09:45
Zu dem Zeitpunkt, als die SMS eintraf, rechnete in der SOKO niemand mit einer neuerlichen Entführung. Sie hatten sich fest darauf verlassen, dass damit schlimmstenfalls am bevorstehenden Wochenende zu rechnen wäre und dass ihnen daher noch mindestens zwei Tage Zeit blieben – ihnen und Nummer Zwei. Als Sebastian Lauks Handy schnurrend eine Nachricht meldete, war Lena Böll zunächst sogar erfreut, da sie glaubte, der überraschende Kontakt stünde in direktem Zusammenhang mit der aufsehenerregenden Pressekonferenz. Die letzte SMS lag schon einige Zeit zurück, und sie hatte bereits befürchtet, Nummer Eins sei vorsichtig geworden und habe die Verbindung gänzlich abgebrochen. Auch Paul Leonhardt schien froh zu sein, sein Talent endlich wieder unter Beweis stellen zu können. Während er gebannt auf den Bildschirm starrte, huschten seine Finger in rasendem Tempo über die Tastatur. Ohne ihn anzusprechen, trat Lena Böll neben ihn und las den Text der SMS.
Ihr glaubt wohl wirklich, es mit mir aufnehmen zu können? Ihr und dieser verdammte Freak Numero Zwei. Aber denkt ihr wirklich, ich lasse mich auf einer Pressekonferenz …
Noch während sie las, traf die Fortsetzung ein.
… öffentlich demütigen, ohne auf diese Provokation zu reagieren? Euch ist wohl noch immer nicht klar, mit wem ihr es zu tun habt?
Hinter Leonhardt wurde es schlagartig eng, und alle Anwesenden kämpften aneinandergedrückt um freie Sicht. Nur Klein trat beiseite, um die Streifenwagen zu alarmieren.
»Scheint ziemlich schlecht gelaunt zu sein«, murmelte Leo, während er weiterhin Befehle eintippte, die außer ihm selbst niemand verstand.
Auf dem Bildschirm erschienen die Innenstadt von Mannheim sowie drei Kreise, deren Linien sich unweit der Kurpfalzbrücke in der Neckarstadt kreuzten. Nicht einfach. Aber machbar.
»Dammstraße vierzehn«, sprach Klein in den Hörer. »Ich brauche Wagen am Alten Messplatz, auf und unter der Jungbuschbrücke und in der Mittelstraße.«
»Er wird es über den Alten Messplatz versuchen«, sagte Lena Böll.
Klein und Krüger schauten sich fragend an. Krüger nickte.
»Also gut«, sagte Klein. »Kleine Planänderung. Wir konzentrieren uns auf eine Flucht nach Osten und verlagern die Sperren ein wenig zurück. Ich brauche Wagen auf der Südseite der Kurpfalzbrücke, an der Friedrich-Ebert-Brücke Richtung Schafweide und in der Langen Rötterstraße. Zusätzlich zwei Beamte, welche den Fußgängerübergang zum Collini-Center kontrollieren. Außerdem einen Wagen am westlichen Ende der Dammstraße, der dort Position bezieht und sich lautstark bemerkbar macht. Und ein Hubschrauber wäre natürlich auch nicht schlecht.«
Sebastian Lauks Handy schnurrte erneut, und auf dem Bildschirm erschien eine weitere SMS.
Heute um 15 Uhr wird daher MEINE Pressemitteilung einiges richtigstellen. Und anschließend wird klar sein, wer hier WIRKLICH die Kontrolle hat.
»Sie sind unterwegs«, sagte Klein. »Aber nicht der Hubschrauber. Rotorschaden.« Seine Stimme klang wie das Knurren eines Raubtiers, und ihm war anzusehen, dass er den Mörder am liebsten in Stücke reißen würde.
»Welches Handy?«, fragte Krüger, der ebenfalls angespannt wirkte.
»Carola Lauk«, erwiderte Leonhardt.
Er starrte irritiert auf die Stelle, an der sich die Linien der Kreise kreuzten. Klein sah es auch. »Er ist immer noch da«, rief er in das Telefon. »Unveränderte Position.«
»Er wird noch eine weitere SMS schreiben«, stellte sie fest.
»Glaubst du?«, fragte Leonhardt, ohne seinen Blick vom Bildschirm abzuwenden. »Warum?«
»Es fehlt noch etwas.«
»Und das wäre?«
»Eine Botschaft an mich. Sonst wirkt es nicht rund.«
Sie dachte an ihr Gespräch mit Michael. Schon früh am Morgen hatte er erneut angerufen. Nina habe ihn inzwischen verlassen und sei zu ihrem Ex zurückgekehrt, hatte er geschluchzt, und ihm fehlten wichtige Briefe und Unterlagen, auf welche er unbedingt zugreifen müsse. Er hatte sich vollkommen aufgegeben. Gebettelt wie ein Hund. Am Ende hatte sie ihm gönnerhaft zugesichert, ihm sein Passwort zurückzugeben. Nur weil es schon längst keine Rolle mehr spiele, hatte sie ihm erklärt, und weil sie nie mehr von ihm hören wolle. Danach hatte sie sich müde und elend gefühlt, aber auch irgendwie befreit. Gemessen an dem Fall schien das alles ohne Bedeutung zu sein. Aber so war es immer. Ein zentrales Problem ihres Jobs. Verglichen mit der Hölle wirkt der Rest der Realität stets völlig banal. Es dauerte qualvolle zehn Minuten, bis Klein endlich Neuigkeiten vermelden konnte. Die Position auf dem Bildschirm hatte sich noch immer nicht verändert, aber allen war längst klar, dass der Mörder Spielchen mit ihnen spielte.
»Sie haben das Handy gefunden«, sagte er ernst. »In einem Abfalleimer.«
Sekunden später meldete sich Sebastian Lauks Handy erneut. Die Position auf der Karte lag jetzt mehr als einen Kilometer von der ersten Ortung entfernt. Lena Böll erstarrte. Entgegen ihrer Voraussage war der Täter nach Westen geflüchtet.
»Riedfeldstraße«, sagte Klein, ohne sie anzusehen. Er teilte den Streifenwagen neue Positionen zu, aber jedem war klar, dass es nichts mehr helfen würde. Er war ihnen erneut entwischt!
Und um die Bedingungen festzulegen, unter denen ich meine Neuanschaffung noch für einige Wochen am Leben lassen könnte.
PS: Liebe Grüße an HK Böll.
Lena Böll erschrak. Seine Neuanschaffung? Wovon um alles in der Welt sprach dieses Schwein?
»Verdammt!«, fluchte Klein, immer noch das Telefon in der Hand. »Er hat sich die nächste Frau gegriffen.«
»Jetzt schon?«, sagte Katja Bleskjew. »Aber wieso?«
»Welches Telefon benutzt er jetzt?«, fragte Lena Böll.
Leonhardt deutete mit dem Zeigefinger auf den oberen Rand des Bildschirms. »Hmm … ein Handy … warte … seltsam … die Rufnummer ist nicht unterdrückt. Eine Nummer, die ich noch nicht kenne.«
»O mein Gott!«, sagte Katja Bleskjew. Aus ihrem Gesicht war mit einem Mal jegliche Farbe gewichen. Sie begann bedrohlich zu wanken. Kurz schien es, als würde sie stürzen, aber im selben Moment, als ihre Beine nachgaben, griff ihr Krüger mit einer blitzartigen Bewegung unter die Arme, hielt sie in der Senkrechten und zog sie mit aufeinandergebissenen Zähnen zu einem Stuhl.
»Was ist los?«, fragte Klein irritiert.
Katja schrie auf wie ein verwundetes Tier. Krüger ließ sie behutsam auf die Sitzfläche sinken und legte ihr tröstend seine Hände auf die Schultern. Dann schaute er Lena Böll genau in die Augen, und als sich ihre Blicke trafen, teilten sie für Sekunden ein Gefühl, das sich wie ein riesiger Eisblock in ihnen ausbreitete: Entsetzen.