10
Für Flick war ihre
Fahrt zu der Bücherei der Beginn einer eigenartigen
Woche.
Demon fuhr sie
zurück zum Herrenhaus, dabei wählte er den längsten nur möglichen
Weg, offensichtlich, um seine Schwarzen auszuprobieren. Da er
zustimmte, ihr noch einmal die Zügel zu überlassen, hielt sie sich
zurück und machte keine Bemerkung über seine hochmütige
Arroganz.
Es gab nichts, was
sich mit dem Vergnügen vergleichen ließ, in dem Wagen zu sitzen,
den Wind in den Haaren, und die Zügel fest in der Hand zu halten.
Die reine Freude, seinen Zweispänner zu fahren, der gut gefedert
und für hohe Geschwindigkeiten gebaut worden war, mit den beiden
Schwarzen davor, die elegant den Weg entlangliefen, hatte ihren
Zweck erfüllt: Sie war verloren.
Als er vor dem
Herrenhaus den Wagen anhielt, lächelte sie so strahlend, dass sie
unmöglich mit ihm schimpfen konnte.
Und genau das hatte
er auch geplant, das sah sie an dem Leuchten in seinen
Augen.
Am nächsten Morgen
war er wieder da, obwohl er diesmal nicht ihretwegen gekommen war.
Er verbrachte eine Stunde mit dem General und diskutierte mit ihm
über den Stammbaum einiger Pferde, in die der General sein Geld
investierte. Natürlich lud ihn der General zum Essen ein, und Demon
nahm die Einladung an.
Später spazierte sie
neben ihm her zum Stall. Sie wartete, aber außer einer Bemerkung,
dass er die Aussicht genoss – es war ein frischer Tag, und ihre
Röcke flogen im Wind -, sagte er nichts. Seine Augen schienen
jedoch ungewöhnlich strahlend, sein Blick war besonders aufmerksam,
und trotz des frischen Windes fror Flick nicht.
Tag um Tag verging,
seine Besuche waren der Höhepunkt eines jeden Tages. Sie konnte nie
sicher sein, wann und wo er plötzlich auftauchte, und das war
zweifellos auch der Grund dafür, warum sie begann, auf seine
Schritte zu lauschen.
Und nicht nur seine
Blicke waren aufmerksam.
Gelegentlich
berührte er sie, legte ihr eine Hand auf den Rücken oder strich mit
den Fingern über ihre Hand bis zu ihrem Handgelenk. Solche
Berührungen machten sie immer atemlos – und sie errötete auf eine
ganz besondere Art.
Der schlimmste
Augenblick kam, als er sie an einem Nachmittag besuchte und sie
dazu überredete, mit ihm zusammen zuzusehen, wie die Pferde auf der
Heide trainiert wurden – er beobachtete noch immer Bletchley
während des Trainings am Morgen und am Nachmittag.
»Hills und Cross
machen in letzter Zeit den größten Teil der Arbeit. Sie fallen
weniger auf als Gillies und ich.«
Sie standen auf der
Heide, und Flick hatte beide Hände um den Griff ihres Sonnenschirms
gelegt. »Hat Bletchley denn noch weitere Anstalten gemacht, sich
mit Jockeys in Verbindung zu setzen?«
Demon schüttelte den
Kopf. »Ich beginne mich langsam zu fragen …«
Als er nicht
weitersprach, drängte sie ihn. »Was denn?«
Er warf ihr einen
Blick zu, verzog dann das Gesicht und schaute über den Rennplatz zu
der Stelle, wo seine Pferde trainierten. Bletchley lehnte an der
üblichen Stelle an der Eiche, denn von dort aus konnte er die
verschiedenen Rennställe bei der Arbeit beobachten.
»Ich beginne mich zu
fragen«, fuhr Demon nachdenklich fort, »ob er überhaupt noch damit
beschäftigt ist, Rennen zu beeinflussen. Er hat sich mit Jockeys
unterhalten, das ist sicher, aber in letzter Zeit scheint er sich
eher bei ihnen einschmeicheln zu wollen. Bis auf die drei Mal, an
denen er versucht hat, die drei Jockeys zu beeinflussen, die bei
den großen Spring-Carnival-Rennen reiten, hat er keine weiteren
Anstalten mehr gemacht.«
»Und?«
»Es ist also
möglich, dass all die Rennen, die das Syndikat im Spring Carnival
beeinflussen will, bereits abgesprochen sind – eben nur diese drei
Rennen. Wenn man bedenkt, was das für wichtige Rennen sind, könnte
der Ertrag daraus auch den geldgierigsten Menschen genügen. Ich
frage mich, ob Bletchley nicht einfach nur abwartet, bis seine
Vorgesetzten sich mit ihm in Verbindung setzen, und seine Zeit
damit verbringt, so viel wie möglich über die Jockeys
herauszufinden, damit er es beim nächsten Mal, in ein paar Monaten
– vielleicht bei den Rennen im Juli -, leichter hat.«
Flick betrachtete
Bletchley. »Du meinst, er sucht nach Schwächen bei den Jockeys?
Nach etwas, mit dem er sie in der Hand hat?«
»Hm. Das wäre schon
möglich.«
Sie wusste sofort,
als er den Blick von Bletchley löste und wieder sie ansah, dass er
nicht länger an die Rennen dachte, sondern an … an das, was er über
sie dachte.
Er zupfte sanft an
einer Locke ihres Haares, und als sie ihm den Kopf zuwandte, war er
viel näher, so nahe …
»Hör auf, ihn so
eindringlich anzustarren – er wird es merken.«
»Ich starre
Bletchley gar nicht an.« Im Augenblick ruhte ihr Blick auf Demons
Lippen, die sich ihr ein bisschen näherten.
Sie erstarrte,
blinzelte und sah ihm in die Augen. »Vielleicht sollten wir lieber
ein wenig hin und her gehen.« Mit ihm zu tändeln war ja in Ordnung,
aber sie hatte nicht die Absicht, sich noch einmal von ihm küssen
zu lassen, bis ihr Verstand aussetzte – nicht auf der offenen
Heide.
Er verzog den Mund,
doch dann senkte er zustimmend den Kopf. »Vielleicht sollten wir
das wirklich tun.«
Er wandte sich um,
sie legte die Hand auf seinen Arm, und dann schlenderten sie am
Rand der Heide entlang – während sie hoffte, dass er so
erfinderisch war wie sonst auch und einen leeren Stall finden
würde.
Zu ihrer Verärgerung
geschah das aber nicht.
Am nächsten Morgen
nahm er sie mit in die Stadt, um im The Twig and Bough
Butterhörnchen zu essen, von denen er behauptete, sie seien mehr
als ausgezeichnet. Nach ihrem Frühstück schlenderten sie die High
Street entlang, wo Mrs. Pemberton ihnen in ihrer Kutsche begegnete
und sie einander freundlich begrüßten.
Flick war ganz
sicher, dass die Frau des Vikars sie noch nie zuvor mit einer
solchen Anerkennung angesehen hatte.
Und das genügte –
weit mehr als ihre dummen Gefühle und die Überlegungen ihres nicht
so recht funktionierenden Verstandes -, um in ihr die Frage
aufkommen zu lassen, was Demon eigentlich beabsichtigte. Was er
wirklich plante. Sie hatte, so glaubte sie, bis jetzt ihre
Unsicherheit recht gut ignoriert, die seine ständige Anwesenheit in
ihr hervorgerufen hatte. Aber nach ihrem Treffen mit Mrs. Pemberton
konnte sie die Tatsache nicht länger übersehen, dass es wirklich so
schien, als würde er sie umwerben und ihr den Hof
machen.
Wie er es behauptet
hatte.
Hatte das Mondlicht
ihm den Verstand genommen – oder vielleicht ihr?
Diese Frage
verlangte nach einer Antwort, auch weil seine ständige Anwesenheit
begann, ihre Nerven mehr, als es gut war, zu strapazieren. Und da
es die gleiche Frage war, wenn auch in ein wenig anderer Form, die
schon die ganze Woche in ihrem Kopf umherspukte und auf die sie
keine Antwort finden konnte, gab es nur noch einen
Weg.
Und immerhin
handelte es sich hier um Demon, den sie schon beinahe ihr ganzes
Leben lang kannte. Sie hatte sich nicht gescheut, ihn wegen Dillon
um Hilfe zu bitten, und er hatte ihr diese Hilfe gewährt. Also
…
Sie wartete, bis sie
am nächsten Morgen in seinem Wagen den Weg vom Herrenhaus
entlangfuhren, nachdem er sie zu einer Ausfahrt abgeholt hatte,
damit sie ihre Fahrkünste auch einmal an seinen kräftigen Braunen
ausprobieren konnte. Ohne lange nachzudenken, da sie nicht noch in
letzter Minute einen Rückzieher machen wollte, fragte sie: »Warum
benimmst du dich so – warum verbringst du die meiste Zeit mit
mir?«
Sein Kopf fuhr
herum, er runzelte die Stirn. »Das habe ich dir doch gesagt: Ich
mache dir den Hof.«
Sie blinzelte. Der
düstere Blick in seinen Augen ermunterte sie nicht gerade, doch sie
war entschlossen, Klarheit zu schaffen. »Ja«, gab sie vorsichtig
zu, »aber das war doch nur …« Mit einer Hand machte sie eine
unbestimmte Geste.
Er zügelte seine
Braunen ein wenig. »Was denn?«
»Nun ja.« Sie zuckte
mit den Schultern. »Das war doch nur an diesem Abend damals. Im
Mondlicht.«
Demon ließ seine
Pferde anhalten. »Und was ist mit den letzten Tagen? Immerhin geht
das doch schon beinahe eine ganze Woche lang so.« Er war entsetzt.
Leise fluchte er vor sich hin, dann zog er die Bremse des Wagens
an, band die Zügel fest und wandte sich zu ihr. »Du willst doch
nicht etwa behaupten, dass du das nicht bemerkt hast?« Seine
Augenbrauen zogen sich zusammen, und er hielt ihren Blick gefangen.
»Dass du nicht darauf geachtet hast.«
Sie starrte ihn mit
weit aufgerissenen Augen an, als sie langsam zu begreifen begann.
»Du meinst das wirklich ernst.«
Ihr Erstaunen raubte
ihm beinahe die Fassung.
»Ernst?« Mit einer Hand umklammerte er die
Querstange vor ihr, die andere legte er auf den Sitz hinter ihr,
dann sah er ihr ins Gesicht. »Natürlich
meine ich das ernst! Was, um Himmels willen, hast du denn geglaubt,
habe ich in den letzten Tagen getan?«
»Nun ja …« Wenn sie
den ärgerlichen Unterton in seiner Stimme richtig verstand, dann
wäre es klüger, nicht das auszusprechen, was sie sich dachte. Er
schrie sie nicht an – beinahe hätte sie sich gewünscht, dass er das
täte. Seine abgehackten, deutlich betonten Worte klangen irgendwie
gefährlicher, als wenn er geschrien hätte.
»Ich mache es mir
nicht zur Gewohnheit, nur wegen der Freude eines unschuldigen
Lächelns meine Aufmerksamkeit einem jungen Mädchen zu
widmen.«
Sie blinzelte.
»Wahrscheinlich nicht.«
»Da kannst du ganz
sicher sein.« Er biss die Zähne
zusammen, seine Augen waren nur noch schmale Schlitze. »Also, was,
zum Teufel, hast du dir gedacht?«
Hätte es eine
Möglichkeit gegeben, dieser Frage auszuweichen, sie hätte sie
genutzt, doch der Blick aus seinen Augen sagte ihr deutlich, dass
er nicht die Absicht hatte, dieses Thema jetzt fallen zu lassen.
Und immerhin war sie es gewesen, die es angeschnitten hatte – und
sie wollte noch immer Bescheid wissen. Deshalb hielt sie seinem
Blick stand. »Ich dachte, du tändelst nur mit mir«, antwortete sie
vorsichtig.
Jetzt war er an der
Reihe, sie ungläubig anzusehen. »Tändeln?«
»Eine Art, dir die
Zeit zu vertreiben.« Sie breitete beide Hände aus und zuckte dann
mit den Schultern. »Soweit ich weiß, ist es an der Tagesordnung,
dass man einer Dame erzählt, dass man ihr den Hof macht, während
man mit ihr im Mondlicht allein ist, also ein vollkommen normales
Benehmen für …«
Ängstlich hielt sie
inne. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und sah, dass er
lächelte – wie ein Wolf. »Für einen Schwerenöter wie
mich?«
Sie unterdrückte
einen verärgerten Ausruf. »Jawohl! Wie soll ich wissen, wie du
vorgehst?«
Er sah sie
eindringlich an. »Du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass
ich dir den Hof mache.« Dann wandte er sich nach vorn und band die
Zügel los.
Flick reckte sich.
»Ja, also gut. Aber du hast mir immer noch nicht verraten, warum du
das tust.«
Demon stieß
ungeduldig die Luft aus und löste die Bremse. »Weil ich dich
heiraten will, natürlich.«
»Ja, aber gerade das
verstehe ich ja nicht. Warum willst du
mich heiraten?«
Er würde ihr den
Hals umdrehen, wenn sie nicht mit ihren ständigen Fragen aufhörte.
Er biss die Zähne zusammen, schlug leicht mit den Zügeln – und die
Braunen liefen los. Er fühlte ihren zornigen Blick auf
sich.
»Du kannst doch
nicht von mir erwarten, dass ich dir glaube, du hättest es dir
plötzlich in den Kopf gesetzt, dass du mich heiraten musst. Du hast
ja gar nicht gewusst, dass ich überhaupt existiere – nun ja,
wenigstens hast du in mir nicht mehr gesehen als nur ein kleines
Gör mit Zöpfen, bis du mich auf dem Rücken von The Flynn entdeckt
hast.« Sie drehte sich auf dem Sitz zu ihm um. »Also, warum?«
Er lenkte die Pferde
um eine Biegung des Weges. »Ich möchte dich heiraten, weil du die
richtige Frau für mich bist.« Noch ehe sie ihm die nächste Frage
stellen konnte, fügte er schnell hinzu: »Du bist eine begehrte
Partie – du bist von gehobener Stellung, deine Verbindungen sind
bemerkenswert. Du bist das Mündel des Generals und in dieser Gegend
hier groß geworden, und du kennst dich bemerkenswert gut aus mit
Pferden.« Er hatte all seine Gründe aufgezählt. »Alles in allem
passt du ausgezeichnet zu mir.« Er warf ihr einen scharfen Blick
zu. »Eine Tatsache, die alle anderen begriffen haben, nur du
nicht.«
Sie blickte nach
vorn, und er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Pferde.
Er war nicht sicher, dass er richtig gehört hatte, doch er glaubte,
dass sie verächtlich geschnaubt hatte. Ganz sicher aber hatte sie
die Nase gehoben.
»Das klingt in
meinen Ohren entsetzlich kaltblütig.«
Kaltblütig? Er würde ihr wirklich den Hals
umdrehen. Allein der Gedanke daran, wie
sie sein Blut in Wallung brachte, wie unwohl er sich seit mehr als
einer Woche gefühlt hatte, wie heftig ihn heißes Verlangen ergriff,
wann immer sie in seiner Nähe war – und dann noch die Momente, wo
er sie in seinen Armen gehalten hatte und sich ihr Körper an ihn
geschmiegt hatte …
Er biss die Zähne so
fest zusammen, dass es knackte. Sein Leitpferd versuchte
auszubrechen, er atmete scharf ein und hielt es unter
Kontrolle.
»Ich will dich auch
heiraten« – er zwang sich, diese Worte durch zusammengebissene
Zähne hervorzustoßen -, »weil mich nach dir verlangt.«
Er fühlte ihren
fragenden, neugierigen Blick – doch war er nicht so dumm, sie
anzusehen. Es war dieser Blick, der ihn aufforderte, sie alles zu
lehren. Sie hatte diesen Blick so sehr perfektioniert, dass er ihn
in immer noch tiefere Wasser locken konnte. Er starrte auf die
Ohren seines Leitpferdes und fuhr weiter.
»Was willst du denn
ganz genau?«
Er holte tief Luft.
»Ich will, dass du mir mein Bett wärmst.« Er wollte, dass sie
ihn wärmte. »Die Tatsache, dass mich
nach dir verlangt, so wie einen Mann nach einer Frau verlangt, ist
nebensächlich. Es verstärkt nur noch meinen Wunsch, dir den Hof zu
machen und dich schließlich zu heiraten.« Schnell änderte er seine
Taktik und konzentrierte sich auf das, von dem er wusste, dass es
sie am meisten verwirren würde. Sie war geradeheraus – sie hatte
seine subtilen Bemühungen missverstanden und setzte sie gleich mit
einem Spiel, mit Neckereien, die er nicht ernst meinen konnte.
»Wenn man dein Alter bedenkt und deinen Mangel an Erfahrung, so ist
es unvermeidlich, dass ich dir für eine Zeit den Hof machen muss,
wenn ich dich heiraten möchte. Und während dieser Zeit muss mein
Benehmen dem vorgeschriebenen Muster folgen.«
Er fuhr jetzt
gefährlich schnell, deshalb zog er die Zügel an und verlangsamte
das Tempo ein wenig. Er hatte einen Umweg eingeschlagen, und es war
nicht nötig, anzuhalten und umzudrehen, um nach Hillgate End
zurückzufahren. Und das war auch besser so. Wenn er in der
augenblicklichen Stimmung anhalten würde, wäre das entschieden
unklug, wenn man noch dazu bedachte, wie neugierig sie
war.
Sie hatte ihm
aufmerksam zugehört, und als sie jetzt wiederholte:
»Vorgeschriebenes Muster?«, hörte er aus ihrer Stimme, wie verwirrt
sie war.
»Die Gesellschaft
verlangt, dass ich dich zwar begleiten kann, dass ich aber meine
Absicht nicht zu deutlich mache und dich nicht unter Druck setze.
Das wäre unanständig. Ich muss langsam vorgehen. Ich sollte dir
eigentlich nicht sagen, was ich fühle – so macht man das nicht. Ich
sollte auch nicht versuchen, dich allein zu treffen. Ich darf dich
nicht küssen, und ich sollte ganz sicher nicht erwähnen, dass mich
nach dir verlangt. Ich darf das eigentlich noch nicht einmal
andeuten. Du solltest über körperliches Verlangen gar nichts
wissen.«
Er lenkte die
Braunen um eine Biegung des Weges, dann verschärfte er das Tempo
wieder. »In der Tat dürfen wir diese ganze Unterhaltung eigentlich
gar nicht führen – Mrs. Pemberton und die anderen Damen würden das
ganz sicher für äußerst unanständig halten.«
»Das ist doch
lächerlich. Woher soll ich das denn alles wissen, wenn du mit mir
nicht darüber sprichst? Und ich kann schließlich sonst niemanden
fragen – nur dich.«
Demon entging nicht
der unsichere Unterton in ihrer Stimme. Ein großer Teil seiner
Anspannung verschwand, wurde hinweggefegt von diesem Gefühl, an das
er sich langsam gewöhnte – ein Gefühl, das nur Flick in ihm
hervorrief und das den Wunsch beinhaltete, sie zu beschützen, aber
das war noch nicht alles.
Er seufzte, doch er
vermied es, sie anzusehen – er war noch immer nicht sicher, wie
weit er sich unter Kontrolle hatte, und wusste nicht, wie er diesen
verwirrten, fragenden Ausdruck in ihren blauen Augen vertreiben
konnte. »Es ist schon in Ordnung, wenn du mich fragst, solange wir
allein sind. Du kannst mir alles sagen, was du möchtest, aber du
musst vorsichtig sein, damit du dich nicht von irgendetwas, über
das wir sprechen, beeinflussen lässt, wenn wir nicht allein
sind.«
Flick nickte. Die
Möglichkeit, dass er ihr verbieten könnte, ihm Fragen zu stellen,
ganz besonders über Dinge wie Verlangen, hatte sie erschüttert –
einen Augenblick lang hatte sie schon befürchtet, dass er eine
Mauer zwischen ihnen errichten wollte. Doch das war, Gott sei Dank,
nicht der Fall.
Dennoch verstand sie
noch immer nicht vollkommen, was eigentlich los war.
Dass er sie
ernsthaft heiraten wollte, fiel ihr schwer zu begreifen, und dass
er sie heiraten wollte, weil ihn nach ihr verlangte – das war
vollkommen unverständlich für sie. Sie hatte angenommen, dass sie
in seinen Augen noch immer ein Kind war. Doch offensichtlich
stimmte das nicht.
Während der Wagen
weiterrollte, dachte sie über das Verlangen nach, von dem er
gesprochen hatte. Diese Sache faszinierte sie. Sie erinnerte sich
nur zu gut an das schimmernde Netz, das er auswerfen konnte, an die
Verlockung, das Versprechen im Mondlicht. Was darüber hinaus noch
geschehen würde, konnte sie sich nicht vorstellen – alles, was sie
darüber wusste, hatte sie in den Gesprächen der Dienstmägde
belauscht, wenn diese sich über ihre Verehrer unterhielten. Aber …
es gab da noch eine Sache, die sie sich nicht erklären
konnte.
Sie holte tief Luft,
dann schaute sie auf das Band der Straße vor ihnen, ehe sie es
wagte, ihre nächste Frage zu stellen. »Wenn dich nach mir verlangt«
– sie fühlte, wie ihr eine heiße Röte in die Wangen stieg, doch sie
sprach weiter -, »so wie es einen Mann nach einer Frau verlangt,
warum erstarrst du denn immer, wenn wir einander
berühren?«
Als er ihr nicht
sofort antwortete, fuhr sie fort. »Wie zum Beispiel in der Nacht
auf dem Hof, als wir einander geküsst haben – da hast du ganz
plötzlich aufgehört. Hatte das etwas mit den Beschränkungen der
Gesellschaft zu tun« – sie warf ihm einen vorsichtigen Blick von
der Seite zu -, »oder hatte das einen anderen Grund?«
Als sie ihn jetzt
ansah, erstarrte er wieder, sie fühlte und sie sah es. Sie fühlte,
wie sich sein Körper plötzlich anspannte, als sei es ihr eigener
Körper, sie sah, wie die Muskeln unter den Ärmeln seiner Jacke sich
verhärteten, bis sie deutlich hervortraten. Und als sie dann
überrascht aufblickte, stellte sie fest, dass sein Gesicht aussah,
als sei es aus Stein gemeißelt.
Erstaunt hob sie
einen Finger und stieß damit gegen seinen Oberarm – es war, als
hätte sie mit dem Finger gegen einen Stein gestoßen. »So, zum
Beispiel.« Sie runzelte die Stirn. »Bist du sicher, dass dies keine
Abneigung ist?«
»Es ist –
keine - Abneigung.« Demon wusste nicht,
wie er es geschafft hatte, diese Worte überhaupt auszusprechen. Er
hatte die Hände so fest um die Zügel gekrallt, dass er nur hoffen
konnte, seine Braunen würden nicht ausgerechnet diesen Augenblick
wählen, um auszubrechen. »Glaube mir«, versicherte er ihr, »es ist
keine Abneigung.«
Nach einem
Augenblick drängte sie: »Nun?«
Er hatte ihr gesagt,
dass sie ihm Fragen stellen konnte. Wenn er sie nicht bald
heiratete und in sein Bett holte, könnte sie ihn mit ihren Fragen
umbringen. Er bemühte sich um Fassung, um seine inneren Dämonen in
Schach zu halten. Seine Stimme zitterte beinahe, als er erklärte:
»In dieser Nacht im Mondschein, wenn ich da nicht aufgehört hätte –
wenn ich dich nicht zurück in den Salon gebracht hätte -, dann
hätte ich dich wahrscheinlich unter der Magnolie im Garten des
Vikars verführt.«
»Oh?«
Ihre Stimme klang
fasziniert.
»Ich hatte mir sogar
schon ausgemalt, wie ich das tun würde. Ich hätte dich auf die
steinerne Brüstung gelegt, die um den Baum herumgebaut ist, dann
hätte ich deine Röcke angehoben, und du hättest mich nicht
zurückgehalten.«
Er wagte es, ihr
einen schnellen Blick von der Seite zuzuwerfen. Sie war ein wenig
errötet, doch dann zuckte sie mit den Schultern. »Das werden wir
wohl nie wissen.«
Er verkniff sich
eine Antwort, während er sie eindringlich anschaute.
Sie sah auf,
begegnete seinem Blick und errötete noch mehr. Schnell richtete sie
ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Nach einem Augenblick
rutschte sie unruhig auf dem Sitz hin und her. »Also gut. Das mit
dem Garten verstehe ich, aber warum passiert das – dass du so sehr
erstarrst – auch jetzt? Du hast das auch gestern getan, auf der
Heide, als ich ganz zufällig gegen dich gestoßen bin.« Fragend sah
sie ihn an. »Du kannst mich doch nicht jedes Mal verführen wollen,
wenn wir uns treffen.«
O doch, das konnte er. Demon biss die Zähne
zusammen und ließ die Braunen schneller laufen. »Verlangen ist wie
eine Krankheit, wenn man sie erst einmal hat, dann wird sie bei
jeder weiteren Begegnung nur noch schlimmer.«
Er war sehr dankbar,
als sie diese Bemerkung mit einem kleinen Brummen hinnahm. Sie sah
eine Weile vor sich hin, dann fühlte er ihren nachdenklichen Blick
erneut auf sich ruhen.
»Ich werde nicht
zerbrechen, musst du wissen. Ich werde keinen hysterischen Anfall
bekommen oder …«
»Sehr wahrscheinlich
nicht.« Diese Worte sprach er so vorsichtig aus, wie er nur
konnte.
Wieder stieß sie ein
unwilliges Geräusch aus. »Nun, ich verstehe das noch immer nicht.
Wenn du mich sowieso heiraten willst
…«
Die Bedeutung ihrer
Worte entging ihm nicht. Er konnte nicht anders, er musste ihr den
Kopf zuwenden, und was er in ihren blitzenden blauen Augen las,
waren Neugier und eine sehr deutliche Einladung …
Er unterdrückte
einen heftigen Fluch und richtete den Blick wieder auf die Straße
vor ihnen. Wenn er ihr alles erklärte, machte das die Dinge nur
noch schlimmer. Bis jetzt war es ihm gelungen, seine Dämonen
zurückzuhalten – aber was würde er tun, wenn sie die Peitsche
nahm?
O nein, nein, nein, nein, nein. Er wusste, wer er
war und wer sie war, und eigentlich waren sie meilenweit
voneinander entfernt. Sie würde Jahre brauchen – mindestens jedoch
sechs intensive Monate -, um auch nur in die Nähe der sexuellen
Erfahrung zu kommen, die er besaß. Aber er konnte sich vorstellen,
was sie dachte und welchen Weg ihre unschuldigen Gedanken gegangen
waren. Er musste sie davon abbringen und jegliche Gedanken daran
aus ihrem Kopf vertreiben, sich Hals über Kopf in diese Erfahrungen
zu stürzen. So durfte das einfach nicht geschehen. Wenigstens nicht
mit ihm.
Doch leider hatte
sie bis jetzt keinerlei Vorsicht ihm gegenüber gezeigt, und das
gefiel ihm gar nicht. Irgendwie sah sie ihn nicht länger als einen
Onkel, sondern eher als jemanden, der ihr ebenbürtig war. Und das
war ein genauso großer Fehler. Seine Kieferknochen schmerzten, so
fest hatte er die Zähne zusammengebissen, und auch der Rest seines
Körpers tat ihm weh. Genau wie sein Verstand. »So wird das nicht
geschehen.« Die Anstrengung, ihr diese Dinge zu erklären,
erschöpfte ihn.
»Oh?«
Dieses Oh hatte sie zu einer regelrechten Kunst entwickelt
– dieses Wort drängte ihn ständig zu einer Erklärung.
»Verlangen führt zu
körperlicher Verführung, aber in deinem Fall – in unserem Fall – bedeutet das ein schnelles,
übereiltes, verbotenes Schäferstündchen in einem Garten oder sonst
wo.«
Er wartete auf ihr
Oh, doch stattdessen fragte sie: »Warum
nicht?«
Weil er sie dazu bringen würde, sein ganz eigener
gefallener Engel zu werden. Diesen Gedanken schob er schnell
wieder zur Seite. »Weil …« Er kämpfte um die Worte, dann blinzelte
er, und hätte er sich nicht auf seine Pferde konzentrieren müssen,
hätte er resigniert beide Hände gehoben. Doch er biss die Zähne
zusammen und griff nach der Peitsche. »Weil du unschuldig bist und
etwas Besseres verdient hast. Und auch ich weiß das.« O ja – auch
das beeinflusste sein Ego. »Ich werde dich verführen, so, wie du es
verdient hast – langsam. Die Unschuld
ist nicht etwas, das man wie einen alten Schuh beiseite werfen
sollte. Sie hat auch einen körperlichen Wert – einen
leidenschaftlichen Wert.«
Die Falten auf
seiner Stirn wurden noch tiefer, als er auf die Ohren seines
Leitpferdes blickte. »Unschuld sollte nicht beschmutzt werden, man
darf sie nicht gedankenlos zerstören. Sie sollte blühen. Das weiß
ich.« Die letzten Worte waren für ihn nicht nur eine Bestätigung,
sondern auch eine Art Erleuchtung. »Und um die Unschuld aufblühen
zu lassen, braucht man Zeit, man braucht Fürsorge und
Aufmerksamkeit und Erfahrung.« Seine Stimme klang jetzt noch
tiefer. »Man braucht Leidenschaft und Verlangen, Verpflichtung und
Hingabe, um einer Knospe die Unschuld zu rauben, damit sie erblüht,
ohne dass ein einziges Blütenblatt verletzt wird.«
Sprach er noch immer
von ihrer Unschuld, oder hatte das alles auch noch eine andere
Bedeutung – eine Bedeutung, in der er genauso unschuldig war wie
sie?
Zu seiner
Erleichterung antwortete sie ihm nicht, sondern saß ganz still
neben ihm und dachte über seine Worte nach. Auch er dachte nach –
über all das, was er wollte, über den Umfang seines
Verlangens.
Er war sich ihrer
Nähe überdeutlich bewusst. Er fühlte seinen eigenen Herzschlag, der
in seiner Brust pochte, in seinen Fingerspitzen pulsierte, in
seinen Lenden. Lange war das einzige Geräusch zwischen ihnen das
stete Klappern der Hufe und das Rattern der Räder.
Dann bewegte sie
sich.
Er warf ihr einen
schnellen Blick von der Seite zu, sah, wie sie die Stirn runzelte,
den Mund öffnete …
Er richtete seinen
Blick wieder nach vorn. »Und, um Himmels willen, wage nicht, mich
zu fragen, warum das so ist.«
Er fühlte, dass sie
ihn ärgerlich ansah, und aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sie
den Mund schloss und ihre Hände fest im Schoß faltete. Dann sah sie
sich die Landschaft an.
Demon biss die Zähne
zusammen und gab seinen Pferden die Peitsche.
Als sie die Tore von
Hillgate End erreichten, hatte er sich so weit unter Kontrolle, um
sich wieder daran zu erinnern, was er Flick während ihrer Fahrt
eigentlich hatte erzählen wollen.
Er ließ die Braunen
die schattige Einfahrt zum Haus entlanglaufen, dann warf er ihr
einen Blick zu und fragte sich, wie viel er ihr verraten sollte.
Obwohl sie ihn so sehr abgelenkt hatte, hatte er das Syndikat nicht
vergessen, und er wusste, dass es ihr genauso ging.
In Wahrheit wurde er
unsicher. Sie waren Bletchley jetzt schon seit Wochen gefolgt und
hatten nichts weiter über das Syndikat herausgefunden als die
Tatsache, dass es eine sehr gestraffte Organisation zu sein schien.
Unter diesen Umständen war er nicht glücklich darüber, all seine
Hoffnung auf Bletchley zu setzen.
Also hatte er sein
Hirn zermartert, um nach Alternativen zu suchen. Er hatte daran
gedacht, die anderen Bar Cynster um Hilfe zu bitten, doch er hatte
es noch nicht getan. Vane und Patience waren in Kent, Gabriel und
Lucifer hielten sich zwar in London auf, mussten aber die Zwillinge
im Auge behalten. Richard war, nach allem, was er zuletzt gehört
hatte, mit dieser Hexe in Schottland beschäftigt. Und Devil
kümmerte sich ganz sicher um die Frühlingsaussaat. Aber immerhin
war Devil in Somersham wenigstens in der Nähe. Wenn es
Schwierigkeiten gab, würde er Devil um Hilfe bitten, aber da alles,
was mit Pferderennen zu tun hatte, normalerweise Demons
Angelegenheiten waren, schien es wenig Sinn zu machen, sich schon
jetzt Hilfe zu holen. Er musste den Feind zunächst einmal
entdecken, ehe er die Kavallerie zu Hilfe holen
konnte.
Und das bedeutete
…
Er hielt den Wagen
vor den Stufen des Hauses an und stieg aus. Dann griff er nach
Flicks Hand, half ihr beim Aussteigen und ging dann neben ihr her
zum Haus.
»Ich werde morgen
nach London fahren, ich habe dort geschäftliche Dinge zu
erledigen.« An der untersten Treppenstufe blieb er
stehen.
Flick war bereits
die ersten beiden Stufen hinaufgegangen. Sie wandte sich zu ihm um
und sah ihn fragend an.
Ȇbermorgen bin ich
wieder zurück, aber sehr wahrscheinlich erst spät.«
»Aber … was ist denn
mit Bletchley?«
»Um ihn brauchst du
dir keine Sorgen zu machen.« Er hielt den Blick ihrer blauen Augen
gefangen. »Gillies, Hills und Cross werden ihn im Auge
behalten.«
Flick blinzelte.
»Aber was ist, wenn etwas passiert?«
»Das bezweifle ich,
aber Gillies weiß genau, was er tun muss.«
Flick setzte weniger
Vertrauen in Gillies als sein Herr. Jedoch … sie nickte. »Also
gut.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Dann wünsche ich dir
eine gute Reise.«
Er nahm ihre Hand
und zog dann eine Augenbraue hoch. »Und eine baldige
Rückkehr?«
Sie zog hochmütig
die Augenbrauen hoch. »Ich würde sagen, wir sehen uns, wenn du
wieder zurück bist.«
Er sah ihr tief in
die Augen. Seine Finger, die noch immer ihre Hand hielten,
verstärkten den Druck – er hob die Hand, drehte sie herum und
hauchte ihr einen Kuss auf das Handgelenk.
Ihr Herz machte
einen kleinen Sprung, und ihr stockte der Atem.
Er lächelte
verschmitzt. »Damit solltest du rechnen.«
Er gab ihre Hand
frei, verbeugte sich elegant vor ihr und ging dann zu seinem Wagen
zurück.
Flick beobachtete,
wie er auf seinen Sitz sprang und die Braunen geschickt die
Auffahrt hinunterlenkte. Sie sah ihm nach, bis er zwischen den
Schatten unter den Bäumen ihren Blicken entschwand.
Langsam runzelte sie
ihre Stirn. Sie wandte sich um und ging nachdenklich die Treppe
hinauf. Die Tür war nicht verschlossen, sie betrat das Haus, ging
durch die Eingangshalle und begrüßte Jacobs mit einem abwesenden
Lächeln, dann schlenderte sie durch das Haus zur Terrasse und
weiter auf die Wiese. Auf die Wiese, über die sie in letzter Zeit
so oft mit Demon gegangen war.
Wenn ihr jemand vor
drei Wochen gesagt hätte, dass sich ihre Stimmung trüben würde,
wenn sie einen Gentleman zwei Tage lang nicht sehen würde, dass ihr
das ihre Lebensfreude nehmen würde, dann hätte sie
gelacht.
Doch jetzt lachte
sie nicht.
Aber das bedeutete
nicht, dass sie sich nun teilnahmsloser Trägheit hingeben würde.
Dafür hatte sie viel zu viel zu tun. Zum Beispiel musste sie
entscheiden, wie sie über das Verlangen dachte.
Sie dachte darüber
nach, als sie in den Schatten der Bäume trat und dann auf den Weg,
der von der Glyzinie überschattet wurde. Sie hatte die Hände hinter
dem Rücken verschränkt und ging langsam auf und ab.
Er wollte sie
heiraten – er hatte die Absicht, sie zu heiraten. Und er erwartete
von ihr, dass sie ihre Zustimmung gab – er war zweifellos davon
überzeugt, dass sie seinen Antrag annahm.
Nach diesem
Nachmittag und ihrer offenen Unterhaltung wusste sie wenigstens
genau, wie er darüber dachte. Er wollte sie aus all den
gesellschaftlich akzeptablen Gründen heiraten, und außerdem
verlangte ihn nach ihr.
Und das bedeutete,
dass eine sehr große, sehr wichtige Frage blieb. Würde sie seinen
Antrag akzeptieren?
Das war eine Frage,
mit der sie irgendwann einmal gerechnet hatte. Doch nicht in ihren
kühnsten Träumen hatte sie sich vorgestellt, dass er, ihr Idol, sie
heiraten wollte, dass er überhaupt einen Blick auf sie werfen und
dann Verlangen verspüren würde. Der einzige Grund, warum sie diese
Tatsache in Erwägung ziehen und in Ruhe darüber nachdenken würde,
war der, dass sie es noch immer nicht so recht glauben
konnte.
Es schien ihr wie
ein Traum.
Aber …
Sie wusste, dass er
es ernst meinte.
Am Ende des Weges
angekommen, warf sie einen Blick auf die Uhr über dem Stalleingang.
Sie hatte noch eine ganze Stunde Zeit bis zum Essen. Alles um sie
herum war still, niemand war zu sehen. Sie wandte sich um und nahm
ihren unruhigen Gang wieder auf, versuchte, ihre Gedanken zu
ordnen.
Der erste Punkt,
über den sie nachdenken musste, war offensichtlich. Liebte sie
Demon?
Zu ihrer
Überraschung fiel ihr die Antwort auf diese Frage
leicht.
»Ich habe ihn
insgeheim schon seit Jahren geliebt«, murmelte sie vor sich hin.
Dieses Geständnis hinterließ ein eigenartiges Gefühl in ihrem
Magen.
Sie war verwirrt und
erstaunt, festzustellen, dass ihr Herz schon vor langer Zeit eine
Entscheidung getroffen hatte und dass sie am Ende des Weges
angekommen war, ehe sie diese Frage beiseite schieben und die
Antwort als gegeben hinnehmen konnte.
»Als Nächstes stellt
sich die Frage, ob er mich auch liebt.«
Darauf fand sie
keine Antwort. In Gedanken ging sie ihre Unterhaltung noch einmal
durch, doch er hatte nichts gesagt, was ihr einen Hinweis darauf
hätte geben können.
Sie verzog das
Gesicht. »Was ist, wenn er mich gar nicht liebt?«
Die Antwort auf
diese Frage war endgültig. Wenn er sie nicht liebte, konnte sie ihn
nicht heiraten. Dessen war sie sich unwiderruflich
sicher.
In ihrem Verstand
gingen Liebe und Ehe Hand in Hand. Sie wusste, dass die
Gesellschaft das anders sah, doch ihre Meinung stand fest, sie war
geformt von ihren eigenen Beobachtungen. Ihre Eltern hatten
einander sehr geliebt – man hatte es an ihren Gesichtern erkannt,
an ihrem Verhalten, wann immer sie im gleichen Zimmer gewesen
waren. Sie war sieben Jahre alt gewesen, als sie ihre Eltern zum
letzten Mal gesehen hatte. Sie hatte ihnen vom Ufer aus zugewinkt,
als ihr Boot vom Landungssteg wegfuhr. Und auch wenn ihre Gesichter
mit den Jahren in ihrer Erinnerung unscharf geworden waren, so war
doch dieser Glanz, der die beiden umgeben hatte, noch immer stark
in ihrem Gedächtnis.
Sie hatten ihr ein
Vermögen hinterlassen, und auch eine Erinnerung – für das Vermögen
war sie dankbar, doch die Erinnerung war ihr noch mehr wert. Das
Wissen, was Liebe und Ehe wirklich sein konnten, war ein kostbares,
zeitloses Vermächtnis.
Ein Vermächtnis, dem
sie niemals den Rücken kehren würde.
Sie wünschte sich
ebenfalls diesen Glanz – das hatte sie sich schon immer gewünscht.
Sie war damit aufgewachsen. Nach allem, was sie vom General und
seiner Frau Margery gesehen hatte, war auch diese Ehe damit
gesegnet gewesen.
Und das brachte sie
wieder zu Demon.
Mit gerunzelter
Stirn lief sie hin und her und dachte über die Gründe für seine
Absicht, sie zu heiraten, nach. Seine gesellschaftlich akzeptablen
Gründe waren alle recht gut und schön, doch sie waren nur
aufgesetzt und nicht wichtig. Sie konnten als gegeben hingenommen
werden.
Blieb also nur noch
das Verlangen.
Eine Minute genügte,
um all das zusammenzufassen, was sie darüber wusste. Es waren
Fragen wie zum Beispiel: Beinhaltete Verlangen auch Liebe?
Beinhaltete Liebe Verlangen? Doch sie war nicht in der Lage, diese
Fragen zu beantworten. Bis zur letzten Woche hatte sie nicht einmal
gewusst, was Verlangen überhaupt war. Und auch wenn sie jetzt
wusste, wie es sich anfühlte, so war doch ihre Erfahrung damit nur
sehr gering. Eine Tatsache, an der auch ihre Unterhaltung nichts
geändert hatte.
Es gab
offensichtlich noch so vieles, was sie über das Verlangen lernen
musste – und darüber, ob es Liebe war oder nicht.
In der nächsten
halben Stunde lief sie weiter hin und her und dachte nach, und als
dann endlich der Gong zum Essen ertönte, war sie zu einem klaren
Schluss gekommen, der eine einzige, einfache Frage aufwarf. Sie
hatte, so überlegte sie, als sie zum Haus zurückging, einen guten
Fortschritt gemacht.
Ihr Entschluss war
absolut und unantastbar – auf keinen Fall würde sie ihn ändern. Sie
würde aus Liebe heiraten oder gar nicht. Sie wollte lieben und
geliebt werden – entweder das oder gar nichts.
Und ihre Frage war
klar und sehr wichtig: War es möglich, mit Verlangen zu beginnen –
mit starkem Verlangen – und dann zu erwarten, dass Liebe daraus
wurde?
Sie hob das Gesicht
in die Sonne und schloss die Augen. Sie fühlte sich beruhigt und
war sich sicher, was sie wollte und wie sie das, was noch kommen
würde, angehen musste.
Wenn Demon sie
heiraten wollte und wenn er wollte, dass sie Ja sagte, wenn er um
ihre Hand anhielt, dann würde er ihr über das Verlangen mehr
beibringen und sie überzeugen müssen, dass ihre Frage mit einem
deutlichen Ja beantwortet werden konnte.
Sie öffnete die
Augen, hob die Röcke und lief die Treppe hinauf.