11:35

Verena Bleskjew weinte.

Die Kugel, die der Mann abgefeuert hatte, war dicht über ihrem Gesicht in Kurts Kopf eingeschlagen. Sie hatte deutlich einen heißen Luftzug gespürt. Zeitgleich war das Krachen brechender Knochen zu hören gewesen und dann ein dumpfes Geräusch, als Kurt wie ein Sack ungebremst auf dem Boden aufgeschlagen war.

In ihrem Gehirn wurden die letzten Zeilen des Jandl-Gedichts abgerufen: Einer raus, einer rein. Erster sein. Guten Tag, Herr Doktor.

Kurt war tot. Ausgelöscht. Dieses perverse Schwein würde sie nie mehr quälen oder anfassen können. Wenn sie den Kopf zur Seite drehte, konnte sie seine Beine sehen, merkwürdig verschlungen und völlig bewegungslos. Unterhalb des Reißverschlusses hatte sich ein dunkler feuchter Fleck gebildet. Alles oberhalb des Flecks lag außerhalb ihres Gesichtsfeldes, aber wenn sie den Kopf so weit wie nur möglich in den Nacken legte, erkannte sie an der Wand ein abstraktes Gebilde aus Hirnmasse und Blut, welches eindeutig belegte, dass ihr Entführer tot sein musste.

Der Mann, der Kurt in den Kopf geschossen hatte, lehnte erschöpft am Rahmen der Kellertür und lächelte sie an. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, aber in seinem Blick lag unverkennbar ein Ausdruck des Glücks. Die rechte Hälfte seines T-Shirts war blutgetränkt, doch er lächelte, als würde er die Verletzung nicht bemerken. Als wäre sein Zustand ohne jede Bedeutung. Während sich der Blutfleck weiterhin ausbreitete, zog er ein Handy aus der Hosentasche.

»Ich bin gleich so weit«, sagte er und nickte ihr aufmunternd zu.

Angesichts seines Zustandes klang die Bemerkung völlig absurd. Seine Stimme schien von weit her zu kommen und klang merkwürdig gedämpft. So als hätte sie Wasser im Ohr. Offensichtlich war sein Anruf inzwischen angekommen. »Sie können jetzt anrufen«, sagte er und steckte das Handy zurück in die Hosentasche.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht ging er in die Hocke und griff nach der zerfledderten Umhängetasche. Einen Moment lang fürchtete sie, ihm könnte die Kraft fehlen, um zurück in den Stand zu kommen, aber er biss die Zähne zusammen, griff nach dem Türrahmen und zog sich mit aller Kraft nach oben. Bedrohlich schwankend kam er auf sie zu. »Alles wird gut«, keuchte er. »Du musst dir keine Sorgen mehr machen. Es ist vorbei.«

Er griff erneut in die Tasche und brachte ein Messer zum Vorschein, dessen Klinge mit einem leisen Geräusch nach vorne schnellte. Sie war verblüfft, stellte aber erstaunt fest, dass das Messer sie nicht beunruhigte. Er durchtrennte vorsichtig das Klebeband, das ihre rechte Hand fixierte.

»Den Rest machst du lieber selbst«, presste er hervor. »Ich habe ein wenig …« Er lachte matt. »… Koordinationsprobleme.« Mit dem Griff nach vorn überreichte er ihr das Messer und setzte sich erschöpft auf den Stuhl, auf dem noch vor kurzem Kurt Lörs gesessen hatte.

Sie hätte ihn am liebsten umarmt, ihn an sich gedrückt und ihm weinend dafür gedankt, dass er sie gerettet hatte. Aber sie musste erst einmal ihren linken Arm befreien und dann die Fesseln an ihren Füßen. Dann war sie frei!

»Das werde ich Ihnen nie vergessen«, sagte sie leise. Sie war noch immer völlig nackt.

»Das wäre schön«, sagte er, heftig atmend. »Ich hätte mir nur gewünscht, ich käme nicht zu spät. Für deine Mutter. Und auch für dich selbst. Bleib einfach hier sitzen. Jetzt nur keine Anstrengung! Die Polizei wird jeden Moment hier sein.« So als hätte diese Bemerkung ihn an etwas erinnert, fügte er nachdenklich hinzu: »Seltsam. Irgendwie hatte ich fest damit gerechnet, heute den Heldentod zu sterben, aber anscheinend bin ich einfach nicht totzukriegen.« Er lachte ein bitteres Lachen, griff in die Umhängetasche und hielt ihr ein dünnes Kleid entgegen. »Nimm das! Es dürfte durchlöchert sein, aber es ist besser als nichts.«

Es war unglaublich! Er hatte sogar an Kleidung gedacht! Während sie gerührt nach dem gepunkteten Kleid griff, erhob er sich mühsam von seinem Stuhl.

»Wo wollen Sie hin?«, fragte sie erschrocken. Er sah aus, als würde er in den nächsten Sekunden sterben und als würde er es auf keinen Fall schaffen, die steile Kellertreppe zu überwinden.

»Ich habe noch etwas zu erledigen«, sagte er. »Wofür ich ein wenig Zeit benötige. Ich fürchte nur, die Polizei wird nicht bereit sein, dafür Verständnis aufzubringen.«

»Aber … Sie sind schwer verletzt.«

Er soll nicht gehen, dachte sie. Ich will, dass er bleibt. Für immer.

»Bin ich das?« Er lächelte. Als hätte sie einen Scherz gemacht. »Das täuscht. In Wirklichkeit bin ich geheilt.« Durch das Gewebe des Stoffs quoll immer noch Blut. Als er das Gleichgewicht zu verlieren drohte, stützte er sich mit letzter Kraft an der Wand ab. Seine Brille war leicht verrutscht, und er hatte zunehmend Mühe, die Augen offen zu halten.

Auf der Treppe waren leise Schritte zu hören, und in der Türöffnung erschien ein Riese von einem Mann. Er hielt beide Arme weit vor sich gestreckt, und seine Hände umklammerten die größte Pistole, die sie jemals gesehen hatte. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift FBI, und seine Arme und sein Hals waren bunt tätowiert.

Verena Bleskjew riss erschrocken das Messer nach oben, doch ihr Retter, der an der Wand nach unten rutschte und einen breiten blutigen Streifen hinterließ, schüttelte energisch den Kopf.

»Heilige Scheiße, Romberg«, sagte der Riese mit Blick auf Lörs. »Du lernst wirklich schnell!«