16:20
Mit einem gewaltigen Schuss beförderte Manuel Neuer den Ball quer über das Spielfeld bis weit nach vorn in die gegnerische Hälfte. Das Leder überflog die englische Abwehr, prallte hart auf den südafrikanischen Rasen, sprang nochmals zwei Meter hoch in die Luft und fiel genau vor Kloses Füße. Die Menschen, die sich zwischen den Bäumen des Biergartens zum Public Viewing eingefunden hatten, atmeten hörbar ein, alle gemeinsam, so als gelte es Luft zu holen für ein kollektives Schweigen. Das Stimmengewirr erstarb. Nur eine einzelne Frau sprang von ihrem Stuhl, riss beide Arme nach oben und schrie erleichtert auf. Als ob ihre Gedanken jenen der Menge vorausgeeilt wären. Oder nicht mit ihnen Schritt halten konnten. Ihre Begeisterung wirkte merkwürdig asynchron. Wie bei jemandem, dem man einen Witz erzählt und der schon lange vor der Offenbarung der Pointe lacht. Achim, der Romberg genau gegenüber saß, riss die Augen auf. Ohne zu atmen oder zu schlucken, presste er das Bierglas gegen die Unterlippe und starrte gebannt auf den gewaltigen Flatscreen. Wie kristallisiert. Klose rannte, so schnell er konnte, drohte zu stolpern, fing sich wieder, grätschte in Richtung des Balls und schoss ihn dicht an den Füßen des gegnerischen Torwarts vorbei ins Tor. Noch bevor der Ball das Netz berührte, brach im Lindbergh die Hölle los. Als hätten sämtliche anwesenden Gäste zeitgleich einen Sechser im Lotto erzielt, sprangen sie auf die Füße, schleuderten die Hände nach oben und johlten wie von Sinnen. Auch Romberg ließ sich mitreißen, fand sich unversehens auf den Füßen wieder und ließ lachend zu, dass ihm ein dicker Kerl mehrmals auf die Schulter klopfte. So als sei es nicht Neuer, sondern Romberg höchstpersönlich gewesen, der den Ball nach vorne befördert hatte. Der spontane Kontakt rührte ihn an. Zwei Fremde, die noch nie miteinander gesprochen hatten und die nur voneinander wussten, dass sie sich über das gleiche Tor freuen konnten, und dennoch reichte es aus, so wie damals, als es auch ausgereicht hatte und sich alle nahegekommen waren, selbst in der quälenden Sprachlosigkeit. Das Lindbergh lag unmittelbar neben dem Flughafen, auf dem nur kleine Maschinen landen konnten, aber selbst wenn ein Airbus direkt über ihre Köpfe hinweggeflogen wäre, sie hätten ihn nicht gehört. Erst allmählich ebbte der Lärm wieder ab.
»Wahnsinn«, sagte Achim, das halbvolle Bierglas noch immer an die Lippen gepresst, dann hob er es an und trank es auf einen Zug leer.
Um sie herum wildes Stimmengewirr. Zwei Plätze weiter setzte sich der Dicke auf seinen Stuhl und griff nach der vor ihm liegenden Zigarettenpackung.
Früher hätte dieses Durcheinander in Rombergs Kopf vermutlich prompt einen Flashback ausgelöst und in der Folge eine heftige Panikattacke. Jetzt aber stellte er erleichtert fest, dass er sich wohl fühlte und ihn der Lärm kaum zu beeindrucken vermochte.
»Vielleicht gewinnen wir ja doch«, fügte Achim hinzu, aber es lag keine Überzeugung in seiner Stimme.
Das Achtelfinale gegen England hatte die Fußballinteressierten in zwei Lager aufgeteilt, in Optimisten und Pessimisten, und Achim hatte sich bei den Pessimisten eingereiht und auf 3:2 für England getippt. Da eine Wette nur dann Sinn hat, wenn man eine Gegenmeinung äußert, hatte sich Romberg auf ein 4:2 für Deutschland festgelegt, doch Achim hatte nur kopfschüttelnd gelacht.
Auf den Nachmittag mit Achim hatte er sich schon seit Tagen gefreut. Jetzt aber fiel es ihm schwer, sich auf die Ereignisse auf dem Bildschirm zu konzentrieren. In den vergangenen Jahren hatte sein Bruder gelernt, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Daher bemühte sich Romberg, dem Spiel zumindest so weit zu folgen, um die zur jeweiligen Situation passenden Emotionen zeigen zu können, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab.
Der Gedanke, dass der Mörder zurückkehren könnte, ließ ihn nicht mehr los. Wer immer Carola Lauk am Wildgehege zurückgelassen hatte, war davon ausgegangen, dass sie schon bald darauf gefunden werden würde. Auch die drei anderen Opfer hatte man am frühen Morgen entdeckt, und die Nachricht von ihrem Tod war stets noch am gleichen Vormittag als Eilmeldung in den Medien aufgetaucht. Insofern würde der Täter sich zwangläufig fragen, warum dieses Mal niemand von dem Fall berichtete und worauf dieses Schweigen zurückzuführen war. Die Idee, dass irgendein Fremder die Tote mit sich nach Hause genommen haben könnte, würde ihm erst gar nicht in den Sinn kommen. Dazu war dieser Gedanke einfach zu grotesk. Stattdessen würden sich seine Überlegungen auf das Naheliegende konzentrieren, auf ein Manöver der Polizei, und er würde vermuten, dass man ihm eine Falle stellen wollte. Er würde dies kopfschüttelnd zu Kenntnis nehmen und sich voller Verachtung fragen, wie man ihn für dermaßen dumm halten konnte. Natürlich würde er auch wütend sein. Unglaublich wütend. Wütend über die ihm entgangene öffentliche Aufmerksamkeit und auf die Tatsache, dass man ihn maßlos unterschätzte und tatsächlich glaubte, ihn mit einem solch plumpen Trick zu einer Reaktion bewegen zu können. Selbstverständlich würde er sich auf dieses alberne Spielchen nicht einlassen, dem Wald konsequent fernbleiben und einfach abwarten. Er musste sich nichts beweisen. Denn die Zeit war auf seiner Seite. Irgendwann würden sie die Leiche schon noch herausrücken müssen. Wenn nicht schon nach wenigen Stunden, dann spätestens nach einigen Tagen. Mit wem, glaubten sie, dass sie es zu tun hatten. Mit einem naiven Trottel?
Die Kripo dagegen ahnte von all dem nichts. Sie wussten nichts von der Bank und nichts von Romberg. Sie wussten nicht einmal, dass Carola Lauk tot war. Da die Opfer stets am Wochenende gefunden worden waren, würden sie inzwischen davon ausgehen, dass Carola noch einmal lebend davongekommen war und ihnen eine weitere Woche Zeit blieb, um sie vielleicht doch noch finden und retten zu können. Dass er im Wald jede Menge Spuren zurückgelassen hatte, spielte daher keine Rolle. Von der Bank wussten nur er und der Täter. Deswegen gab es auch keinen Tatort, an dem die Polizei nach Spuren suchen würde, und selbst wenn das kleine Stück Wald irgendwann doch noch ein Tatort werden sollte, so wären die Spuren schon längst unbrauchbar geworden oder hätten sich mit Tausenden anderer brauchbarer Spuren zu einem unbrauchbaren Chaos vermischt.
Der Lärm im Lindbergh schwoll unversehens an, als Müller zu Klose passte und dieser erneut allein vor dem englischen Torhüter auftauchte. Klose versuchte es mit einem Flachschuss, aber James ließ sich fallen und wehrte erfolgreich ab. Romberg sah hinüber zu Achim, der seinen Blick kurz vom Flatscreen löste und ihn argwöhnisch musterte.
»Mist«, sagte Romberg und schüttelte den Kopf. Achim zögerte einen Moment, so als läge ihm eine Frage auf der Zunge, dann wandte er sich wieder dem Spielgeschehen zu.
Mit der Zeit aber würden beim Täter erste Zweifel aufkeimen. Gab es vielleicht doch eine andere Erklärung? War es denkbar, dass die Tote noch immer nicht gefunden wurde? Auf einer Bank in unmittelbarer Nähe eines der beliebtesten Ausflugsziele der Stadt? Nein, völlig unmöglich! An einem Sonntag kamen dort sicherlich mehrere tausend Personen vorbei. Diese Möglichkeit war somit hundertprozentig auszuschließen. Also doch die Polizei? Die auch nach Tagen noch darauf hoffte, dass er, der Täter, leichtsinnig genug sein würde, sich dem Tatort zu nähern, um sich Klarheit zu verschaffen? Anfangs würde er seine Zweifel noch als lächerlich verwerfen, aber sie würden weiterhin an ihm nagen, mit jedem Tag mehr, und ihm keine Ruhe mehr lassen, und spätestens nach einer Woche würde er an seinem Verstand zweifeln und sich fragen, ob er das alles nur träumte und ob er das Mädchen überhaupt dort abgelegt hatte. Und dann, irgendwann würde er sie erstmals denken: die Wahrheit. Zögerlich erst, weil sie so unvorstellbar war, aber dann ständig konkreter, und er würde begreifen, dass jemand sich eingemischt hatte, jemand, den er nicht kannte, und dann würde er kommen und nach ihm suchen. Es war unumgänglich. Früher oder später musste er kommen, selbst wenn es Monate oder Jahre dauern würde.
»Tor!«, schrie die Menge lautstark auf, und er sah nur noch, wie sich Podolski um die eigene Achse drehte und den Ball im spitzen Winkel im Tor versenkte.
»Jaaa«, schrie der Dicke, griff sich einen der Gäste und küsste ihn auf die Stirn.
Während sich das Geschehen in Südafrika in Zeitlupe wiederholte, griff Romberg nach seinem Bier.
»Wenn das so weitergeht, wirst du deine Wette gewinnen«, sagte Achim. Und indem er sich weit nach vorn beugte, so dass niemand sonst seine Worte hören konnte: »Ist bei dir alles im Lot? Du wirkst irgendwie abwesend. Stresst dich der Tumult?«
»Nein, nein, alles bestens. Ich bin nur in Gedanken.«
Achim erweckte nicht den Eindruck, als ob ihn diese Antwort zufriedenstellte, aber er ließ es vorerst dabei bewenden und konzentrierte sich wieder auf das Spiel. Romberg war klar, dass er spätestens in der Halbzeitpause nachhaken würde und dass es sinnlos sein würde zu behaupten, es sei nichts geschehen. Was, wenn er ihm einfach die Wahrheit erzählte? Dass in seiner Tiefkühltruhe ein totes Mädchen lag, in Marens schönstem Sommerkleid und mit Lauras konfusem Hasen im Arm? Und dass das vorerst auch so bleiben musste, um den Mörder aus der Reserve zu locken? Vielleicht würde ihm Achim ja zustimmen. Oder ihm sogar helfen. Das war ihm durchaus zuzutrauen. Aber er hatte auch Frau und Kinder. Schon das allein war Grund genug, ihn nicht in diese Sache hineinzuziehen. Nicht auszudenken, was geschehen könnte, wenn sie aufflögen. Hatte er überhaupt eine Chance? Machte er nicht alles nur noch schlimmer?
Andererseits hatte die Polizei offenbar über Wochen keine brauchbaren Spuren finden können, so dass sie wohl auch an Carolas Bank nichts gefunden hätten und dass sie den Täter auch in absehbarer Zeit nicht würden aufspüren können. Darum lag es nun an ihm, sich dieses Schwein zu schnappen. Andererseits konnte er seine Informationen auch an die Kripo weitergeben. Zur Not anonym. Er versuchte erneut, sich das Autokennzeichen in Erinnerung zu rufen. SP und am Ende zweiunddreißig oder dreiundzwanzig, aber der Zugriff auf den Rest des Kennzeichens blieb seinem Denken verwehrt. Ein dunkler Kombi, wahrscheinlich ein Laguna, schwarz. Vielleicht auch ein dunkles Grau oder Blau. Würde die Kripo eine derart vage Beschreibung von einem anonymen Anrufer überhaupt ernst nehmen? Womöglich bildete er sich das alles auch nur ein. Falls nicht, so existierten wahrscheinlich um die zweihundert Wagen mit genau dieser Zahlenkombination. Aber wie viele dieser Kennzeichen hingen an einem dunklen Renault Laguna? Speyer hatte in etwa fünfzigtausend Einwohner. Was bedeutete, dass dort zwischen zehntausend und zwanzigtausend Fahrzeuge gemeldet waren. Eigentlich blieben ihm nur zwei Wege, um den Mörder zu erwischen. Entweder er streifte so lange durch Speyer, bis er den Wagen irgendwo wiedererkannte, oder aber der Täter kehrte zum Wildgehege zurück, und es gelang Romberg, die Nummer zu notieren und den Halter zu ermitteln.
»Hattest du dir nicht kürzlich eine Kamera gekauft?«, fragte er Achim spontan.
Dieser löste überrascht den Blick vom Bildschirm und schaute ihn an. »Ja, wieso? Willst du einen Film drehen?«
»Nein … nun ja, irgendwie schon. So etwas in der Art. Könntest du sie mir ausleihen? Für ein paar Wochen?«
»Für ein paar Wochen? Meine Güte! Was um alles in der Welt hast du vor? Ein Remake von Ben Hur?«
»Frag lieber nicht!«
»Dann wohl eher ein pornographisches Epos?«, feixte er grinsend.
Eine junge Frau, die unmittelbar neben Achim saß und alles mitangehört hatte, schaute Romberg prüfend an. Noch bevor er antworten konnte, ging ein entsetzter Aufschrei durch die Menge. 2:1.
»Boateng, du Schnarchnase!«, rief jemand wütend, aber nur die asynchrone Frau lachte.
»Verflucht«, schimpfte Achim. »Jetzt habe ich tatsächlich das Gegentor verpasst. Also mal im Ernst. Was läuft denn da bei dir?«
Romberg dachte nach. Er musste unbedingt verhindern, dass Achim sich Sorgen machte. Das Letzte, was er in den nächsten Tagen brauchen konnte, war ein fürsorglicher Bruder, der sich an seine Fersen heftete und ständig bei ihm vorbeischaute, um nach dem Rechten zu sehen.
»Es ist mir ziemlich peinlich«, sagte er, »aber so wie es aussieht, habe ich mich verliebt.«
»Verliebt? Du? Im Ernst? Willst du mich verarschen?«
»Nein, es ist wahr. Ich habe sie am Wildgehege getroffen und minutenlang mit ihr geredet, aber ich Trottel habe tatsächlich vergessen, sie nach der Adresse zu fragen und jetzt weiß ich nur, dass sie einen Mini fährt und öfters am Wildgehege spazieren geht und deshalb …«
»Mein Gott«, stieß Achim leise hervor und Romberg sah, wie gerührt er war. »Du glaubst nicht, wie sehr mich das freut.« Die junge Frau an seiner Seite, der die Veränderung in seiner Mimik nicht entgangen war, starrte ihn ungläubig an.
Romberg drehte sich irritiert in Richtung des Bildschirms. Im selben Moment schoss ein englischer Stürmer den Ball aus großer Distanz über Neuer hinweg an die Unterkante der Latte. Der Ball prallte ab, landete einen halben Meter hinter der Linie, sprang nochmals hinauf zur Latte, fiel erneut zu Boden, wurde von Neuer gefangen und mit einem beherzten Schuss aus dem Strafraum befördert. In dem Biergarten brach die Hölle los, aber der Schiedsrichter gab kein Tor.
»Unglaublich«, sagte Achim, aber Romberg war sich nicht sicher, worauf er sich bezog.