13:59

»Gold wird mir helfen«, sagte Romberg, doch in der Welt der Geister blieb es still.

Draußen auf der Straße bellte ein Hund, und der Kühlschrank brummte etwas lauter als sonst – vermutlich eine Auswirkung der enormen Hitze –, ansonsten aber blieb es still.

»Er wird mir sogar eine Waffe besorgen. Mir. Eine Waffe. Könnt ihr euch das vorstellen? Und eine Liste der in Frage kommenden Kennzeichen. Deswegen bin ich heute schon früher zu Hause. Weiter nach dem Laguna zu suchen, wäre jetzt völlig sinnlos.«

Im Treppenhaus knackte eine Stufe. Selbst das Holz stöhnte unter den hohen Temperaturen. Romberg lauerte stumm auf einen Schritt, aber auch die Stufe hielt bewegungslos inne. Er hüstelte. Nur um laut und leise sicher voneinander abgrenzen zu können. Vor ihm auf dem Küchentisch lag der kleine Stapel Post, den er beim Hereinkommen im Briefkasten vorgefunden hatte. Obenauf der Brief, den er täglich an sich selbst verschickte. Nur für den Fall, dass ihm irgendetwas zustoßen sollte. Dann würde Achim den Umschlag finden und wäre in der Lage, anhand seiner Instruktionen alles Weitere in die Wege zu leiten.

Er würde sich von Achim verabschieden müssen. Noch heute!

Von seiner Mutter nicht. Sie lebte seit Jahren verwirrt in einem Heim und hatte vergessen, wer er war. Alles vergessen. Welch ein Albtraum! Vielleicht auch eine Form der Erlösung. Aber lieber würde er Trilliarden von Jahren in der Hölle braten, als Maren und Laura aus seinem Gedächtnis zu streichen.

Golds Angebot schuf völlig neue Voraussetzungen. Der Mörder hatte bisher stets an den Wochenenden zugeschlagen, und heute war erst Mittwoch, so dass ihm noch mindestens zwei Tage Zeit blieben, um den Kombi aufzuspüren, womöglich sogar wesentlich länger, vielleicht auch mehrere Wochen. Vermutlich hatte das Verschwinden der Leiche den Täter verunsichert. Bestimmt befürchtete er, beobachtet worden zu sein. Insofern würde er auf Nummer sicher gehen und erst einmal abwarten. Dass ihm von einem Unbekannten die Show gestohlen worden war, würde ihn wütend werden und Rache schwören lassen. Wenn aber Gold sein Versprechen hielt und ihm schon übermorgen die Liste mit den Kennzeichen aushändigte, könnte Romberg den Mörder noch vor Samstag aufspüren. Es sei denn, er hatte sich getäuscht, und es war überhaupt kein Laguna und das Nummernschild endete auch nicht mit einer Zwei und einer Drei.

Hatte er sich getäuscht?

Hatte er sich das vielleicht alles nur eingebildet?

Als er die Kaffeemaschine anschaltete, raste draußen brüllend ein Motorrad vorbei.

Je mehr der Zeitpunkt, zu dem er Carola Lauk gefunden hatte, in die Vergangenheit abdriftete, desto mehr verstärkten sich seine Zweifel, ob der geheimnisvolle Kombi nicht ebenso gut seiner Phantasie entsprungen sein könnte. So wie vieles. Dennoch: Sollte er es bis Freitag nicht geschafft haben, den Täter ausfindig zu machen, würde er sein Wissen auf jeden Fall an die Kripo weitergeben müssen. Anonym natürlich. Bis zum heutigen Tag wäre sein Anruf womöglich nicht einmal ernst genommen worden. Jetzt aber würde ihm der Brief, den er an die Lauks geschickt hatte, die Möglichkeit geben, sich auf dessen Text zu beziehen und zu beweisen, wer er war.

Nein, der Wagen war da gewesen! Ein Laguna, vielleicht auch ein Passat oder irgendein Volvo, aber ein langer, dunkler Wagen, mit einem Speyerer Kennzeichen und am Ende eine Zwei und eine Drei.

Wieso hatte ausgerechnet er das Mädchen gefunden?

Weil du nicht schlafen konntest, hörte er Maren sagen.

Manchmal war sie da und manchmal nicht. Ohne dass er es steuern oder vorhersagen konnte. Wahrscheinlich hatte sie recht. Aber vielleicht war er ja auch der Täter. Vielleicht waren ja Nummer Eins und Nummer Zwei in Wirklichkeit dieselbe Person, und kein anderer als er selbst hatte die Frauen ermordet.

»Und warum solltest du das tun?«, fragte Maren skeptisch.

Weil er die Sache mit Laura noch immer nicht verarbeitet hatte. Um das alles noch einmal zu durchleben und irgendjemanden sterben zu sehen. Und anschließend hatte er seine Taten verdrängt und seinem Bewusstsein die Möglichkeit verwehrt, nochmals darauf zuzugreifen. Vielleicht hatte er Carola nur daher gleich erkannt. Das würde auch die Sache mit dem Duschgel erklären, und das Kennzeichen hätte er sich dann ebenfalls nur ausgedacht. Vielleicht verfolgte er seit Tagen sich selbst.

Maren schwieg.

Er dachte an Khao Lak. An die langen Reihen von Leichen und den unerträglichen Gestank. Maren war in ihrer Reihe die elfte gewesen. Die elfte von links. Zu Lebzeiten war Maren eine bemerkenswert schöne Frau gewesen. Am Ende nur noch zu Jauche zerfallendes Fleisch. Sie hätte auf keinen Fall gewollt, dass er sie so sah. Dass er sie in dieses Bild gepresst in Erinnerung behalten würde! Aber die Situation hatte ihm keine Wahl gelassen. Damals hatte ihn das Leben angefallen wie ein wildes Tier und ihm bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen. Seither hatte die Zahl Elf in seinem Denken eine besondere Bedeutung. Wenn er sie sah oder hörte, bekam er kaum noch Luft. Anfangs hatte er sich in solchen Situationen regelmäßig übergeben. Die Elf, das war die Zahl der Verwesung. Erst Carmen Mingus hatte ihn dazu überredet, sich ihr zu stellen. Es ist nur eine Zahl, hatte sie gesagt, und sich dauerhaft vor ihr zu beugen, kommt überhaupt nicht in Frage. Also hatte sie ihm jede Menge Übungen auferlegt, die mit der Elf in Verbindung standen. Über Monate hatte er Dutzende von Blättern mit der immer gleichen Zahl bekritzelt und sie überall in der Wohnung verteilt, seinen Wecker auf sieben Uhr elf eingestellt, nach dem Aufstehen elf Kniebeugen absolviert und beim Frühstück elf Trauben unter sein Müsli gemischt. Mit der Zeit hatte die Zahl ihren Schrecken verloren. Aber vergessen würde er es nie.

Er ging ins Wohnzimmer, griff nach der Fernbedienung und richtete sie auf den Fernseher. Als er die Zehn drückte, auf der SWR 3 eingespeichert war, sah er Lena Böll. Sie saß gemeinsam mit drei Männern und einer Frau hinter einer Begrenzung aus aneinandergeschobenen Tischen und beobachtete interessiert das hektische Treiben, das nur einen Meter von ihnen entfernt ins Chaos abzudriften drohte. Einer der Männer, der Polizeipräsident, wog weit über hundert Kilo und war unübersehbar nass geschwitzt. Sein Nebenmann, bei dem es sich laut einer vor ihm stehenden Namenstafel um Hauptkommissar Krüger handelte, wirkte dagegen auffallend dürr. Fast hätte man meinen können, die beiden Männer hätten sich über Monate ihr Essen geteilt, und der gigantische Appetit seines Chefs hätte für Krüger nur wenige Krümel übriggelassen. Die zweite Frau war die Staatsanwältin Mira Breitenbusch-Keese. Neben den drei Kriminalbeamten wirkte sie wie ein Fremdkörper, und ihr war anzusehen, dass sie dies durchaus registrierte. In der Mitte der Fünferkette saß Xaver Seibling, der Pressesprecher, der völlig entspannt wirkte, so als sei der Anlass für das Treffen kein besonderer, sondern alltäglich und banal. Zu der Pressekonferenz waren zahlreiche Vertreter verschiedener Tageszeitungen, Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehsender erschienen. Der Raum war brechend voll. Mit Sicherheit würde auch der Mörder die Sendung aufmerksam verfolgen. Lena Böll war sich dieser Tatsache ohne Zweifel bewusst und würde sie in ihre Überlegungen miteinbeziehen. Romberg fragte sich, ob sein Brief an die Lauks bereits angekommen war. Falls ja, würde er es in den nächsten Minuten erfahren. Falls nicht, waren die fünf Repräsentanten der SOKO nicht zu beneiden. Am Abend zuvor hatte die Presse aufgeregt von der Existenz eines weiteren Täters berichtet. Von ihm! Zu seiner Überraschung nannten sie ihn Nummer Zwei. Seltsam nur, dass er den Brief an die Lauks erst gegen sechzehn Uhr eingeworfen hatte – etwa eine Stunde vor der Leerung. Der Brief konnte daher unmöglich schon gestern ausgeliefert worden sein. Dennoch schien die Presse schon um achtzehn Uhr vom Verschwinden der Leiche gewusst zu haben, also schon lange, bevor sie sein Geständnis gelesen haben konnten. So als hätte die Vergangenheit die Gegenwart überholt und wäre unversehens zur Zukunft geworden. Was leider nicht möglich war. Stünde ihm die eigene Vergangenheit noch einmal bevor, so böte sich ihm dadurch eine zweite Chance, Laura vielleicht doch noch festhalten zu können. Aber würde das etwas ändern? Vermutlich würde er nochmals scheitern. Das Wasser war einfach zu stark gewesen. Gegen das Meer hat niemand eine Chance. Aber zumindest hätte er die Möglichkeit, mit ihr zu gehen, ohne zu zögern und ohne dass es – um Jahre zu spät – nur noch erbärmlich wirken konnte.

Draußen raste erneut das Motorrad vorbei. Zurück in den Wald.

Um Punkt vierzehn Uhr schaute der Pressesprecher demonstrativ auf seine Uhr und begrüßte mit knappen Worten die Anwesenden. Anschließend teilte er mit, wie er sich den Ablauf des Treffens vorstelle. Dass man erst einmal die neuesten Erkenntnisse umfassend darstellen würde, wofür eine halbe Stunde veranschlagt worden sei. Dass aber anschließend sicher noch ausreichend Zeit bliebe, um Fragen zu stellen. Insofern bitte er im Interesse aller Beteiligten ausdrücklich darum, die Ausführungen nicht ständig durch vorzeitige Wortmeldungen zu unterbrechen. Danach erteilte er Lena Böll das Wort.

»Wie Sie seit gestern Abend aus den Medien wissen«, begann sie sarkastisch, »stehe ich seit einigen Tagen mit dem von uns gesuchten Frauenmörder in Kontakt. Dieser hat am Sonntagmorgen per SMS eine Verbindung mit Carola Lauks Eltern hergestellt. Und wenig später auch mit mir.« Sie hielt kurz inne, um ihre Wort wirken zu lassen, dann fuhr sie fort: »Die Botschaften des Täters legten nahe, dass Carolas Leiche kurz vor dem Eintreffen der SMS irgendwo abgelegt worden sein muss. Allerdings wurde ihr Körper bis heute noch immer nicht gefunden, was uns anfangs vor ein Rätsel stellte, und nicht nur uns, denn auch der Täter war durch das Verschwinden des Opfers verständlicherweise irritiert. Zuerst dachten wir, er spiele irgendwelche bizarren Spielchen mit uns. Schließlich kamen wir aber zu dem Schluss, dass sich tatsächlich eine zweite Person in das Geschehen eingemischt und die Leiche abtransportiert hatte.«

Romberg versuchte verwirrt, Bölls Worte mit seinen bisherigen Informationen in Übereinstimmung zu bringen. Der Mörder hatte sich schon vor Tagen bei der Kripo gemeldet? Diese Möglichkeit hatte er bislang nicht bedacht. Das erklärte einiges.

»Etwas Vergleichbares ist in der Geschichte der Kriminalistik noch nie passiert, und eine Zeitlang sah es so aus, als würde uns der Fall völlig aus den Händen gleiten.« Sie lächelte ein unwiderstehliches Lächeln. »Aber seit etwa zwei Stunden haben wir die Angelegenheit wieder halbwegs unter Kontrolle.«

Sie hat den Brief gelesen, dachte er. Ihm fiel ein, dass er vergessen hatte, sich einen Kaffee durchlaufen zu lassen, aber da er Angst hatte, etwas Entscheidendes zu verpassen, zündete er sich stattdessen eine Zigarette an.

Wie selbstverständlich übernahm nun der Dürre das Wort und konzentrierte sich in seinen Ausführungen auf den Stand der Ermittlungen im eigentlichen Fall. Aufgeschreckt durch die bizarre Tat von Nummer Zwei habe der Mörder mehrmals Kontakt mit der Kripo gesucht, wodurch es inzwischen gelungen sei, einige Haare auf einer Kirchenbank in Sankt Sebastian zu sichern, welche eindeutig dem Täter zuzuordnen seien. Insofern läge dessen DNA nun zweifelsfrei vor, so dass man ab sofort jeden Verdächtigen überführen oder sicher ausschließen könne. Allerdings wisse man bislang immer noch nicht, wo genau man suchen müsse.

Romberg verspürte plötzlich ein Gefühl von Stolz. Dass sie die DNA gesichert hatten, war offensichtlich ihm zu verdanken. Er hatte die Untersuchungen also nicht etwa behindert, sondern sie im Gegenteil entscheidend vorangebracht.

»Mit den Dutzenden von Speichelproben, die wir in den letzten Wochen entnommen haben, gab es bislang keine einzige Übereinstimmung«, erklärte Krüger, »und auch in der zentralen Datenbank ist die DNA des Mörders nicht abgespeichert. Was uns somit fehlt, ist ein entscheidender Hinweis. Würden wir zum Beispiel wissen, in welchem Ort oder Vorort der Täter wohnt, wären wir wahrscheinlich in der Lage, in Kombination mit dem von uns erstellten Profil den Kreis der Verdächtigen zumindest so weit einzugrenzen, dass eine Reihenuntersuchung möglich wäre.«

»Sie sind sich also hundertprozentig sicher, dass Carola Lauk tot ist?«, fragte ein Journalist. »Aber Sie haben keine Ahnung, wo sie sich befindet?«

Krüger öffnete bereits den Mund, aber Lena Böll kam ihm zuvor. »Sie liegt in einer Tiefkühltruhe«, sagte sie laut. Das Gesicht der Staatsanwältin schien schlagartig zu erstarren. In dem Raum wurde es unwirklich still. Die Stille hielt sekundenlang an, dann aber brach die Hölle los, und Dutzende von gleichzeitig gestellten Fragen vermischten sich zu einem unentwirrbaren akustischen Knäuel.

»Ruhe! Ich bitte um Ruhe!«, rief der Pressesprecher laut. »Wenn Sie vielleicht so freundlich wären, Ihre Erregung noch für einige Minuten zu zügeln, würden wir davon sicherlich alle profitieren.« Als er sich erneut Lena Böll zuwandte, war sein Gesicht dunkelrot verfärbt. »Also bitte, Frau Hauptkommissar. Fahren Sie fort!«

Ihr war eindeutig klar, dass es keine Nachrichtensendung gab, die das, was sie zu sagen hatte, nicht zur besten Sendezeit ausstrahlen würde. »Seit etwa einer Stunde befinden wir uns in Besitz eines Schreibens, das unseres Erachtens nur von Nummer Zwei stammen kann.«

Wieder brach in dem Konferenzraum das Chaos aus. Romberg spürte, wie sich trotz der Hitze seine Nackenhaare kräuselten. Lena Böll wartete gelassen ab, bis das Stimmengewirr abgeebbt war. »Ich möchte der hier anwesenden Presse heute so weit entgegenkommen, dass ich Ihnen den Brief vorlesen werde. Er wurde eindeutig losgeschickt, bevor die Presse von Nummer Zwei berichtete, und enthält Informationen über körperliche Erkennungsmerkmale des Opfers, die nicht allgemein zugänglich sind. Für uns ein Indiz, dass dieser Brief echt sein muss. Sind Sie bereit?«

Kollektives Nicken. Nur Breitenbusch-Keese schien die Nachrichten noch immer nicht verwunden zu haben. Anscheinend war sie von den Neuigkeiten ebenso überrascht worden wie die anwesende Presse. Romberg stellte erstaunt fest, dass er ebenfalls nickte.

»Liebe Frau Lauk, lieber Herr Lauk!

 

Ihnen diesen Brief zukommen zu lassen, war mir ein tiefes Bedürfnis, und ich möchte mich ausdrücklich dafür entschuldigen, dass ich so lange zögerte, ihn zu schreiben. In erster Linie war es wohl meine Scham, die mich davon abhielt, diesen Schritt endlich zu gehen. Denn was ich getan habe, mag vielleicht verständlich sein, bleibt aber dennoch unverzeihlich.«

Sie hat den Text verändert, dachte Romberg und vergaß verblüfft zu atmen.

»Am frühen Sonntagmorgen war ich schon sehr früh im Wald unterwegs, und so war ich es, der Ihre Tochter fand. Sie saß tot auf einer Bank, und als ich dort eintraf, war der Mörder wohl schon seit geraumer Zeit verschwunden. Bedauerlicherweise, denn somit werde ich zu seiner Ergreifung leider nichts beitragen können. Ich fürchte, dass ich sogar durchaus Spuren vernichtet haben könnte, aber da in der Vergangenheit nichts gefunden wurde, wodurch der Täter gefasst werden konnte, hoffe ich, der Schaden hält sich eher gering.«

Hatte er das wirklich so geschrieben? Nein! Oder doch? Warum zum Teufel tat sie das? Was fiel ihr ein, seinen Text zu manipulieren? Er hielt noch immer die Zigarette in der Hand, hatte aber noch nicht daran gezogen, so dass die Glut inzwischen erloschen war.

»Was am Sonntag geschah, kann ich mir bis heute selbst nicht recht erklären, doch ich denke, es hängt damit zusammen, dass ich den Gedanken, dass Carola so nackt und schutzlos, wie sie da saß, aufgefunden werden würde, einfach nicht ertragen konnte. Also tat ich etwas Ungeheuerliches. Ich lud Carola in den Kofferraum meines Wagens und brachte sie zu mir nach Hause. Dort zog ich ihr ein schönes Sommerkleid an und legte sie, um ihren Körper vor der Verwesung zu bewahren, in eine Tiefkühltruhe.

 

Es tut mir leid, dass nun ich es bin, der Ihre Hoffnungen zerstören und Ihnen mitteilen muss, dass Ihre Tochter tot ist. Den Schmerz, den ich Ihnen durch meine Tat zugefügt habe, bedaure ich zutiefst, aber es war mir nicht möglich, die perverse Zurschaustellung des Mörders hinzunehmen und ihn mit seiner Geltungssucht davonkommen zu lassen.«

Perverse Zurschaustellung? Geltungssucht? Warum diese Formulierungen? Ihr musste doch klar sein, dass dies den Täter reizen würde.

»Ich möchte Ihnen versichern, dass ich Carola durchgängig respektvoll begegne. Ich habe ihren Körper auf Decken und Kissen gebettet, und … das mag vielleicht verrückt klingen … sie hält sogar ein Kuscheltier im Arm. Sie können sich darauf verlassen, dass ich Ihnen Ihre Tochter schon bald zurückbringen werde. Bis jetzt habe ich dazu leider noch keine Gelegenheit gefunden.

 

Da Sie vermutlich sehr viel Post von den merkwürdigsten Leuten erhalten, lege ich Ihnen zum Abgleich der DNA eine Haarsträhne bei. Carola hat … Hier beschreibt er nun einige körperliche Erkennungsmerkmale … Ich hoffe, damit die Glaubwürdigkeit meiner Aussage ausreichend belegt zu haben.

 

Mit mitfühlenden Grüßen«

Für einen kurzen Moment wagte es niemand, die Stille zu durchbrechen, dann entstand erneut ein wildes Durcheinander, in dem alle gleichzeitig zu reden schienen. Seibling intervenierte sofort, bat freundlich um Disziplin und rief eine rothaarige Frau in der zweiten Reihe auf.

»Ist dieser Brief denn wirklich glaubwürdig?«, fragte die Rothaarige aufgeregt. »Welche Möglichkeiten stehen Ihnen zur Verfügung, um zu überprüfen, ob der Verfasser auch wirklich die Wahrheit schreibt?«

Während Lena Böll antwortete, hörte Romberg kaum noch zu. Was genau hatte sie vor? Sie hatte alle Stellen gestrichen, die darauf hindeuteten, dass er den Täter gesehen haben könnte, und auch an seiner eigenen Motivation hatte sie Eingriffe vorgenommen, die verhindern sollten, dass man ihn in dem Schreiben wiedererkennen konnte. Allerdings hatte sie zusätzlich Passagen eingefügt, die den Mörder provozieren würden. Warum? Wenn sie den Täter auf ihn hetzen und ihn als Köder benutzen wollte, wieso sorgte sie dann gleichzeitig dafür, dass er von Nummer Eins nicht gefunden werden konnte?

»Könnte es sich nicht ebenso gut um einen Trittbrettfahrer handeln?«, fragte ein junger Mann mit einem von Aknenarben übersäten Gesicht. »Um irgendeinen Verrückten, der sich nur wichtigmachen will?«

Lena Böll schüttelte den Kopf. »Der Brief wurde über den offiziellen Postweg ausgeliefert. Der Umschlag und die Briefmarke sind abgestempelt. Er muss also bereits abgeschickt worden sein, bevor die Öffentlichkeit über das Verschwinden der Leiche informiert worden war.«

Die nächste Frage betraf Rombergs Motivation.

»Nach unserer Ansicht hat er es in erster Linie gut gemeint. Er wollte dem Mädchen helfen und den Plan des Mörders, sie öffentlich bloßzustellen, bewusst durchkreuzen. Trotzdem können wir sein Verhalten natürlich nicht gutheißen. Ich möchte ihn hiermit ausdrücklich auffordern, sich bei uns zu melden und Carolas Leiche an die Eltern herauszugeben. Sie können sich zweifellos ausmalen, was die Lauks in den letzten Wochen durchzustehen hatten.«

»Hat er denn mit juristischen Konsequenzen zu rechnen?«, fragte jemand.

Die Frage schien Mira Breitenbusch-Keese aus ihrer Schockstarre zu lösen, denn sie schüttelte energisch den Kopf. »Ich denke nicht. So einen Fall hat es bisher noch nicht gegeben. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man ihn unter derartigen Umständen ernsthaft wegen Störung der Totenruhe belangen könnte. Zumindest nicht, ohne sich lächerlich zu machen. Eventuell wegen der Einmischung in die polizeilichen Ermittlungen. Aber diese hatten in dem Moment, als er sich der Leiche bemächtigte, überhaupt noch nicht ihren Anfang genommen. Wir werden das alles eingehend prüfen müssen.«

Während eine weitere Frage gestellt wurde, öffnete sich hinter ihr eine Tür. Ein Mann Mitte vierzig, dessen Mundwinkel zuckte, trat an Lena Böll heran und sprach ihr etwas ins Ohr. Bölls Miene wurde ernst.

»Meine Damen und Herren. Gerade eben wird mir mitgeteilt, dass der Mörder vor etwa einer halben Stunde erneut versucht zu haben scheint, eine junge Frau zu entführen«, sagte sie laut. »Glücklicherweise gelang es dieser, zu entkommen. Es tut mir leid, aber wir werden wohl vorzeitig zum Ende kommen müssen.«

Romberg erschrak. Nummer Eins war schon wieder auf der Jagd? Aber wieso schon jetzt? Wieso schon so früh? Wenn der Täter tatsächlich einen Laguna fuhr und falls er sich mit der Zwei und der Drei auf dem Kennzeichen nicht getäuscht hatte, dann war er für diesen Vorfall eindeutig mitverantwortlich. Dass die Frau entkommen war, war einfach nur Glück. Nicht auszudenken, wenn ihre Entführung gelungen wäre. Sein Puls raste.

Maren! Was soll ich nur tun?

Keine Antwort. Von draußen wehte eine salzige Brise durch den Raum.

Ruhig bleiben! Ganz ruhig bleiben!

Ihm fiel ein, dass er die letzte Chilischote in Speyer aufgebraucht und seinen Vorrat seither nicht wieder aufgefüllt hatte. Er musste umgehend die Polizei anrufen und ihnen alles beichten.

Alles?

Es war noch immer viel zu vage.

Nein, er sei unerkannt entkommen, beantwortete Lena Böll die Frage, ob man habe Spuren sichern können, und nein, über die Identität der Frau könne sie zu deren Schutz leider nichts sagen. Die Pressekonferenz war inzwischen völlig außer Kontrolle. In dem Raum herrschte ein heilloses Durcheinander.

Romberg griff fahrig nach der Fernbedienung und drückte die Stummschalttaste. Dann nahm er das Telefon aus der Ladeschale, tippte Golds Nummer ein und hielt es sich ans Ohr.

»Ja?«, meldete sich Gold.

»Ich bin es: Romberg.«

»Aha. Was liegt an? Hast du es dir anders überlegt?«

»Nein. Ich wollte nur anfragen, ob du die Besorgungen ein wenig beschleunigen könntest?«

Einen Moment lang blieb es still. Romberg fragte sich, ob Gold vielleicht ebenfalls vor dem Fernseher saß und daher ahnte, um was es ging. Im Hintergrund hörte er Stimmengewirr. Gold schien sich nicht zu Hause aufzuhalten.

»Das kommt darauf an, wie du ein wenig definierst.«

Was für einen Wagen fuhr eigentlich Gold?

»Morgen früh?«

»Wow. Das hört sich ja wirklich an, als ginge es um Leben und Tod. Bist du dir sicher, dass du nicht doch darüber sprechen möchtest?«

»Später. Momentan ist es dafür noch ein wenig zu früh.« Romberg schaute weiterhin auf den Bildschirm, wo die vier Vertreter der Sonderkommission geduldig Dutzende von Fragen beantworteten.

Gold seufzte. »Na schön. Ich werde sehen, was ich tun kann. Wir sehen uns später auf dem Schießstand.« Dann legte er auf.

Alles wird gut, dachte Romberg, aber gleichzeitig war da plötzlich das Gefühl, dass er den nächsten Tag nicht überleben würde. Als er aber erkannte, dass sich beides nicht zu widersprechen, sondern sich vielmehr zu ergänzen schien, breitete sich eine wohlige Ruhe in ihm aus.