20:00
Im selben Moment, in dem die Erkennungsmelodie der Landesschau ertönte, ließ sich Frank Pusch in einen der Ledersessel fallen und öffnete die zweite Flasche Bier. Die erste Meldung befasste sich mit der Wahl des Bundespräsidenten, doch er hörte nur mit halbem Ohr zu.
»Sind doch alle gleich, die Idioten!«, schimpfte er laut vor sich hin. »Und erzählen alle nur Schrott.«
Seitdem seine Frau ihn verlassen hatte, unterhielt er sich häufig mit sich selbst. Anfangs hatte ihn diese Marotte mit Sorge erfüllt, inzwischen aber hatte er sich längst daran gewöhnt. Er setzte sich die Flasche an den Mund und trank sie zur Hälfte leer. Danach ließ er sie bis auf Bauchhöhe sinken und wischte sich mit der linken Hand den Schaum vom Kinn.
»Jetzt macht schon! Das Wichtige zuerst!«
Die Meldung, die ihn interessierte, erschien erst an dritter Stelle und wurde mit einer Porträtaufnahme des Opfers unterlegt. Im Falle des seit Monaten gesuchten Serienmörders, verlas der Nachrichtensprecher ernst, ginge die Polizei inzwischen davon aus, dass die vermisste Carola Lauk tot sei. Zwar sei die Leiche des Mädchens noch immer nicht aufgetaucht, jedoch stünde Hauptkommissarin Lena Böll mit dem Täter in regelmäßigem Kontakt und könnte den Tod der Jugendlichen daher sicher bestätigen. Mit der Erwähnung von Böll erschien ein anderes Bild, auf welchem sie melancholisch in die Kamera lächelte. Wie erst vor wenigen Stunden bekannt geworden sei, habe jedoch ein zweiter, bisher unbekannter Täter Carolas Körper nachträglich verschleppt. Nach Aussage der Ermittler sei ein derartiger Fall in der Geschichte der Kriminalistik als absolut einmalig einzustufen. Man arbeite daher mit Hochdruck daran, die veränderte Situation zu analysieren. Da bislang nicht nachzuvollziehen sei, wo genau Carola Lauks Leiche abgelegt wurde, bitte die Kripo Mannheim mögliche Zeugen, die am vergangenen Sonntag etwas Auffälliges bemerkt zu haben glaubten, sich umgehend zu melden. Am unteren Rand des Bildschirms wurde eine Telefonnummer eingeblendet, dann schaltete die Regie auf eine Außenkamera. Sie war auf das Haus der Familie Lauk gerichtet. Davor stand ein Journalist, der sich souverän geben wollte, der aber extrem angespannt wirkte. Die Familie der Vermissten stehe für Interviews vorerst noch nicht zur Verfügung, ließ er wissen, und erklärte, dass der mysteriöse Leichendieb von den ermittelnden Beamten bereits einen Namen erhalten habe, nämlich Nummer Zwei, dass man aber ansonsten noch völlig im Dunkeln tappe. Rund um das Haus sah man mehrere Dutzend Reporter lagern, abgeschirmt vom Eingang des Hauses, wo mehrere Polizisten mit ernster Miene für Ordnung sorgten.
Danach folgte eine Meldung über Feinstaubbelastung.
Frank Pusch lehnte sich beeindruckt zurück. Dass er es geschafft hatte, mit lediglich vier Telefonaten eine solche Wirkung zu erzielen, war verblüffend. Als seine Schwester ihm alles erzählt hatte, hatte er es anfangs nicht glauben wollen. Ein um die eigene Trophäe betrogener Serienkiller. Was für eine Geschichte! Die bislang nur eine Handvoll Personen kannte. In seinem Leben war noch nie etwas vergleichbar Aufregendes passiert, etwas, wofür es sich lohnte, beim Fernsehen anzurufen, und so hatte er nicht gezögert, zum Hörer zu greifen. Zwar hatte seine Schwester ihn inständig darum gebeten, die Information für sich zu behalten, aber er hatte einfach nicht widerstehen können. Im Nachhinein wurmte es ihn sogar, dass er – um sich keinen Ärger einzuhandeln – seinen Namen verschwiegen hatte.
Er nippte ein weiteres Mal an seinem Bier. Als er sich nach vorn beugte, um die Flasche auf dem flachen Couchtisch abzustellen, zersplitterte im hinteren Teil des Hauses eine Fensterscheibe.
Was zum Teufel …, dachte er noch, dann riss ein ohrenbetäubender Lärm seine Gedanken in Stücke. Der Knall schien zeitgleich beide Trommelfelle zu zerfetzen, und weit hinten in seinen Gehörgängen explodierte ein Schmerz, wie er ihn bisher noch nicht verspürt hatte. Als hätte man ihm mit Druckluft Nägel in die Ohren getrieben. In einem verzweifelten Versuch, sich zu schützen, riss er die Hände nach oben. Als er aufspringen wollte, versagten ihm seine Beine zitternd den Dienst.
Während er verwirrt nach seinen Gedanken suchte, vernahm er erneut ein Geräusch, leise nur und extrem gedämpft, so als steckten Büschel von Watte in seinen Ohren. Dann wurde die Tür des Wohnzimmers aufgestoßen, und ein Strom von schwarz gekleideten Männern ergoss sich flüsternd schreiend in den Raum. Sie waren vermummt, von ihren Gesichtern waren nur die Augen zu erkennen. Ihre Schusswaffen waren mit Laserpointern ausgestattet, deren roten Punkte nur kurz durch den Raum tanzten, um sich anschließend als rotes Bündel auf seinem Gesicht zu vereinen.
Sie werden mich töten, dachte er entsetzt, und während er noch überlegte, ob er die Hände heben sollte, legte sich von hinten ein Arm um seinen Hals und drückte kräftig gegen seinen Kehlkopf, so kräftig, dass es ihn ängstigte, aber er immer noch atmen konnte.
»Eine Bewegung und du bist tot«, schrie eine Stimme in sein Ohr, und wie zur Bestätigung drückte sich kühles Metall an seine Schläfe.
Er wollte um sein Leben flehen, und vielleicht tat er es sogar, aber er konnte es nicht hören. Als er spürte, dass er die Kontrolle über seine Blase verloren hatte, schloss er beschämt die Augen.