Danach
Noch am gleichen Tag wurde Golds Wohnung gestürmt. Zwar wies nichts darauf hin, dass er an den Morden beteiligt sein könnte, jedoch war niemand, der seine Akte kannte, verrückt genug, ihn von gewöhnlichen Streifenbeamten abführen zu lassen. Also schickten sie das SEK. Doch Gold war nicht da. Sein Computer war mit einer Spezialsoftware chiffriert, welche eine Entschlüsselung aussichtslos erscheinen ließ, und selbst die Telefonate der letzten Tage ließen sich nicht zurückverfolgen, da man kein Telefon fand und er bei keinem Betreiber registriert zu sein schien. Auch in seinem Laden fanden sich keine Hinweise, wo er sich aufhalten könnte, und die Studentin, die für ihn arbeitete, zuckte nur schüchtern mit den Schultern. Gold blieb spurlos verschwunden.
Verena Bleskjew weigerte sich weiterhin, die Flüchtigen zu beschreiben. Offensichtlich war sie entschlossen, ihr Versprechen einzuhalten. Selbst ihre Schwester Katja, die sie erleichtert in die Arme schloss, war nicht in der Lage, sie umzustimmen.
Auch Lena Böll hätte die beiden am liebsten davonkommen lassen. Unter den Blicken der Öffentlichkeit war das allerdings nicht möglich. Also machte sie sich unwillig auf die Suche. Die entscheidende Frage, die sie sich stellen musste, war die Frage, was Gold und Nummer Zwei miteinander verband. Sie kannte Gold von früher. Sie hatte ihn mehrfach verhört und wusste, wie er tickte. Hatte man Gold zum Feind, tat man gut daran, ins Ausland zu emigrieren, hatte man ihn allerdings zum Freund, konnte man sich blind auf ihn verlassen. Eine Killermaschine mit Ehrenkodex. Der fürchterliche Verbrechen begangen hatte, bis zu dem Tag, als seine Frau getötet wurde. Ein Traumatisierter. So wie Nummer Zwei. Genau darin lag die Verbindung. Sie mochten völlig unterschiedlich sein, aber dennoch hatten sie etwas Entscheidendes gemeinsam: Das Leben hatte sie beide überrannt. Und es gab nur einen Ort, an dem sie das voneinander erfahren haben konnten, einen Ort, den auch sie selbst vor langer Zeit aufgesucht hatte.
Als sie kurz darauf in Carmen Mingus’ Praxis vorsprach, wurde sie freundlich begrüßt, jedoch weigerte sich die Therapeutin, ihr Auskunft zu erteilen. Sie erbat sich eine Frist von vierundzwanzig Stunden. Dann würde sie den Namen nennen. Dass sie damit indirekt bestätigte, Nummer Zwei zu kennen, reichte Lena Böll aus, denn die Überprüfung der von Mingus geführten Telefonate bestätigte bereits wenig später die Kontakte zu Gold. Unmittelbar vor der Schießerei in Speyer hatte Carmen Mingus eine Handynummer gewählt, die sich einem gewissen Max Romberg zuordnen ließ. Unmittelbar nach der Schießerei hatte Romberg wiederum sie angerufen.
Kurz darauf wurde auch Max Rombergs Haustür gewaltsam geöffnet. Nachdem das Einsatzkommando das Gebäude durchsucht und als sicher befunden hatte, betraten auch Böll und Krüger das Haus. Sie fanden Hinweise auf das Leben eines einsamen Mannes, ein Kinderzimmer, das aussah, als ob es eben noch bewohnt worden sei, und einen Kleiderschrank voll mit Frauenkleidung.
Auf dem Esstisch im Erdgeschoss lagen ein Brief an Achim, Rombergs Bruder, und ein Aufklappbuch. Als Lena Böll es an einer zufällig gewählten Stelle öffnete, formierte sich auf magische Weise ein weißer Wal, der gerade in die Tiefe des Ozeans abzutauchen schien. An seiner Seite hing Ahab, der Jäger, und versuchte mit letzter Kraft, seinen Erzfeind zu töten.
Im Keller des Hauses fanden sie eine offen stehende Tiefkühltruhe, die vor kurzem noch in Betrieb gewesen war. Daneben ein blutiges T-Shirt, das auf der rechten Brustseite ein Einschussloch aufwies, sowie blutige Tupfer und aufgerissene Packungen von Verbandsmaterial.
Romberg und Gold allerdings waren längst über alle Berge.
Nur wenig später fand ein älteres Ehepaar auf einem Parkplatz im Odenwald Carola Lauk. Sie saß aufrecht auf einer Bank, in einem hübschen Sommerkleid, den Kopf leicht nach hinten geneigt, so als gäbe es dort oben, in den Wipfeln der Bäume, etwas Besonderes zu sehen. Sie war geisterhaft blass, doch in ihren Augen schimmerte noch immer lebendiges Blau. Ihr langes Haar war frisch gekämmt. Wie ein goldener Strom floss es über die Lehne hinweg, um erst unmittelbar über den Moosmatten zum Stillstand zu kommen. In ihrem rechten Arm hielt sie einen Stoffhasen mit verschiedenfarbigen Ohren, das eine dunkelblau, das andere rosa. Das rosafarbene Ohr war leicht geknickt. Er trug ein kariertes T-Shirt und schaute die Spaziergänger nachdenklich an.