10:17
»Irgendetwas stimmt nicht«, sagte Klein und sprach damit aus, was alle dachten. »Wenn er vorgeht wie immer, müsste die Leiche längst gefunden worden sein.« Vor ihm stand ein grobschlächtiger Kaffeebecher, der aussah, als hätte er ihn selbst getöpfert. Wahrscheinlich hatte er ihn auf einem der vielen Künstlermärkte erstanden, denn sich Klein vorzustellen, wie er feuchten Lehm knetete, fiel ihr schwer.
»Vielleicht ist es nur ein Zufall«, wandte Krüger ein. »Vielleicht hat er dieses Mal einen abgelegenen Ort gewählt, und bis jetzt ist noch niemand dort vorbeigekommen. Oder er hatte die SMS bereits vor der Ablage losgeschickt und wurde anschließend gestört, so dass er den Körper am Ende nicht mehr loswerden konnte.« Er schaute Lena Böll fragend an. »Hältst du das für denkbar?«
Sie musterte nachdenklich die große Landkarte an der Wand und die rote Nadel, welche den Einwahlpunkt des Handys markierte. Der Täter hatte die SMS aus der Nähe von Viernheim losgeschickt, auf hessischem Gebiet in der Nähe der Einkaufszentren. Anschließend hatte er das Handy sofort wieder ausgeschaltet. Vermutlich hatte er auch die SIM-Karte entfernt, zumindest war es nicht mehr gelungen, das Gerät zu orten. Die Position des Einwahlpunkts war bemerkenswert, denn Viernheim lag nördlicher als alle Orte, die bislang in dem Fall eine Rolle gespielt hatten, und erstmals in einem anderen Bundesland.
»Das wäre mehr als unwahrscheinlich«, antwortete sie. »Nach allem, was wir bisher von ihm wissen, geht er geplant und umsichtig vor. Dennoch gibt es auch für einen gut organisierten Täter Situationen, die er nicht völlig kontrollieren kann, und zwar die Entführung der Opfer und die Entsorgung der Leichen. Diese Aktionen bleiben selbst bei optimaler Vorbereitung riskant, denn sie werden immer auch von Zufällen beeinflusst, da sich das Risiko, beobachtet zu werden, niemals vollständig ausschließen lässt. Das ist ihm mit Sicherheit bewusst. Warum also sollte er eine triumphierende SMS losschicken, noch bevor er sich absolut sicher sein kann, die Angelegenheit planmäßig über die Bühne gebracht zu haben?« Sie wischte sich nervös eine Haarsträhne aus der Stirn. »Sollte er scheitern, würde er sich ohne Grund lächerlich machen, was er vermutlich fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Außerdem muss er damit rechnen, uns noch vor Entsorgung der Leiche seine Position zu verraten, was ihn unter enormen Zeitdruck setzen würde. Nach dem Verschicken der SMS muss er möglichst rasch untertauchen. Mit einer Leiche im Kofferraum, die es erst noch loszuwerden gilt, könnte sich das kompliziert gestalten. Warum also sollte er ein solches Risiko in Kauf nehmen? Nach meiner Ansicht wird er vielmehr sicherstellen, dass er die Ablage problemlos abwickeln kann, und seinen Triumph erst anschließend auskosten, und nicht etwa umgekehrt.«
»Das heißt, Sie sind weiterhin der Ansicht, dass er Carola Lauks Körper bereits irgendwo zurückgelassen hat?«, fragte Mildenberger, aber so wie er den Satz betonte, klang er eher wie eine Feststellung. »Und dass sie in den nächsten Stunden doch noch gefunden werden wird?« Er wirkte erschöpft. Die Hitze der letzten Tage hatte seinen massigen Körper hart auf die Probe gestellt, und schon jetzt am Vormittag war die Luft wieder feindselig schwül, so dass die Haut nichts von ihrer eigenen Wärme an sie abgeben konnte.
Sie zögerte kurz. »Theoretisch existieren zwei Möglichkeiten. Entweder hat er Carolas Körper bereits entsorgt oder aber er zögert die Ablage aus irgendwelchen Gründen hinaus und spielt somit ein völlig neues Spiel mit uns.«
»Sie meinen, es wäre möglich, dass er die Leiche bewusst zurückhält? Um den Druck zu erhöhen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Möglich ist grundsätzlich alles. Vielleicht möchte er etwas Neues ausprobieren. Aber eigentlich ergäbe das keinen Sinn. Was für ihn zählt, ist der Wiedererkennungswert der Inszenierung. Tätern wie ihm geht es um Macht und um Identität. Wollte er nur seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen, könnte er seine Opfer nachts aus dem Wagen werfen und sich den ganzen Aufwand sparen. Indem er aber die Taten nach einem gleichbleibenden Muster inszeniert, erschafft er ein neues Bild von sich selbst. Wird vom Niemand zum Jemand. Dies aufzugeben, dürfte ihn eine Menge Überwindung kosten, und mir leuchtet nicht ein, warum er darauf verzichten sollte.« Vor ihr stand ein großes Glas Mineralwasser, in dem Schwärme von Gasblasen zur Oberfläche aufstiegen und lautlos zerplatzten. »Schließlich ritzt auch Zorro nicht von einem Tag auf den anderen plötzlich ein X in seine Gegner.«
Mildenberger, der seit seinem Eintreffen im Polizeipräsidium noch kein einziges Mal gelächelt hatte, lachte so laut auf, dass Krüger erschrocken zusammenzuckte.
»Aber wo um alles in der Welt ist Carola abgeblieben?«, fragte Klein. »Wenn er seinem Stil auch weiterhin treu bleiben möchte, wird er sie wohl kaum vergraben haben.«
»Keine Ahnung«, erwiderte sie wahrheitsgemäß. »Irgendetwas an dem Ablauf ist seltsam, und mein Bauchgefühl sagt mir, dass die Leiche auch in den nächsten Stunden nicht auftauchen wird.«
»Und was tun wir jetzt?«, fragte Krüger in die Runde. »Wir können ja schlecht aufstehen und nach Hause gehen.« Er schlug nach einer Fliege, die brummend vor seinem Gesicht auftauchte.
Lena Böll räusperte sich kurz. »Genaugenommen ist die Leiche nicht wirklich wichtig. Falls sie vorerst nicht auftauchen sollte, wäre das schlimm für die Angehörigen, aber nicht schlimm für uns. Meiner Ansicht nach können wir sicher davon ausgehen, dass das Mädchen tot ist. Spätestens seit sechs Uhr dreißig. Dass der Täter in diesem Punkt blufft, halte ich für ausgeschlossen. Folglich stehen wir nicht mehr unter Zeitdruck, Carola doch noch retten zu müssen. Das mag vielleicht grausam klingen – aber die Leiche wird sich bestimmt noch finden.«
Sie sah, dass Klein den Mund öffnete, sich aber dann doch noch anders entschied und ihn vorsichtig wieder schloss, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Stattdessen begann er, ausgiebig seine Brille zu putzen. Seit ihrem Eintreffen hatte sich ihr Verhältnis deutlich entspannt, und es gab Tage, an denen sie ihn fast schon leiden konnte.
»Wahrscheinlich hätten uns die Spuren am Fundort ohnehin nicht weitergebracht«, fuhr sie fort, und die Nüchternheit in ihrer Stimme kam ihr plötzlich fremd vor – so als spräche nicht sie, sondern eine andere. »Zumindest stünden unsere Chancen, etwas Verwertbares zu finden, denkbar schlecht.« Sie suchte Mildenbergers Blick. Offensichtlich ahnte er bereits, worauf sie hinauswollte, und es war nicht zu übersehen, dass es ihm missfiel. »Was keineswegs heißt, dass wir mit leeren Händen dastehen würden. Denn immerhin hat er heute erstmals mit uns Kontakt aufgenommen. Falls wir ihn dazu bewegen können, diesen Kontakt zu wiederholen, ist es letztendlich nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn schnappen. Schließlich hat uns seine erste SMS bereits Hinweise geliefert, dass er vermutlich nicht nördlich von Mannheim leben dürfte.«
Katja Bleskjew, die selbst am Morgen schon gesund und durchtrainiert wirkte, schüttelte ungläubig den Kopf. »Was macht Sie da so sicher?«
»Nun ja, unser Täter ging zweifellos davon aus, dass wir die Position seines Handys eingrenzen würden. Wüsste er dies nicht, hätte er es nicht unmittelbar danach wieder ausgeschaltet. Dass die SMS nicht vom Ablageort der Leiche losgeschickt wurde, steht wohl fest. Er muss also zuvor von der betreffenden Stelle weggefahren sein. Alle bisherigen Fundorte lagen entweder in Mannheim oder im Süden der Stadt. Würde er nördlich von Mannheim wohnen, wäre es daher mehr als leichtsinnig, uns auf dumme Gedanken zu bringen.«
»Und wenn die Leiche nördlich von Viernheim liegt?«, fragte Krüger. Wie Mildenberger wirkte auch er ausgelaugt. So als hätte er die ganze Nacht lang kein Auge zugetan.
»Dann hätte er die SMS aus der gleichen Überlegung heraus noch weiter südlich abgeschickt.«
»Und wenn er vielleicht nur blöd ist?«, gab Katja Bleskjew zu bedenken, während sie die Fliege von ihrem Oberarm wischte. »Wenn es ihm zu spät bewusst wurde, dass er einen fatalen Fehler begangen hat?«
»Dann hätte er versucht, den Fehler wieder auszumerzen, indem er ein Stück weit nach Süden gefahren wäre und von dort aus eine weitere SMS abgeschickt hätte«, sagte Klein, noch bevor Lena Böll ihren Mund öffnen konnte.
Sie nickte ihm anerkennend zu. Einmal mehr war sie froh, ihr erstes Treffen nicht feindselig, sondern mit einem Stück Rhabarberkuchen abgeschlossen zu haben. »Sehr gut. Und was folgern wir daraus?« Inzwischen war die lästige Fliege bei ihr angelangt, legte auf ihrem Handrücken eine kurze Zwischenlandung ein und flog mit lautem Gebrumm davon.
Klein dachte kurz nach. »Wenn ich Sie richtig verstehe, dann hat er die Leiche auch dieses Mal südlich von Viernheim abgelegt, also wie üblich auf baden-württembergischem Gebiet. Anschließend fuhr er dann über die A5 nach Norden, nahm die Ausfahrt nach Viernheim, brachte die SMS auf den Weg, wechselte per Einfahrt auf die Gegenspur und fuhr zurück nach Süden.« Er schaute sie fragend an. »So etwa in der Art?«
»Genau so«, erwiderte sie lächelnd. »Nur mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass uns zur Untermauerung dieser Hypothese noch immer die Leiche fehlt.«
»Gibt es in der Nähe der Ausfahrt eine stationäre Videokamera?«, wollte Mildenberger wissen.
»Abseits des Einkaufszentrums leider nicht«, entgegnete Krüger. »Aber wir checken das bereits. Entlang der A5 und an den verschiedenen Ausfahrten natürlich auch.«
»Sehr gut.« Mildenberger schien einen Moment lang mit sich zu ringen, dann wandte er sich an Lena Böll. »Glauben Sie wirklich, er wird sich erneut bei Ihnen melden?«
»Ich denke schon. Das dürfte stark davon abhängen, wie wir uns verhalten. Vermutlich erhofft er sich irgendeine Reaktion. Dass wir antworten oder die Info an die Medien weitergeben. Diese Erwartung sollten wir gezielt enttäuschen und stattdessen so tun, als hätte es diese SMS niemals gegeben. Das wird ihn kränken und ihn provozieren, nochmals nachzulegen. Dass er sich mit uns in Verbindung gesetzt hat, darf niemand erfahren. Schon gar nicht die Presse. Da wir aber bislang keine Leiche gefunden haben, würde das zwangsläufig bedeuten, dass Carola Lauk offiziell noch lebt.«
Mildenberger verzog das Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Bleskjew fragte leise: »Und was ist mit den Eltern? Die beiden werden das auf keinen Fall lange für sich behalten können.«
»Fürs Erste haben wir sie dringend darum gebeten, niemandem von der Nachricht zu erzählen. Sollte die Leiche in den nächsten Stunden auftauchen, wäre dies sicherlich kein Problem. Kompliziert wird es erst, wenn das Mädchen über einen längeren Zeitraum verschwunden bleibt.«
Mildenberger schüttelte ungläubig den Kopf. »Wenn das rauskommt, wird man uns den Kopf abreißen.« Er schaute sich drohend um. »Sollte von diesem Gespräch auch nur eine einzige Silbe nach draußen dringen, wird es mir ein Vergnügen sein, die undichte Stelle für immer zu schließen. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Er wartete ab, bis alle Anwesenden artig genickt hatten, dann fuhr er fort: »Nur einmal angenommen, ich wäre verrückt genug, Ihren Vorschlag in Erwägung zu ziehen, was genau wäre dann Ihr Plan? Darauf zu hoffen, dass ihm irgendwann ein Fehler unterläuft und er unmittelbar nach der Handyortung durch eine Radarfalle fährt? Oder dass er eine attraktive Hauptkommissarin zu seinem nächsten Opfer auserwählt und es uns in letzter Sekunde gelingt, ihn zu stellen und die Schöne vor einem grausamen Tod zu bewahren?« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus, aber in seinen Augen war auch Sorge zu erkennen.
»Keine Angst. Ich habe nicht vor, unnötige Risiken einzugehen und mich als Köder anzubieten.« Sie schlug genervt nach der Fliege, die sich auf ihrer Ohrmuschel niedergelassen hatte.
»Ach nein?« Er deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Wange. »Das wäre ja auch etwas völlig Neues und noch nie Dagewesenes, nicht wahr?«
Sie war verwundert über seine Heftigkeit, war aber an derartige Auseinandersetzungen gewöhnt und nicht bereit, sich unterkriegen zu lassen. Die Jahre mit Schröder hatten sie bis zur Unempfindlichkeit abgehärtet. Wer Schröder aushielt, hielt alle aus. Verglichen mit Schröder wirkte Mildenberger selbst in seiner Wut noch wie ein netter Bär. »Wie Sie vermutlich wissen, ist entgegen allen Serienkiller-Klischees kein einziger Fall dokumentiert, bei dem der Mörder versucht hätte, den mit dem Fall betrauten Ermittler zu töten. Auch Hoffmann war bis zuletzt niemals hinter mir her, sondern stets ich hinter ihm.« Sie wartete kurz ab, ob Mildenberger etwas einwenden wollte, doch er schwieg. Offensichtlich war er damit beschäftigt, das Für und Wider ihres Plans abzuwägen. »Ich denke, wir sollten die SMS nutzen und unsere Perspektive verändern«, fügte sie vorsichtig hinzu. »Natürlich verfolgen wir auch andere Spuren weiter wie bisher. Aber zudem sollten wir uns auf die Möglichkeit konzentrieren, dass er erneut anrufen wird. Und dann sollten wir vorbereitet sein. Wie ein Angler, wenn der Schwimmer zuckt.«
Im selben Moment, in dem sie das Wort zuckt aussprach, ließ Mildenberger seine flache Hand auf die Tischplatte knallen, was bei den Anwesenden einen kollektiven Ruck auslöste, dem erschrockenes Schweigen folgte.
Er musterte zufrieden seine Handfläche und griff mit der Linken in die Hosentasche. Dann zog er ein Taschentuch heraus und kratzte den schwarzen Brei, der kurz zuvor noch eine Fliege gewesen war, von seiner Haut ab.
Als er schließlich antwortete, klang seine Stimme ernst: »Der Plan klingt nicht schlecht. Nur schade um den Wurm.«