10:50

Mildenbergers Hemd war schweißgetränkt. Er hatte noch nichts gefrühstückt, aber bereits fünf Becher Kaffee geleert, und sein Magen rebellierte gegen die ihm aufgezwungene Leere. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, so setzte ihn die bevorstehende Pressekonferenz doch zunehmend unter Druck. Nicht ohne Grund, wie er fand. Man würde sie in Fetzen reißen. Ihn selbst als den Hauptverantwortlichen, Mira Breitenbusch-Keese als die zuständige Staatsanwältin, was ihn fast schon tröstete, Florian Krüger als den Leiter der SOKO und natürlich auch Lena Böll. Seibling würde zwar ebenfalls teilnehmen, aber vermutlich ungeschoren davonkommen, da er das Treffen lediglich moderierte und sich für nichts verantworten musste. So wie die vier traurigen Repräsentanten des Scheiterns, die den Fragen der Journalistenmeute nichts entgegenzusetzen hatten und stattdessen würden eingestehen müssen, dass die Angelegenheit mit dem Verschwinden der Leiche und dem Erscheinen eines zweiten Täters völlig aus dem Ruder gelaufen war. Es würden zwei harte Stunden werden, Stunden, die er nicht so rasch vergessen würde, vielleicht sogar der Schlusspunkt seiner Karriere. Zum ersten Mal seit Jahren empfand er die Trennung von seiner Frau als Verlust. Was alarmierend war, denn sie hatte ihm übel mitgespielt. Er lebte seither allein, doch bis jetzt hatte ihn sein Job stets auf Trab gehalten und in seinem Leben so viel Raum beansprucht, dass die Lücke, die sie hinterlassen hatte, kaum zu spüren gewesen war. Natürlich hatte er sich manchmal auch einsam gefühlt. Aber meist hatte schon bald darauf das Telefon geklingelt, und irgendein Mord oder ein anderes Verbrechen hatte ihn die eigene Verlorenheit rasch wieder vergessen lassen. Auch über seine Pensionierung hatte er nie ernsthaft nachgedacht. An ein Leben abseits des Verbrechens. In der nur scheinbar normalen Welt.

Ihm gegenüber saß Krüger, der wie er seinen Gedanken nachzuhängen schien. Erschreckend dürr. Alle Reserven aufgebraucht. Viel zu mager für diesen Job. Der Gedanke amüsierte ihn. Durch ihn vermochte er der eigenen Fettleibigkeit etwas Positives abzugewinnen.

Sie warteten auf Xaver Seibling und Lena Böll. Um nochmals ihre Taktik durchzusprechen. In Abwesenheit von Breitenbusch-Keese, die zu dem konspirativen Treffen bewusst nicht eingeladen worden war.

»Das mit dem Garten war übrigens gelogen«, sagte Mildenberger leise. Krüger, aus seinen Träumen gerissen, brauchte einen Moment, bis er die Bedeutung des Satzes einordnen konnte. »In Wirklichkeit hasse ich Gartenarbeit. Furchtbar! Schlimmer als Putzen. Kaum hat man einen Teil des Gartens gejätet, schon wächst das verdammte Unkraut woanders wieder nach. Ein ewiger Krieg ohne jeden Sinn. Und das alles wegen ein paar wurmstichiger Zwetschgen oder von Schnecken zerfressener Salatköpfe, für die man im Supermarkt nur ein paar Euro hingeblättert hätte.«

Krüger schmunzelte. »Das klingt fast so, als beschrieben Sie unseren Job. Machen Sie sich Sorgen wegen der Pressekonferenz?«

»Gäbe es denn dafür einen Grund?«, gab Mildenberger die Frage sarkastisch zurück. »Sie etwa nicht?«

»Wir haben getan, was wir konnten. Ich glaube auch nicht, dass wir etwas Wichtiges übersehen haben. Er war bisher einfach zu schlau. Und er hatte jede Menge Glück. Wir haben uns daher nichts vorzuwerfen. Die Indizien reichen schlicht und ergreifend nicht aus. Noch nicht aus. So etwas kommt vor. Es gab Serientäter, die zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung bereits über hundert Menschen ermordet hatten.«

Mildenberger schüttelte verärgert den Kopf. »Ich male mir gerade aus, was wohl passieren würde, wenn Sie diese philosophische Erkenntnis gegenüber der Presse zum Besten gäben. Mehrere Tausend Klicks bei YouTube wären Ihnen sicher. Vielleicht würden Sie sogar Stephan Raab zu einem neuen Song inspirieren. So wie damals bei Maschendrahtzaun

Als er sah, dass Krüger rot wurde, tat er ihm fast schon leid. Natürlich hatte er recht. Er hatte wie alle gute Arbeit geleistet und konnte nichts dafür. Aber allmählich zerrte der Fall an Mildenbergers Nerven. Noch bevor er sich entschuldigen konnte, öffnete sich die Tür und gab den Blick auf Lena Böll frei, die strahlte, als hätte sie im Lotto gewonnen.

»Es ist etwas Unglaubliches passiert«, brach es aus ihr heraus. »Etwas, was uns zwingt, die gesamte Situation nochmals neu zu überdenken.«

Mildenberger ließ sich überrascht nach hinten fallen und bremste die Bewegung erst ab, als die Lehne knackend nachzugeben drohte. Sie war zweifellos aufgeregt, und wenn Lena Böll aufgeregt war, war höchste Vorsicht angebracht.

»Das klingt gut«, sagte er. »Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte Krüger aus dem Fenster geworfen und wäre gleich anschließend hinterhergesprungen. Oder umgekehrt.« Lena Böll zog erstaunt die Augenbrauen nach oben, und Krüger quälte sich ein schmales Lächeln auf die Lippen. »Also reden Sie schon! Was ist los?«

Sie strich sich nervös eine Haarsträhne aus den Augen. »Vor einer Stunde habe ich wie üblich die Post der Lauks gesichtet. Nach den Erfahrungen der letzten Tage hatte ich mir davon nicht viel erwartet. Nichts außer dem üblichen Müll. Aber dieses Mal war da noch etwas anderes.«

»Aha. Und was?«

»Wenn ich mich nicht irre, ist es ein Brief von Nummer Zwei.«

»O mein Gott!«, rief Krüger aus, doch Mildenberger vermochte seine spontane Bekehrung nicht zu teilen. Das ergab keinen Sinn!

»Kein Scherz?«, fragte er misstrauisch.

»Natürlich nicht«, versicherte sie ihm ernst und streckte ihm zur Bestätigung ein Blatt entgegen. Der Brief war getippt. Arial zwölf. Ordentlich formatiert und akkurat gefaltet. Keine Unterschrift. Am unteren Rand fanden sich zwei dunkle Flecken. Sichtbar gemachte Fingerabdrücke. Was darauf hinwies, dass das Schreiben bereits durch die Hände der Technik gegangen sein musste. Vor dreißig Minuten hatte ihn Schröder angerufen. Völlig außer sich. Böll hatte ihn während eines Telefonats aus der Leitung geworfen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie mit Sicherheit bereits von dem Brief gewusst. Und es Schröder dennoch eiskalt verschwiegen. Er nahm sich vor, auf der Hut zu sein.

Sie zog das Blatt zurück, ließ sich auf einen der Schwingstühle fallen und begann vorzulesen:

»Liebe Frau Lauk, lieber Herr Lauk!

 

Ihnen diesen Brief zukommen zu lassen, war mir ein tiefes Bedürfnis, und ich möchte mich ausdrücklich dafür entschuldigen, dass ich so lange zögerte, ihn zu schreiben. Aber in den vergangenen Tagen galt es einige Entscheidungen zu treffen, schwierige Entscheidungen, die mich meinen Entschluss immer wieder aufschieben ließen. Vielleicht war es auch Scham. Denn was ich getan habe, mag vielleicht verständlich sein, bleibt aber dennoch unverzeihlich.

 

Am frühen Sonntagmorgen war ich schon sehr früh im Wald unterwegs, und so war ich es, der Ihre Tochter fand. Sie saß tot auf einer Bank, und als ich dort eintraf, war der Mörder erst kurz zuvor verschwunden. Was dann geschah, kann ich mir bis heute selbst nicht recht erklären, doch ich denke, es hängt damit zusammen, dass ich den Gedanken, dass Carola so nackt und schutzlos, wie sie da saß, aufgefunden werden würde, einfach nicht ertragen konnte. Also tat ich etwas Ungeheuerliches. Ich lud Carola in den Kofferraum meines Wagens und brachte sie zu mir nach Hause. Dort zog ich ihr ein schönes Sommerkleid an und legte sie, um ihren Körper vor der Verwesung zu bewahren, in eine Tiefkühltruhe.

 

Es tut mir leid, dass nun ich es bin, der Ihre Hoffnungen zerstören und Ihnen mitteilen muss, dass Ihre Tochter tot ist. Den Schmerz, den ich Ihnen damit zufüge, kenne ich nur zu gut. Ich möchte Ihnen versichern, dass ich Carola durchgängig respektvoll begegne. Ich habe ihren Körper auf Decken und Kissen gebettet, und … das mag vielleicht verrückt klingen … sie hält sogar ein Kuscheltier im Arm. Sie können sich darauf verlassen, dass ich Ihnen Ihre Tochter schon bald zurückbringen werde. Momentan ist es dafür leider noch zu früh.

 

Da Sie vermutlich sehr viel Post von den merkwürdigsten Leuten erhalten, lege ich Ihnen zum Abgleich der DNA eine Haarsträhne bei. Carola hat eine kleine Operationsnarbe in der linken Leiste sowie eine kreisförmige Narbe oberhalb des rechten Knies. Ich hoffe, damit die Glaubwürdigkeit meiner Aussage ausreichend belegt zu haben.

 

Mit mitfühlenden Grüßen«

Lena Böll blickte auf. Ihre blasse Haut wirkte ein wenig dunkler als sonst.

»Unfassbar!«, sagte Mildenberger. Sie hatte recht. Dieser Brief änderte alles.

»Er ist überhaupt kein Perverser«, stellte Krüger kopfschüttelnd fest.

»Nein«, stimmte Lena Böll ihm zu. »Das ist er ganz offensichtlich nicht.«

»Zu mir nach Hause. Er lebt allein«, ergänzte Krüger.

»Besitzt aber ein Kleid«, sagte Mildenberger. »Und behauptet, sich in den Schmerz der Lauks einfühlen zu können. Das heißt, er hat ebenfalls jemanden verloren. Seine Frau … oder eine Tochter.«

»Ich tippe auf eine Tochter«, sagte Böll. Ihr Gesicht wirkte ernst, aber von ihren Augen ging ein merkwürdiges Strahlen aus, das Mildenberger nicht entging.

»Und Sie glauben, der Brief ist echt?«, fragte er – immer noch skeptisch.

»Ja, Zumindest spricht alles dafür. Die DNA-Analyse der Haare steht natürlich noch aus, aber die körperlichen Merkmale treffen zu und sind nur Insidern bekannt. Der Brief wurde gestern Nachmittag vor sechzehn Uhr dreißig eingeworfen, das heißt zu einem Zeitpunkt, an dem die Existenz von Nummer Zwei noch nicht öffentlich bekannt geworden war. Vom Verschwinden der Leiche konnte zu diesem Zeitpunkt kein Außenstehender wissen. Ein Trittbrettfahrer scheidet somit aus.«

Mildenberger nickte. Was sie sagte, klang völlig plausibel. Der Brief war vermutlich echt. Ihm kam plötzlich ein Gedanke, der ihn Hoffnung schöpfen ließ. »Glauben Sie, er kennt den Mörder?«

Sie nickte. » Ich denke sogar, er ist hinter ihm her.«

Krüger legte erstaunt die Stirn in Falten. »Aber warum ruft er nicht einfach bei uns an?«

»Wahrscheinlich befürchtet er, mit den Morden in Verbindung gebracht zu werden. Oder er weiß immer noch nicht genau, wer der Täter ist. Vielleicht hat er nur eine Spur. Oder er lauert in der Nähe des Tatorts und spekuliert darauf, dass der Mörder dorthin zurückkehren wird. Das würde auch erklären, warum er die Leiche noch eine Zeitlang zurückhalten will. Als Köder. Um den Mörder aus der Reserve zu locken. Ich denke, das alles war nicht geplant. Nummer Zwei hat in der Vergangenheit einen brutalen Verlust wegstecken müssen, unter dem er bis heute leidet. Auf Carola Lauk ist er völlig zufällig gestoßen, und ihr Anblick hat seine alte Wunde wieder aufreißen lassen und ihn dazu bewegt, ihr zu helfen.«

»Ihr zu helfen?«

»Ja. Zumindest beschreibt er es so. Er wollte sie nicht schutzlos zurücklassen. In Szene gesetzt wie die anderen Frauen. Er hat es nicht zulassen können, dass der Mörder mit seiner demütigenden Inszenierung durchkommt. Also hat er sich eingemischt. Die Idee, sich den Täter zu schnappen, kam ihm vermutlich erst später. Ich glaube, er fühlt sich schuldig. Am Tod seiner Tochter. Und er versucht, es nachträglich wiedergutzumachen.«

»Und was – glaubst du – wird er tun, wenn er ihn gefunden hat?«, fragte Krüger. »Uns informieren? Oder wird er versuchen, ihn sich persönlich zu greifen?«

»Gut möglich, dass er das bisher selbst nicht weiß. Wenn er davon überzeugt ist, in der Vergangenheit versagt zu haben, weil er seiner Tochter am Ende nicht helfen konnte, wird er womöglich versuchen, sein Trauma erneut zu durchleben und eine vergleichbare Situation zu inszenieren. Kann sein, dass ihm das überhaupt nicht bewusst ist. Aber es geht ihm nicht vorrangig darum, den Mörder zu töten. Er ist vielmehr darauf aus, jemanden zu retten. Insofern ist es durchaus denkbar, dass er auf die nächste Entführung warten und erst im letzten Moment eingreifen wird.«

Mildenberger dachte nach. Das alles konnte durchaus zutreffen. Und es eröffnete völlig neue Möglichkeiten. »Das heißt, wir suchen einen Mann aus der Gegend von Mannheim, der seine Tochter verloren hat?«, fragte er.

»Genau«, sagte Lena Böll.

»Okay. Aber wodurch? Durch eine Krankheit? Durch einen Verkehrsunfall? Durch ein Verbrechen?«

»Keine Ahnung. Aber vermutlich eher durch ein akutes, von außen kommendes Ereignis als durch eine schleichende körperliche Erkrankung.«

»Was schlagen Sie also vor?«

Sie zögerte kurz. »Wir sollten die Zeitungsberichte der letzten zehn Jahre durchforsten. Nach Mädchen, die gewaltsam ums Leben gekommen sind. Und uns ihre Väter einzeln vornehmen. Aber vielleicht irre ich mich, und das alles entspringt nur meiner blühenden Phantasie.«

»Egal. Wir tun es trotzdem. Was wird aus der Pressekonferenz? Wird uns dieser Brief irgendwie weiterhelfen?«

In Bölls Gesicht ging plötzlich eine Veränderung vor, die ihm nicht gefiel, genau jene Veränderung, die er auch damals an ihr wahrgenommen hatte, kurz nach Hoffmanns Tod.

»Darauf kommt es im Moment nicht an«, erwiderte sie ernst. »Denn sollte ich richtig liegen, so wird dieser Fall spätestens mit der Entführung des nächsten Opfers enden. Die Frage ist nur noch, wie. In erster Linie hängt der weitere Verlauf davon ab, wie dicht Nummer Zwei dem Mörder auf den Fersen ist. Sollte er seine Identität zum Zeitpunkt der nächsten Entführung kennen, wird er versuchen, die Angelegenheit selbst zu regeln. Falls nicht, so wird er stattdessen mit uns in Verbindung treten.«

»Was hältst du für wahrscheinlicher?«, fragte Krüger.

Sie zögerte kurz, aber sie entschied sich für die Wahrheit. »Ich denke, er wird es selbst versuchen.«

»Bleibt nur zu hoffen, dass er weiß, was er tut«, sagte Krüger. »Und dass er aus der Presse davon erfahren hat, dass Nummer Eins bewaffnet ist. Er wird wohl kaum so naiv sein, zu glauben, dass er den Täter lebend fassen kann?«

»Nein, wohl eher nicht«, antwortete Lena Böll.

»Glaubst du, er hätte gegen den Mörder überhaupt eine Chance?«

»Er hätte die Fingerabdrücke auf dem Brief problemlos abwischen können. Dass er darauf verzichtet hat, weist darauf hin, dass ihn seine eigene Zukunft kaum zu kümmern scheint. Das macht ihn extrem gefährlich. Fifty-fifty, würde ich sagen.«

Mildenberger schaute nachdenklich aus dem Fenster und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Schweiß von der Stirn. »Und wenn er scheitert? Wenn Nummer Eins ihn tötet und ihn danach auf einem Parkplatz ablegt wie seine anderen Opfer?«

»Für unsere Ermittlungen wäre das natürlich die ungünstigste Lösung. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass Nummer Zwei selbst für diesen Fall vorgesorgt haben dürfte. Mit einem Abschiedsbrief zum Beispiel. Aber wir sollten nichtsdestotrotz alles tun, um ihn auf keinen Fall an Nummer Eins zu verlieren.« Sie hielt kurz inne, als sei sie von dieser Bemerkung selbst irritiert. »Aktuell befinden wir uns in einer hochinteressanten Ausgangssituation. Was uns betrifft, so kennen wir weder Nummer Eins noch Nummer Zwei. Auch Nummer Eins hat vermutlich nicht die geringste Ahnung, wer ihm bei seinem Treiben in die Quere gekommen sein könnte. Nummer Zwei aber kennt sowohl ihn als auch uns. Dadurch wird er zu dem alles entscheidenden Verbindungsglied. Unsere Chancen, den Mörder mit Hilfe der bisherigen Indizien zu schnappen, stehen denkbar schlecht. Folglich stehen uns derzeit nur zwei Wege zur Verfügung, um doch noch an ihn heranzukommen, aber keiner von ihnen führt direkt zu ihm, sondern beide führen indirekt über Nummer Zwei.«

Sie ist wie immer brillant, dachte Mildenberger. Gleichzeitig ahnte er bereits, dass ihm einer der beiden Wege auf keinen Fall zusagen würde. Ihre Wangen waren noch immer leicht gerötet, ein ungewöhnliches Zeichen; und ihr war anzumerken, dass sie wusste, wie aufmerksam er sie beobachtete.

»Erstens: Wir bringen ihn dazu, mit uns Kontakt aufzunehmen«, sagte Krüger, »und zweitens: …« Er zögerte.

»Wir bringen ihn dazu, dass er den Mörder stellt und tötet«, ergänzte Mildenberger und ließ Lena Böll nicht aus den Augen.

Sie schenkte ihm ein unwiderstehliches Lächeln, das ihn an das Lächeln der Ärztin erinnerte, die ihn als Kind behandelt und die immer dann gelächelt hatte, wenn eine Spritze anstand oder das Ziehen eines Zehennagels oder irgendetwas anderes, auf das man als kleiner Junge gut verzichten konnte.

»Wissen die Lauks schon von dem Brief?«, fragte er misstrauisch, war sich aber schon im Voraus sicher, wie ihre Antwort ausfallen würde.

»Nein. Bislang noch nicht. Ich wollte erst noch abwarten, auf was wir drei uns einigen werden.«

Sie würde es tun, dachte er. Wenn sich dadurch ihre Chancen verbessern würden, den Mörder zu fassen, würde sie die Eltern auch weiterhin in dem Glauben lassen, dass sich die Leiche ihrer Tochter in den Händen eines Perversen befände.

»Sie haben hoffentlich nicht vor, ihnen den Brief dauerhaft vorzuenthalten?«, fragte er kühl.

Sollte sie dies geplant haben, so wechselte sie nun wie selbstverständlich ihre bisherige Strategie. »Nein, das ist nicht nötig. Es würde die Angelegenheit nur unnötig komplizieren. Aber bevor wir ihn aushändigen, sollten wir ihn unbedingt umformulieren.«

Extrem flexibel – so wie immer, dachte er. Und kalt wie eine Hundeschnauze. Von ihr gejagt zu werden, war kein Vergnügen.

»Umformulieren?«, fragte Krüger erstaunt. »Aber wozu?«

»Die Frage ist, was genau wir in den nächsten Stunden und Tagen erreichen wollen«, erklärte sie ruhig. »Genaugenommen lassen sich unsere Ziele auf einige wenige Punkte reduzieren. Der Mörder darf auf keinen Fall erfahren, dass ihm Nummer Zwei auf den Fersen ist. Das würde unseren edlen Retter in Gefahr bringen und das Risiko erhöhen, dass er bei seinem Versuch, den Täter zu stellen, getötet würde, noch bevor er seine Informationen an uns weiterreichen kann. Wir sollten also alle Passagen streichen, die vermuten lassen, dass Nummer Zwei den Mörder kennt.«

Mildenberger seufzte. Warum klang alles, was sie vorschlug, immer so unwiderstehlich logisch? »Okay. Das leuchtet mir durchaus ein. Aber das war noch längst nicht alles, oder doch?«

»Nein, noch nicht ganz. Zusätzlich … und das ist entscheidend … sollten wir versuchen, den Druck auf Nummer Zwei massiv zu erhöhen. Natürlich ist ihm klar, dass er unsere Ermittlungsarbeiten durch seine Einmischung behindert haben könnte, aber vermutlich nimmt er an, dass sich der Schaden in Grenzen halten dürfte. Vorerst gibt es kein weiteres Opfer, und da der Täter bislang ausschließlich an Wochenenden zuschlug, wird er glauben, bis zur nächsten Entführung bleibt ihm noch jede Menge Zeit.«

»Du denkst hoffentlich nicht ernsthaft darüber nach, eine weitere Entführung vorzutäuschen?«, fragte Krüger verblüfft.

»Natürlich tut sie das«, sagte Mildenberger. »Sonst wäre sie gewiss nicht jene Lena Böll, die wir alle so schätzen und fürchten.« Er warf ihr einen strengen Blick zu. »Wir sind immer noch Polizisten und haben bestimmte Regeln einzuhalten. Ich weiß: Für Sie sind Normen nichts weiter als Makulatur, aber vergessen Sie das nicht!«

Sie verzog das Gesicht. »Es wäre sicherlich riskant. Könnten wir aber eine neue Entführung vermelden, so würde Nummer Zwei seine Suche aufgeben und uns umgehend informieren. Den Tod des vermeintlichen Opfers zu riskieren, käme für ihn gewiss nicht in Frage. Denn so wie Nummer Eins die Blamage fürchtet, so fürchtet Nummer Zwei die Schuld. Aber leider wäre diese Inszenierung logistisch zu kompliziert. Wir müssten der Presse einen Namen nennen, und es wäre nur eine Frage von Stunden, bis der ganze Schwindel auffliegen würde. Ich dachte daher an eine mildere Variante. An einen gescheiterten Entführungsversuch.«

»Sie haben Schröder alle diese Informationen bewusst vorenthalten. Habe ich recht?« Sie nickte stumm. »Warum?«

»Ich wollte vermeiden, dass er uns in unseren Entscheidungen bereits im Vorfeld einengen könnte.«

Die Offenheit, mit der sie ihm, ihrem derzeitigen Vorgesetzten, ohne Umschweife eingestand, dass sie einen anderen Vorgesetzten hinterging, war beeindruckend.

Sie macht dich bewusst zu ihrem Komplizen, dachte er und holte tief Luft. »Nur um sicherzugehen, dass ich Sie richtig verstehe: Sie schlagen Sie uns vor, der Presse einen gefälschten Brief zu präsentieren. Gleichzeitig sollen wir einen gescheiterten Entführungsversuch vermelden. Dies alles in der Absicht, Nummer Zwei zu schützen und ihn dazu zu bewegen, noch vor der nächsten Entführung mit uns Kontakt aufzunehmen.«

»Ja.«

»Oder aber um für ihn ideale Voraussetzungen zu schaffen, um seine persönliche Schuld zu begleichen und Nummer Eins zu stellen.« Sie schwieg. »Wobei Sie die erste Variante für eher unwahrscheinlich zu halten scheinen. Das heißt, letztendlich sprechen wir hier davon, Nummer Zwei dazu zu bringen, sein eigenes Leben zu riskieren, um den Mörder zu töten. Oder habe ich da irgendetwas grundlegend missverstanden?« Er dachte an die Geschichte mit den Elstern. Und an Hoffmann. Und an seinen gottverdammten verwilderten Garten.

Als sie antwortete, triefte ihre Stimme vor Sarkasmus. »Natürlich könnten wir in der Pressekonferenz auch gezielt hervorheben, dass Nummer Zwei den Täter kennt. Und natürlich könnten wir unserem mysteriösen Assistenten noch zusätzlich davon abraten, sich Nummer Eins zu nähern oder sich gar persönlich mit ihm anzulegen. Was ihm nach einer solchen Vorwarnung auch zweifellos einleuchten würde. Anschließend könnten wir dann in Ruhe darauf hoffen, dass er sich dennoch bei uns meldet, oder wir könnten die nächste Entführung abwarten oder uns auf das Abarbeiten der Hinweise und Spuren konzentrieren.«

Mildenberger unterdrückte den Impuls, sie anzuschreien, und schaute hinüber zu Krüger, der mit den oberen Schneidezähnen angespannt seine Unterlippe malträtierte. »Was halten Sie davon? Zählt das, was sie vorschlägt, schon als Auftragsmord oder fällt das noch unter Polizeiarbeit?«

»Es ist sicherlich … ungewöhnlich«, versuchte sich Krüger diplomatisch herauszuwinden. »Aber es ist auch ein ungewöhnlicher Fall.«

Mildenberger schloss kurz die Augen. In der Dunkelheit hinter seinen Lidern sah er ein Mädchen an einem offenen Fenster stehen, und dahinter einen älteren Mann, der ein Gewehr anlegte und schoss.

»Vertrauen Sie mir, Chef!«, sagte Lena Böll. »Ich bin mir sicher: Das ist der richtige Weg. In ein paar Tagen ist dieser Albtraum zu Ende.«

Mildenberger fiel etwas ein, was sie kurz vor Hoffmanns Ergreifung gesagt hatte: Ein Schaf kann keinen Wolf jagen, und ihm war klar, dass sie recht hatte. Er schaute hinüber zu Krüger, der zustimmend nickte.

»Okay« sagte er. »Ich lasse Ihnen beiden freie Hand. Aber dieses Gespräch hat niemals stattgefunden.«

Im selben Moment öffnete sich die Tür und Xaver Seibling, den sie völlig vergessen hatten, trat schwitzend in den Raum.

»Entschuldigung«, sagte er, ein wenig außer Atem. »Ich weiß, ich bin spät dran, aber der Redakteur vom Stern hat mich endlos lange aufgehalten.«

Er schaute sich prüfend um, sein Blick blieb an Krüger hängen, und mit einem Mal war er unverkennbar Kriminalbeamter und fragte misstrauisch: »Irgendwelche Neuigkeiten?«