12:24
Mira Breitenbusch-Keese war wie üblich schlecht gelaunt.
Zu wenig Sex, dachte Lena Böll.
Dann fiel ihr ein, dass dies momentan auch auf sie zutraf, und die Erkenntnis, seit Monaten zölibatär gelebt zu haben, traf sie hart. Höchste Zeit, sich einen Mann an Land zu ziehen. Jemanden außerhalb des Teams. Der sich nur für ihre Hülle interessierte. Einen Mann fürs Grobe. Genaugenommen ein Kinderspiel. Ein Abend an einem Tisch in irgendeinem Lokal reichte vermutlich schon aus. Dazu ein Top, das ihre Oberweite zur Geltung brachte, und einige gezielte Blickkontakte. Mit den Männern fürs Feine war es um einiges schwieriger. Doch an einem Mann fürs Feine war sie vorerst nicht interessiert.
»Wenn ich Sie richtig verstehe«, sagte die Staatsanwältin, »ist es uns gelungen, im Innenraum der Kirche mehrere Fasern zu sichern. Und wie üblich auch einige Haare. Außerdem verfügen wir erstmals über eine Beschreibung des Täters, auch wenn diese eher vage auszufallen scheint. Und wir haben ein Handy und zwei SMS, deren Inhalt niemand versteht. War das soweit korrekt?«
»Im Großen und Ganzen schon«, sagte Böll, entschlossen, sich auf keinen Fall provozieren zu lassen.
»Kann uns das irgendwie weiterhelfen? Fasern und Haare haben wir weiß Gott schon genug. Genug, um daraus einen Teppich knüpfen zu können.«
»Stimmt. Aber dieses Mal ist es anders, denn dieses Mal konnte er nicht davon ausgehen, dass wir genau dort suchen würden. Insofern sind die von ihm zurückgelassenen Spuren vermutlich nicht manipuliert, sondern erstmals authentisch. Ein Zeuge in der Kirche konnte sich detailliert daran erinnern, wo er saß, als die SMS losgeschickt wurde. Er fiel ihm auf, weil er im Innern der Kirche eine Sonnenbrille trug. Und weil er sich ständig mit seinem Handy beschäftigte, anstatt sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Sollte also eines der Haare genetisch mit einem der bislang sichergestellten übereinstimmen, so wäre es mit hoher Wahrscheinlichkeit unserem Täter zuzuordnen.«
»Verstehe«, sagte Breitenbusch-Keese. »Und die Beschreibung des Täters? Liefert sie uns irgendwelche neuen Informationen?«
»Wenn wir dem Zeugen trauen können, schon. Ende dreißig, zwischen einsachtzig und einsneunzig groß, muskulös, aber nicht korpulent. Sympathisch und gutaussehend. Blondes, kurz geschnittenes Haar. Bekleidet mit einem olivfarbenen T-Shirt und gewöhnlichen Jeans.«
»Immerhin. Besser als nichts. Was ist mit den Botschaften? Schon irgendeine Idee, was sie bedeuten könnten?«
»Mehr als eine Idee. Eine Theorie. Aber ich glaube nicht, dass Sie sie mögen werden.«
Breitenbusch-Keese lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Eine Geste der Selbstberuhigung. Ein Zeichen für Unbehagen. »Jetzt bin ich aber wirklich gespannt.«
Katja Bleskjew drückte auf den Knopf des Beamers, und an der Wand erschienen die Texte der beiden SMS. Lena Böll sah, wie mehrere der Anwesenden, welche die Nachrichten erstmals zu Gesicht bekamen, ungläubig die Köpfe schüttelten. Sie zögerte. Was sie zu sagen hatte, klang völlig verrückt. Falls sie sich täuschte, würde sie sich zwangsläufig lächerlich machen und Breitenbusch-Keese ungebremst ins Messer laufen. Aber je häufiger sie ihre Hypothese prüfte, umso mehr war sie davon überzeugt, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag.
»Ich habe lange darüber nachgedacht. Setzt man voraus, dass der Täter das, was er uns schreibt, auch wirklich ernst meint … und ich glaube, das ist der Fall … so existiert nur eine einzige Erklärung, die seine Botschaft plausibel erscheinen lässt.« Sie deutete in Richtung der Leinwand. »Willst du mich provozieren? Oder gibt es in Mannheim neuerdings Wölfe oder Bären? Was will er uns damit sagen?«
Allgemeines Schweigen.
»Er unterstellt uns, dass wir ihn gezielt zu reizen versuchen«, fuhr sie fort. »Die einzige Möglichkeit, dass es sich anders verhalten könnte, besteht für ihn in der hypothetischen Existenz von Wölfen und Bären, das heißt von Raubtieren, die sich in erster Linie von Fleisch ernähren, von großen Mengen Fleisch.«
Mildenberger begriff es als Erster. »Sie glauben doch nicht etwa …«
»Doch. So wie es aussieht, ist unserem Täter tatsächlich die Beute abhandengekommen.«
Breitenbusch-Keese starrte sie fassungslos an. »Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Verflucht, sie hat recht«, widersprach ihr Mildenberger. »Das erklärt auch seine Wut. Und natürlich auch die Tatsache, dass Carolas Leiche noch immer nicht gefunden wurde. Damit ergibt plötzlich alles einen Sinn. Irgendein kranker Freak hat die Leiche gestohlen, und der Mörder denkt natürlich das Naheliegende, nämlich, wir seien es gewesen und wir versuchten, ihn auszutricksen.«
»O mein Gott!«, stöhnte die Staatsanwältin auf. »Als hätte dieser Fall nicht bereits jetzt schon genug Aufmerksamkeit auf sich gezogen!« Auch Xaver Seibling, der Ö, schien von der unerwarteten Entwicklung nicht angetan zu sein.
Mildenberger verzog missbilligend das Gesicht. »Momentan sollten wir uns vielleicht etwas mehr auf den Fall und etwas weniger auf Politik und auf die eigene Karriere konzentrieren.«
Mira Breitenbusch-Keese lief rot an und verstummte prompt, und Lena Böll war einmal mehr froh, Mildenberger zum Chef zu haben.
»Und wenn sie noch am Leben war?«, meldete sich Bleskjew zu Wort. »Wenn er sie irgendwo zurückgelassen hat, und sie kam wieder zu Bewusstsein und konnte flüchten? Was, wenn sie seither irgendwo liegt und verzweifelt auf Hilfe wartet?«
»Diese Möglichkeit habe ich ebenfalls bereits in Erwägung gezogen«, sagte Lena Böll, »aber sie erscheint mir äußerst unwahrscheinlich. Unser Täter geht ungemein gründlich vor, und zwischen dem Tod der Opfer und dem Zeitpunkt der Ablage vergeht mindestens eine Stunde. Er verschließt den Mund seines Opfers hermetisch mit Klebeband und entfernt es auch nicht nach ihrem Tod. Sich tot zu stellen, wäre daher nahezu unmöglich.«
»Aber nicht völlig unmöglich?«, hakte Breitenbusch-Keese nach.
Lena Böll registrierte, dass der Ö sie beobachtete. So als fürchtete er, dass sie jeden Moment ausrasten könnte. Aber sie blieb sachlich und ruhig.
»Nehmen wir einfach an, Carola wäre es tatsächlich gelungen, den Mörder zu täuschen. Müsste sie dann nicht inzwischen gefunden worden sein? Nach Aussage des Täters hat er sie irgendwo in Mannheim abgelegt. Vermutlich auf einem Parkplatz oder an irgendeiner vergleichbaren Stelle, wo sie innerhalb kurzer Zeit gefunden worden wäre. Sollte sie wach geworden oder davongelaufen sein, so hätte sie sicherlich versucht, Hilfe zu finden.«
»Sie war nackt«, sagte Krüger. »Vielleicht hat sie sich geschämt. Und ist dann irgendwo erschöpft zusammengebrochen.«
»Vielleicht«, sagte Lena Böll. »Aber alles in allem kommen zu viele Faktoren zusammen, welche einen solchen Ablauf extrem unwahrscheinlich wirken lassen. Auch die SMS lässt erkennen, dass sich der Mörder seiner Sache absolut sicher gewesen sein muss.«
»Aber wer würde eine Leiche stehlen?«, fragte Bleskjew empört. »Ein Perverser? Jemand, der auf Sex mit Leichen steht?«
»Vielleicht ein Medizinstudent?«, feixte Klein, aber niemand außer Lena Böll belächelte den Scherz.
Stattdessen sprach plötzlich jeder mit jedem, so als gälte es, das eigene Entsetzen in Worte zu fassen, zu teilen und möglichst rasch loszuwerden. Bevor sie weitersprach, wartete sie geduldig ab, bis das Stimmengewirr abgeebbt war.
»Um ehrlich zu sein: Ich habe nicht die geringste Ahnung. Meines Wissens ist in der Kriminalgeschichte kein einziger Fall bekannt, in dem einem Mörder die bereits abgelegte Leiche nachträglich wieder abgejagt worden wäre. Dennoch bin ich mir sicher, dass es sich bei Carola Lauk genau so verhält. Jemand hat sich eingemischt. Allerdings weiß ich nicht, was diesen Jemand zu einer solchen Handlung bewegt haben könnte. Nekrophilie ist sicherlich eine denkbare Option. Etwas Besseres kann ich derzeit auch nicht anbieten. Andererseits …«
»… wäre das Risiko unglaublich hoch«, ergänzte Krüger. »Würde er erwischt, würde ihn jeder für einen Serienkiller halten. Er würde sich dem Risiko einer lebenslänglichen Haftstrafe aussetzen. Warum um alles in der Welt sollte er sich darauf einlassen? Er könnte genauso gut eine Leichenhalle plündern.«
Breitenbusch-Keese schüttelte angeekelt den Kopf.
»Gelegenheit macht Diebe«, sagte Klein. »Vielleicht eine Form von Kannibalismus?«
»Unwahrscheinlich«, erwiderte Lena Böll. »Bei allen bekannten Fällen, bei denen der Täter Teile seines Opfers verspeiste, war der Triumph, dieses selbst gejagt und getötet zu haben, von zentraler Bedeutung.«
Mildenberger rümpfte die Nase. »Auf jeden Fall haben wir es ab sofort mit zwei verschiedenen Straftaten und zwei unterschiedlichen Tätern zu tun. Glauben Sie, Nummer Zwei kennt die Identität des Mörders?«
Wie immer schnell und präzise, dachte sie. »Durchaus möglich. Vielleicht hat er ihn beim Ablegen der Leiche beobachtet, vielleicht hat er Carola erst später gefunden. Schwer zu sagen. Das Zeitfenster zwischen dem Verschwinden von Nummer Eins und dem Eintreffen von Nummer Zwei war aber mit Sicherheit sehr schmal.«
»Ein Zufallstäter«, sagte Klein. »Unvorbereitet und unter enormem Zeitdruck. Wüssten wir, wo sich das alles abgespielt hat, würden wir vermutlich jede Menge Spuren finden.«
»Genau«, stimmte ihm Krüger zu. »Aber ohne Tatort wird uns diese Erkenntnis leider nicht weiterhelfen.«
»Klein hat recht«, sagte Böll. »Der Mann, der die Leiche gestohlen hat, ist gewiss nicht so gerissen wie unser Mörder. Irgendwo in Mannheim gibt es eine Spur, die uns zu ihm und Carolas Leiche führen könnte. Die Frage ist nur, wo diese Spur ihren Anfang nimmt.«
Xaver Seibling warf ihr einen fragenden Blick zu. »Meinen Sie, wir sollten die Presse informieren? Sollten unsere Vermutungen tatsächlich zutreffen, dann dürfte der Mörder jetzt unglaublich wütend sein. Das wird er auf keinen Fall auf sich sitzenlassen. Immerhin hat er uns schon ein Ultimatum gestellt.«
»Wenn wir ihn im Glauben lassen, wir hätten die Leiche, wird er sich vielleicht häufiger melden«, fügte Krüger hinzu.
»Oder er greift den Fehdehandschuh auf und bringt noch mehr Frauen um«, widersprach der Ö. Bevor er zum leitenden Pressesprecher wurde, hatte Seibling als Experte für Daktyloskopie für die SPUSI gearbeitet. Er war ein bulliger Mann mit breiten Schultern und tiefen Lachfalten, der über alles und jeden im Präsidium Bescheid wusste.
»Auf jeden Fall braucht Lena Schutz«, meldete sich Kohlmann zu Wort. Kohlmann war schon weit über fünfzig und sprach so gut wie nie.
»Genau«, sagte Klein. »Und Katja auch.« Er schaute sich suchend unter den anwesenden Frauen um, fand aber offensichtlich keine weitere Person, die er mit dem Beuteschema des Täters in Übereinstimmung bringen konnte. Typisch Klein, dachte Lena Böll. Seine Einschätzung war völlig korrekt, aber einige der Frauen bedachten ihn dennoch mit feindseligen Blicken. Katja Bleskjew wurde rot.
Sie schüttelte den Kopf. »Das wird sich kaum rund um die Uhr organisieren lassen. Aber ihr habt natürlich recht. Katja und ich sollten auf der Hut sein. Das heißt, wir sollten auch privat unsere Dienstwaffe tragen und darauf achten, im Freien nicht plötzlich allein dazustehen. Vor allem nicht im Wald und in einsamen Gegenden oder frühmorgens und nachts.«
»Und was machen wir mit der Presse?«, hakte Seibling nach.
»Wenn wir die Presse informieren, wird er sich öffentlich gedemütigt fühlen, und sein Druck, sich durch weitere Morde zu rehabilitieren, wird enorm ansteigen. Wir sollten daher auf jeden Fall versuchen, die Sache intern zu lösen.«
»Intern?«, fragte Breitenbusch-Keese. »Was genau meinen Sie damit?«
»Wir sollten dem Mörder antworten. Das verschafft uns weitere Möglichkeiten, ihn zu orten und einzukreisen. Obendrein könnten wir versuchen, ihn und Nummer Zwei gegeneinander auszuspielen und ihn dazu zu bewegen, uns den Ablageort preiszugeben. Ich denke, das könnte funktionieren. Nummer Eins ist ein Narzisst. Die Einmischung eines Unbekannten entzieht ihm Aufmerksamkeit, Macht und Kontrolle, was er nicht kampflos hinnehmen wird. Indem wir ihn zusätzlich provozieren, können wir ihn vielleicht dazu verleiten, einen fatalen Fehler zu begehen.« Sie drehte sich um, griff in die Innentasche ihres Blazers, der zerknittert über der Stuhllehne hing, und brachte ein Stück Papier zum Vorschein. »Ich habe bereits einen Entwurf ausgearbeitet.«
Breitenbusch-Keeses Finger begannen sich sichtbar zu spreizen. »Schon vor diesem Treffen?«
»Ja, genau. Es ist ein längerer Text. Auf insgesamt acht SMS verteilt. Das würde uns Zeit und Vorteile verschaffen. Darf ich?«
Als Mildenberger nickte, lag in seinem Blick ein Anflug von Stolz.
»In Ordnung. Erste SMS: Nachricht von Hauptkommissarin Lena Böll. Habe lange über den Inhalt Ihrer Nachricht nachgedacht. Diese erschien mir anfangs völlig unverständlich, aber … Zweite SMS: … dann fiel mir eine denkbare Erklärung ein. Sie haben die Leiche bereits abgelegt, und Carolas Körper ist verschwunden.« Sie schaute kurz auf, aber niemand machte Anstalten zu sprechen, also beugte sie sich wieder über den Text. »Dritte SMS: Verhält es sich so? Falls ja, WIR waren es nicht! Wirklich nicht! Uns ist keinesfalls an einer Eskalation gelegen! Vierte SMS: Daher haben wir uns auch entschlossen, die Information nicht an die Presse zu geben, um Sie nicht öffentlich als Verlierer bloßzustellen. Fünfte SMS: Ich vermute, das ist in Ihrem Interesse? Keine Ahnung, wer Ihnen Carola abgejagt hat. Ein Nekrophiler vielleicht? Oder ein Konkurrent? Sechste SMS: Wir haben dafür bislang keine Erklärung. Vermutlich aber ein Zufallstäter, der eine Menge Spuren hinterlassen hat. Nicht so gerissen wie Sie. Siebte SMS: Leider wissen wir nicht, wo Sie die Leiche abgelegt haben, so dass wir die Spuren nicht sichern können. Ich hoffe, diese Nachricht wird Sie erreichen. Achte SMS: Natürlich können Sie sich auch jederzeit melden. Wir können dann stundenlang plaudern. ☺«
Sie griff nach ihrer Kaffeetasse. Alle Anwesenden starrten sie an. Draußen auf der Straße heulte ein Motor auf.
»Das alles klingt merkwürdig normal«, sagte der Ö. »Gruselig irgendwie. So als ginge es um etwas ganz Alltägliches. Auf Augenhöhe.« Er kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Aber es ist wirklich nicht schlecht.«
»Der kleine Seitenhieb mit dem Verlierer ist vermutlich so gewollt?«, fragte Mildenberger, aber seine Frage klang derart rhetorisch, dass sie es nicht einmal für nötig erachtete zu nicken. »Irgendwelche Einwände?«, wandte er sich an die anderen. Sämtliche Anwesende schüttelten den Kopf. »Das war wohl ein einstimmiges Nein. Na gut. Dann legen Sie mal los!«
Leonhardt, Kohlmann und Klein standen fast zeitgleich auf, gefolgt von Bleskjew und Rodeberger.
»Danke«, sagte sie und erhob sich ebenfalls von ihrem Platz.
Kurz darauf gab sie in Kleins und Leonhardts Büro die erste der acht Botschaften ein. Als alle auf ihren Posten waren, schaute sie hinüber zu Leo, der ihr verschwörerisch zuzwinkerte.
»Ready to rumble, Chef.«
Niemand lachte.
Nur wenige Sekunden später schickten sie die erste Botschaft los. Ins Nichts.