sie den Kopf, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Instinktiv schlossen sich seine Hände fest um ihre Arme.
Und dann packte er noch fester zu. »Was ist los?«
Seine Stimme klang eigenartig ausdruckslos. Flick wagte nicht, zu ihm aufzusehen – sie schüttelte den Kopf. »Nichts.«
Er hielt sie noch fester. Wie eiserne Klammern lagen seine Finger um ihre Oberarme. »Verdammt, Flick …!«
»Es ist nichts.« Sie wand sich. Er war so viel größer als sie. Sie standen neben der Tür, deshalb hatten sie bis jetzt noch keine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. »Du tust mir weh«, zischte sie.
Sofort lockerte sich sein Griff. Doch er hielt noch immer ihre Oberarme fest und schob sie ein wenig von sich. Dann glitten seine Hände beruhigend über ihre Arme auf und ab, seine warmen Handflächen strichen ihre nackte Haut und schoben sich unter den seidenen Stoff ihrer Ärmel. Seine Berührung war so voller Erinnerungen, so verlockend, dass sie am liebsten aufgeschluchzt und sich in seine Arme geworfen hätte …
Doch das konnte sie nicht.
Sie reckte sich zu ihrer vollen Größe, holte tief Luft und hob den Kopf. »Es ist nichts«, wiederholte sie und sah über seine Schulter hinweg zu den Paaren, die sich auf der Tanzfläche drehten.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte Demon über ihren Kopf hinweg in die Schatten auf dem Flur. »Was hat deine Tante dir gesagt, das dich so aufgeregt hat?« Seine Stimme klang ganz ruhig – viel zu ruhig. Sie klang tödlich ruhig, und genauso fühlte er sich auch.
Flick schüttelte den Kopf. »Nichts!«
Er betrachtete ihr Gesicht, doch sie vermied es, ihn anzusehen. Sie war so weiß wie die Wand und … zerbrechlich war das Wort, das ihm sofort in den Sinn kam. »War es einer dieser jungen Hunde – die ständig auf deinen Fersen sind?« Wenn das so war, würde er ihn umbringen.
»Nein!« Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. »Es war nichts
Die Kraft, die sie brauchte, um sich zusammenzureißen, entging ihm nicht. Er rührte sich nicht – solange er vor ihr stand, war sie geschützt vor neugierigen Blicken.
»Es war nichts«, wiederholte sie noch einmal, und diesmal klang ihre Stimme fester.
Sie zitterte innerlich – er konnte es fühlen. Am liebsten hätte er sie mit sich gezogen, in ein verlassenes Zimmer, wo er sie in seine Arme nehmen, ihren Widerstand brechen und erfahren konnte, was los war, doch er traute es sich nicht zu, allein mit ihr zu sein. Nicht in seiner augenblicklichen Verfassung. Es war zuvor schon schlimm gewesen. Doch jetzt …
Er holte tief Luft und nutzte die Zeit, die sie brauchte, um sich zu beruhigen, um seine eigenen angespannten Nerven wieder unter Kontrolle zu bekommen. Und um seine Dämonen in Schach zu halten.
Die Last, die er willentlich auf sich genommen hatte, erwies sich als viel schwerer, als er erwartet hatte. Keine Zeit mit ihr verbringen zu können – nicht einmal, wenn sie zusammen in einem Ballsaal waren -, stellte seine Selbstkontrolle auf eine harte Probe. Aber er hatte es so gewollt, und jetzt musste er seine Rolle spielen.
Zu ihrem Schutz musste er sich von ihr fern halten.
Diese Strafe war hart genug zu ertragen – er konnte nichts gebrauchen, was seine Last noch vergrößerte. Es war schon schlimm genug, dass er sich zwingen musste, all seine Instinkte zu unterdrücken und zuzusehen, wie sie mit anderen Männern Walzer tanzte. Bis sie einverstanden war, ihn zu heiraten, und sie die öffentliche Ankündigung machen konnten, wagte er es nicht, in der Öffentlichkeit einen Walzer mit ihr zu tanzen. Und da er so viel älter war als sie und ein erfahrener Schwerenöter und da sie so unschuldig war, konnten sie nie allein sein, es sei denn, sie wären förmlich verlobt.
Er reckte sich und löste seine Hände von ihren Armen – sie zitterte, als sie die Wärme seiner Berührung nicht länger fühlte. Mit zusammengebissenen Zähnen holte er tief Luft.
Wie lange er warten konnte, wusste er nicht. Jeden Abend wurde seine Qual größer. Die Frauen, mit denen er bis jetzt zusammen gewesen war, hatten versucht, ihn auf die Tanzfläche zu locken, doch er hatte nicht den Wunsch, mit ihnen einen Walzer zu tanzen. Er wollte seinen Engel, nur sie, aber die anderen hatte er als Ablenkung benutzt – nicht für sich, sondern für die gehobene Gesellschaft.
Heute Abend war es Celeste gewesen – beinahe war es ihm gelungen, sich abzulenken, indem er der aufreizenden Gräfin in recht deutlichen Worten ihren congé gegeben hatte, denn es hatte sich herausgestellt, dass sie ihn anders nicht verstand. Verärgert hatte sie sich von ihm gelöst und war beleidigt davongeschwebt, und er hoffte, dass sie nicht zurückkam. Einen Augenblick lang fühlte er sich gut – sein Erfolg machte ihn beinahe übermütig. Doch dann hatte er aufgeblickt und hatte Flick in den Armen dieses jungen Bristol gesehen.
Er wandte sich um und sah über die Tanzfläche. Die Paare formierten sich zum nächsten Ländler, einem der Tänze, die er sich mit Flick zu tanzen erlaubte. Soweit er wusste, waren all ihre jugendlichen Verehrer irgendwo auf der Tanzfläche. Was also hatte sie so aufgeregt?
Er sah sie noch einmal an. Sie war jetzt ruhiger, und ein wenig Farbe war in ihre Wangen zurückgekehrt. »Vielleicht sollten wir lieber einen Spaziergang machen, anstatt miteinander zu tanzen.«
Sie warf ihm einen erschrockenen Blick zu. »Nein! Ich meine …« Sie schüttelte heftig den Kopf, dann sah sie weg. »Nein, lass uns tanzen.«
Sie klang plötzlich ein wenig atemlos, Demon runzelte die Stirn.
»Ich schulde dir einen Tanz – du stehst auf meiner Tanzkarte.« Sie schluckte, dann nickte sie. »Das ist es doch, was du von mir willst, also lass uns tanzen. Die Musik fängt an.«
Er zögerte, doch dann verbeugte er sich vor ihr und führte sie auf die Tanzfläche.
In dem Augenblick, in dem er ihre Hand nahm, wusste er, dass es richtig gewesen war, ihr ein wenig Zeit zu geben, um sich zu beruhigen. Sie war so angespannt, und wenn er sie noch weiter bedrängte, würde sie zerbrechen. Sie hielt sich mit letzter Willenskraft aufrecht – alles, was er jetzt noch tun konnte, war, sie, so gut es ging, zu unterstützen.
Es war schon richtig, dass er bei ihr war. Er konnte die Tänze mit geschlossenen Augen tanzen, aber sie hatte die Schritte erst in den letzten Wochen gelernt. Sie musste sich auf die Schritte konzentrieren, doch das gelang ihr im Augenblick nicht. Also führte er sie wie ein nervöses Fohlen an der Leine. Die meiste Zeit hielten sie einander an den Händen, und indem er ihre Finger in die eine oder andere Richtung drückte, führte er sie durch die Figuren des Tanzes.
Er hatte noch nie zuvor gesehen, dass sie ungeschickt war, doch zweimal stolperte sie fast, und sie stieß mit zwei anderen Ladys zusammen.
Was, zum Teufel, war nur los?
Irgendetwas hatte sich verändert, nicht heute Abend, sondern ganz langsam. Er hatte sie genau beobachtet, er irrte sich nicht. In ihrem Blick hatte Freude gelegen, eine Freude am Leben, die in den letzten Tagen allmählich verschwunden war. Es war nicht das sinnliche Leuchten gewesen, es war etwas anderes – etwas Einfacheres, das er jetzt kaum noch entdecken konnte.
Die Musik endete schwungvoll, die Tänzer verbeugten sich voreinander und knicksten. Flick wandte sich ab und holte tief Luft. Demon wusste, dass sie erleichtert aufatmete. Er zögerte einen Augenblick, dann nahm er ihre Hand und legte sie auf seinen Arm. »Komm«, sagte er, als sie zu ihm aufsah, »ich bringe dich zu meiner Mutter.«
Sie zögerte, doch dann stimmte sie ihm mit einem leichten Nicken ihres Kopfes zu.
Er gab sie erst wieder frei, als er sie bis zu der chaise gebracht hatte, auf der seine Mutter saß und sich unterhielt. Horatia blickte flüchtig auf, doch dann wandte sie sich sofort wieder ihrer Unterhaltung zu. Demon hätte ihr etwas gesagt, wenn ihm die richtigen Worte eingefallen wären. Er sah auf Flick hinunter. Sie vermied es noch immer, ihn anzusehen, und sie war noch immer sehr angespannt. Er wagte es nicht, sie zu drängen.
Er bereitete sich auf seinen inneren Kampf vor, den er jedes Mal kämpfte, wenn er sie verließ, dann neigte er steif den Kopf. »Ich überlasse dich jetzt deinen Freunden.«
Ihre Verehrer versammelten sich beinahe augenblicklich wieder um sie. Demon zog sich an den Rand der Tanzfläche zurück, beobachtete die Gruppe, konnte aber nicht feststellen, dass einer ihrer Bewunderer eine Bedrohung für ihn darstellte. In der Tat schien sie die jungen Männer zu behandeln wie die jungen Hunde, als die er selbst sie auch sah. Mit einem abwesenden Gesichtsausdruck hörte sie ihnen zu.
Er wollte zu ihr zurückgehen und sie alle vertreiben, aber das war ein Benehmen, das niemand dulden würde. Seine Mutter würde ihm das niemals verzeihen, und Flick vielleicht auch nicht. Er konnte sich nicht einmal zu ihnen gesellen, denn er wäre vollkommen fehl am Platz zwischen ihren jugendlichen Verehrern, er würde wie ein Wolf unter vielen Schafen aussehen.
Der Abend war, Gott sei Dank, beinahe vorüber.
Er unterdrückte ein unwilliges Brummen und zwang sich, wegzugehen und sie nicht so voller Verlangen anzustarren.
 
Das Schicksal hatte an diesem Abend noch eine Versuchung für ihn bereit.
Er lehnte an einer Wand und beobachtete Flick, als ein Gentleman, der genauso lässig elegant aussah wie er selbst, ihn entdeckte, ihm zulächelte und dann zu ihm herübergeschlendert kam.
Demon ignorierte das Lächeln. Er nickte grimmig. »Guten Abend, Chillingworth.«
»Man würde gar nicht glauben, dass es ein guter Abend ist, wenn man Ihren Gesichtsausdruck betrachtet, lieber Junge.« Er blickte über die Köpfe zu der Stelle, an der Flick sich die Zeit vertrieb, mit einer Freude, die ein wenig gekünstelt war, dann vertiefte sich sein Lächeln. »Ein leckeres kleines Ding, das gestehe ich Ihnen zu, aber ich hätte niemals geglaubt, dass ausgerechnet Sie sich mit so etwas belasten würden.«
Demon tat so, als hätte er nicht verstanden. »Mit was?«
»Also wirklich …« Chillingworth wandte ihm das Gesicht zu und sah ihn an. »Mit dieser Qual, natürlich.«
Demon bemühte sich, nicht allzu wütend auszusehen, doch seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Chillingworth grinste breit und sah noch einmal zu Flick. »Devil war natürlich dazu verdammt, das Ganze durchzustehen, aber ihr anderen hattet doch einen viel größeren Spielraum. Vane hatte genügend Verstand, diesen Spielraum auszunutzen und Patience zu heiraten. Richard – ihn habe ich immer als den Vernünftigsten gesehen – hat seine wilde Hexe in Schottland geheiratet, so weit weg von all dem Wirbel wie nur möglich. Also …« Nachdenklich betrachtete Chillingworth Flick und sprach dann weiter. »Ich frage mich, warum … warum Sie sich so sehr strafen.« Belustigtes Verstehen blitzte in seinen Augen auf, als er Demon ansah. »Sie müssen doch zugeben, dass das nicht sehr angenehm ist.«
Demon hatte nicht die Absicht, überhaupt etwas zuzugeben, und ganz sicher nicht das, was Chillingworth hören wollte: dass seine inneren Dämonen frustriert brüllten, dass er kaum noch schlief, kaum noch aß und dass er sich körperlich extrem unwohl fühlte. Er hielt Chillingworth’ Blick stand. »Ich werde es überleben.«
»Hm.« Chillingworth verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. »Ihre innere Kraft macht mich« – erneut drehte er sich um und betrachtete Flick – »neidisch.«
Demon erstarrte.
»Aber Sie wissen ja«, murmelte Chillingworth, »junge unschuldige Damen waren noch nie meine Vorliebe.« Er hielt Demons starrem Blick stand. »Allerdings habe ich schon immer bemerkenswert übereingestimmt mit dem Geschmack Ihrer Familie, wenn es um Frauen geht.« Wieder sah er zu Flick. »Vielleicht …?«
»Wagen Sie es nicht.«
In Demons Stimme lag eine unterschwellige Warnung. Chillingworth’ Kopf fuhr herum, er sah Demon in die Augen. Einen Augenblick lang war die Atmosphäre zwischen ihnen spannungsgeladen, eine Kraft, die sowohl urtümlich als auch gewalttätig war.
Dann verzog sich Chillingworth’ Mund, und seine Augen leuchteten triumphierend. »Vielleicht doch nicht.« Lächelnd senkte er den Kopf und wandte sich ab.
Demon fluchte insgeheim. Er wollte verdammt sein, wenn er ihn ungeschoren davonkommen ließ. »Falls Devil wirklich verloren war, und das war er, dann werden Sie das auch sein.«
Chillingworth lachte leise, als er davonging. »O nein, lieber Junge.« Demon hörte seine Worte. »Ich versichere Ihnen, so etwas wird mir niemals passieren.«
 
»Danke, Highthorpe.« Nachdem Demon dem Butler seine Handschuhe und seinen Stock gereicht hatte, ging er den Flur entlang in das Esszimmer seiner Eltern.
Und blieb wie angewurzelt stehen.
Seine Mutter zog die Augenbrauen hoch. »Guten Morgen. Was treibt dich schon so früh am Morgen hierher?«
Demon betrachtete die leeren Stühle um den Tisch und verzog das Gesicht. Er hatte nach seiner Mutter gefragt, weil er angenommen hatte, dass Flick bei ihr sein würde. Jetzt sah er in Horatias Gesicht und zog die Augenbrauen hoch. »Felicity?«
Horatia betrachtete ihn eingehend. »Die liegt noch immer im Bett.«
Es war schon nach zehn Uhr. Flick, da war Demon sicher, stand früh am Morgen auf, ganz gleich, wie lange sie am Abend vorher unterwegs gewesen war. Sie war daran gewöhnt, früh auszureiten – die Arbeit im Stall begann am Morgen bereits in der Dämmerung.
Der Wunsch, Horatia zu bitten, nach ihr zu sehen, war übermächtig. Er widerstand ihm nur, weil ihm kein Grund für eine solche Bitte einfiel.
Horatia beobachtete ihn und wartete darauf, dass er etwas tat, das ihn verriet. Er dachte einen Augenblick wirklich daran, sie raten zu lassen. Es brauchte nicht viel, damit sie den richtigen Schluss zog, sie kannte ihre Söhne nur zu gut. Aber … es gab keine Garantie, ganz gleich, wie verständnisvoll sie auch sein mochte, dass sie Flick nicht irgendwie drängen würde, seinen Antrag anzunehmen. Und er wollte nicht, dass Flick gedrängt wurde.
Er presste die Lippen zusammen und nickte kurz. »Dann sehen wir uns heute Abend.« Er sollte die beiden an diesem Abend zu einer Party begleiten. Er drehte sich auf dem Absatz um, doch dann hielt er inne und sah noch einmal zurück. Und begegnete Horatias Blick. »Sage ihr, dass ich nach ihr gefragt habe.«
Dann ging er.
Er blieb draußen vor der Haustür stehen, holte tief Luft und zog seine Handschuhe an. Am frühen Morgen, als er im Bett gelegen und nachgedacht hatte, hatte er sich daran erinnert, dass Flick gesagt hatte: »Das ist es doch, was du von mir willst.«
Sie hatten von einem Tanz gesprochen. Was also hatte sie damit gemeint? Er wollte sie nicht als Tanzpartnerin – wenigstens nicht hauptsächlich – nicht für die Art von Tanz.
Er seufzte und blickte auf, nahm seinen Stock fest in die Hand. Seine Gedanken gingen in nur eine Richtung. Doch sich zusammenzureißen, seinen Instinkt zurückzuhalten, der immer dann besonders stark war, wenn es um sie ging, erwies sich mit jedem Tag, der verging, als schwieriger. Wie gefährlich nahe er am Ende seiner Kontrolle war, hatte sich am vergangenen Abend gezeigt – er hatte zwei ihrer jugendlichen Verehrer belauscht, die von ihr als »ihrem Engel« gesprochen hatten. Beinahe wäre er explodiert und hätte sie und die anderen kläffenden jungen Hunde von ihr weggetreten und ihnen geraten, sich einen eigenen Engel zu suchen. Sie gehörte ihm.
Stattdessen hatte er sich gezwungen, die Zähne zusammenzubeißen und es zu ertragen. Wie lange er das allerdings noch schaffen würde, konnte er nicht sagen.
Aber er konnte auch nicht den Rest des Tages vor der Tür des Hauses seiner Eltern stehen.
Er verzog das Gesicht, griff in seine Tasche und holte die Liste hervor, die Montague ihm gegeben hatte, als sie beide nach Hinweisen für das Geld gesucht hatten. Er überflog die Adressen auf der Liste und machte sich zu derjenigen auf den Weg, die am nächsten lag.
Das war alles, was er tun konnte – er musste sich ablenken und sich davon überzeugen, dass am Ende alles gut werden würde. Das war das Einzige, was ihm ein wenig Frieden und das Gefühl gab, etwas Wichtiges zu tun, etwas Bedeutungsvolles, das seine Pläne für eine Ehe mit ihr weiterbringen würde.
Sie würden ein Haus brauchen, in dem sie wohnen konnten, wenn sie in London waren.
Ein Stadthaus, nicht zu groß, doch gerade groß genug. Er wusste, wonach er suchte. Und er wusste, dass Flick den gleichen Geschmack hatte wie er – er fühlte sich sicher genug, ein Haus zu kaufen, mit dem er sie überraschen konnte.
Kein Haus – ein Zuhause. Ihr Zuhause.