KAPITEL 1

»MS BATES«, SAGTE Mrs Crawford. »Ich will vollkommen ehrlich mit Ihnen sein. Einige der Eltern sind besorgt darüber, dass Hannah die Mira Costa Highschool besuchen wird. Ms Bates?«

Erschrocken fuhr Josie hoch. Sie hatte Hannah durch das kleine Fenster in der Tür des Rektorats beobachtet. Hannah hielt den Kopf gesenkt und füllte pflichtschuldig die Anmeldeformulare aus. Sie lag im Stoff bereits zurück, da sie wegen des Prozesses mehr als einen Monat zu spät mit der Schule begann. Aber das war nur eines von vielen Problemen – schwerwiegender waren die, die sie mit sich selbst hatte. Josie hätte sich nicht mehr Sorgen machen können, wenn sie die Mutter dieses hinreißenden Mädchens wäre. Jetzt zwang sie sich, den Blick abzuwenden und sich auf die Direktorin, Mrs Crawford, zu konzentrieren.

»Ich wüsste nicht, worüber sie besorgt sein sollten. Hannah hat Richter Rayburn nicht umgebracht«, sagte Josie.

»Aber die Leute erinnern sich noch an den Prozess. Es gab sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit.«

»Und sogar noch mehr, als Hannahs Mutter wegen des Verbrechens verurteilt wurde. Jetzt sitzt die Mutter im Gefängnis, und es gibt keinerlei Kontakt mehr zu ihr. Falls irgendjemand nicht weiß, wie dieser Prozess ausgegangen ist, kläre ich ihn gerne auf.«

»Anwälte und Lehrbeauftragte wissen beide, dass Tatsachen nichts mit der emotionalen Realität zu tun haben«, lächelte Mrs Crawford. »Es wird Sie sicherlich nicht überraschen, dass es aufseiten von Schülern und Eltern Tratsch, Mutmaßungen und Neugier gibt. Was Sie allerdings möglicherweise überraschen wird, sind die Folgen, die all das hatte. Sie haben keine Kinder, nicht wahr?«

Josie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht verheiratet.«

Mrs Crawford nickte. Für Kinderlose war die Welt ein anderer Ort. Für Leute, die Kinder hatten, war sie eine Mondlandschaft ohne Schwerkraft, voll mit Schlaglöchern und unüberwindbaren Bergen in der Ferne. Selbst begnadete Eltern hatten ihre Schwierigkeiten, auf diesem Terrain zu manövrieren. In Mrs Crawfords Augen standen die Chancen fünfzig zu fünfzig, dass Josie die Sache unversehrt überstand.

»Dann hatten Sie selbst noch nicht das Vergnügen, sich mit solchen Dingen herumzuschlagen«, lächelte sie, bevor sie wieder ernst wurde. »Manche Eltern werden Vorbehalte gegenüber einer Freundschaft mit Hannah haben. Sie werden nicht wollen, dass sie zu ihnen nach Hause kommt, um einen möglichen schlechten Einfluss auszuschließen. Andere Schüler oder Schülerinnen werden sich vielleicht mit ihr anlegen und austesten, wie viel sie aushält. Sie werden sehen wollen, wie weit sie bei ihr gehen können …« Mrs Crawford zögerte. »Möglicherweise werden sie wissen wollen, ob sie wirklich keine Schmerzen fühlt, wie es in den Zeitungen stand.«

»Nachdem Ihnen klar ist, was passieren könnte, gehe ich davon aus, dass sie sämtliche Vorkehrungen für Hannahs Sicherheit treffen werden«, meinte Josie kühl, der nicht entging, dass Mrs Crawford helfen wollte.

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen das versprechen, aber ich kann es nicht.« Mrs Crawford lehnte sich zurück. »Wir haben viele Kinder hier, die aus allen möglichen Gründen zur Zielscheibe ihrer Mitschüler werden. Seit Sie auf der Highschool waren, haben sich die Dinge verändert. Jugendliche können wegen ihrer sexuellen Orientierung, ihres IQs oder schlicht wegen ihres Aussehens zum Opfer werden. Wir tun zwar unser Bestes, aber bei Hannah ist das ein wenig anders. Sie war im Gefängnis und hat einen Mord gestanden. Die Leute werden Fragen stellen; die Kinder werden sie ärgern.«

»Ich nehme an, Sie wollen mit all dem auf etwas ganz Bestimmtes hinaus. Wieso kommen Sie also nicht zum Punkt?«, schlug Josie vor und versuchte, die Sorge darüber zu verdrängen, dass der Morgen im Flug verging und sie noch einiges zu erledigen hatte. Wie richtige Eltern das anstellten – manchmal mit mehr als einem Kind –, ging über ihren Verstand.

Mrs Crawford nahm sich kurz Zeit, um durch das kleine Fenster zu sehen. Sie hob den Kopf und sah zu Hannah hinüber. Als sie sprach, war ihr Tonfall sanfter und ihr Blick wieder auf Josie gerichtet.

»Unter uns gesagt, halte ich Hannah für eine schöne, intelligente, wortgewandte junge Frau. Außerdem halte ich sie für unglaublich tapfer und über alle Maßen selbstlos. Ich glaube kaum, dass meine Kinder für mich ins Gefängnis gegangen wären.« Sie legte den Kopf schief und hob die Hände, wie um Hilflosigkeit anzudeuten. »Aber das hier ist eine große Schule, Ms Bates, mit Schülern aus drei verschiedenen Stadtvierteln. Möglicherweise wäre Hannah mit einer kleineren Schule besser beraten, einem Ort, wo man die Schüler leichter im Auge behalten und die Schulleitung die Reaktionen auf Hannahs Ruf besser kontrollieren kann. Vielleicht wäre Chadwick eine Möglichkeit.«

»Nein, Chadwick ist keine Möglichkeit. Ich habe mit Hannah darüber gesprochen. Sie will auf keine Schule für reiche Kinder. Sie hat genug von reichen Leuten. Sie will einfach nur wieder zur Schule gehen.« Josie warf rasch einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Und was die Schulleitung angeht, so glaube ich nicht, dass Sie irgendetwas kontrollieren müssen. Das schafft Hannah schon ganz alleine.«

Mrs Crawford nickte. Sie nahm einen Kugelschreiber und zog ein Blatt zu sich hin. »Na schön. Sie haben sich entschieden. Ich wollte nur sichergehen, dass wir uns richtig verstehen. Wegen der Budgetkürzungen gibt es auf diesem Campus nur noch eine Psychologin. Falls Hannah Hilfe braucht, wird sie verstehen müssen, dass sie nicht die Einzige ist.«

»Kein Problem. Hannahs Prozess wird nicht ewig Gesprächsthema sein. Sie wird klarkommen, und wenn nicht, werden wir das früh genug erfahren.«

»Das hoffe ich.«

»Verlassen Sie sich darauf«, sagte Josie. Ein Blick auf Hannahs Arme würde ausreichen, um zu wissen, ob Hannah aus dem Ruder lief. Josie schauderte bei der Erinnerung daran, wie sie das erste Mal die hässliche Landkarte aus Narben auf Hannahs Armen gesehen hatte. Es war eine Sache, wenn ein Kind von einem Erwachsenen gequält wurde, doch zu wissen, dass ein Kind solche Schmerzen litt, dass sie sich ritzte, um sie nicht mehr zu spüren, war etwas ganz anderes.

»Schön. Dann hätten wir wohl alles geklärt.« Mrs Crawford setzte die Brille auf, nahm eine aufrechtere Haltung ein und zog eine Akte zu sich heran. Josie beobachtete sie aufmerksam. »Sie sind Hannahs gesetzlicher Vormund?«

»Ja. Letzte Woche hat ihre Mutter die Papiere unterschrieben.«

»Und wird Hannah einen Parkausweis brauchen?«

Josie schüttelte den Kopf. »Vorerst nicht. Ihr Führerschein wurde eingezogen. Wir beantragen ihn zwar neu, aber fürs Erste werde ich sie abholen. Zumindest in den ersten zwei Monaten würde ich sie gern im Auge behalten.«

Mrs Crawford machte sich eine Notiz und nickte beifällig zu Josies Anteilnahme.

»Wie ich sehe, wird Hannah jeden zweiten Dienstag in der sechsten Stunde fehlen müssen?« Die Direktorin blickte auf.

»Da geht sie zu ihrer Psychologin. Ich dachte mir, da das die Sportstunde ist, sei das besser, als wenn sie Mathe versäumt«, erwiderte Josie.

»Da Sie am Strand wohnen, nehme ich an, dass sie die sportliche Betätigung nachholen wird. Läuft sie?«

Josie lachte. »Nein. Hannah ist künstlerisch veranlagt, nicht sportlich. Ich glaube kaum, dass ich sie in nächster Zeit zum Laufen bekomme.«

»Wirklich schade. Ich würde alles geben, um dort unten zu wohnen. Ich würde in jeder freien Minute walken. Laufen Sie?« Mrs Crawford machte Small Talk, während sie die Formulare ausfüllte und sie Josie zum Unterschreiben hinüberschob.

»Ein bisschen. Hauptsächlich spiele ich Volleyball.« Josie kritzelte ihren Namen hin.

»Darauf hätte ich zuerst tippen sollen«, lachte Mrs Crawford. »Als Nächstes hätte ich Basketball vermutet.«

Josie unterschrieb das Formular, auf dem stand, wer im Notfall zu kontaktieren war, und gab es zurück, dankbar dafür, dass ihre Körpergröße kein längeres Gesprächsthema sein würde.

»Nun«, sagte die Direktorin und schichtete die Formulare aufeinander. »Das hätten wir. Und keine Sorge. Unser Fachbereich für Kunst ist sehr gut. Hannah wird bestimmt eine große Bereicherung für uns sein.«

»Danke.« Josie sah auf ihre Armbanduhr. Es gongte. Selbst im Büro der Direktoren hörte Josie das Donnern der zweitausend Schüler, die die Klassenräume wechselten. Für sie wurde es Zeit zu gehen. In einer Dreiviertelstunde hatte sie eine Anhörung im Gerichtsgebäude am Pier. Sie stand auf. »Also, gibt es noch etwas zu besprechen?«

»Nein.« Mrs Crawford erhob sich ebenfalls. »Ich bringe Hannah zu den Klassenzimmern. Ich habe dafür gesorgt, dass eine unserer Schülerinnen ihr in den nächsten paar Tagen zur Seite steht.«

»Danke.«

Josie schüttelte die Hand, die Mrs Crawford ihr hinhielt. Dann nahm sie ihre Tasche und sah zu Hannah hinüber. Hannah, die mit ihren eigenen Formularen fertig war, erwiderte Josies Blick mit ihren klaren, frühlingsgrünen Augen. Josie lächelte. Hannah war sogar noch schöner als an dem Tag, als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte. Der Nasenring war fort. Der Stift in der Zunge war fort. Wo man sie im Krankenhaus rasiert hatte, war das Haar nachgewachsen. Heute hatte sie sich einen himmelblauen Schal um den Kopf gebunden, das lange schwarze Haar fiel ihr lockig über die Schultern, und ihre dunkle Haut glänzte in dem Licht, das durch das große Fenster fiel. Und Hannahs Finger bewegten sich. Sanft berührten sie die Stuhllehne. Unwillkürlich zählte Josie die Bewegungen ihrer Finger – einmal, fünfmal, zehnmal, zwanzigmal. Die Ärzte nannten ihr Verhalten zwanghaft. Josie hatte eine andere Bezeichnung dafür: herzzerreißend. Es würde vorübergehen. Es wurde bereits besser. Hannah ritzte sich nicht mehr, und das war ein großer Schritt in die richtige Richtung. Josie musste nur bei dem Mädchen bleiben und ihm beistehen. Josie hatte sie schon einmal gerettet. Es wurde Zeit, die Sache zu Ende zu bringen. Josie kramte in ihrer Tasche, drehte sich wieder um und reichte der Direktorin ein Blatt Papier.

»Hören Sie, ich weiß, dass es viel verlangt ist, aber Hannah hat schreckliche Angst davor, verlassen oder vergessen zu werden. Für Notfälle ist hier eine Liste von Freunden, die Sie anrufen können. Die gehören so gut wie zur Familie. Falls ich jemals feststecke und nicht ans Telefon kann, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie jemanden von dieser Liste anrufen könnten. Eine dieser Personen wird sie dann abholen. Ich rede heute Abend mit Hannah und sage ihr, dass sie direkt zu Ihnen kommen soll, falls ich mich verspäten sollte.«

Mrs Crawford betrachtete die Liste und schob sie dann unter das Foto ihrer eigenen Familie. Sie würde nicht in Vergessenheit geraten.

»Das ist etwas, das ich Ihnen persönlich versprechen kann. Also.« Sie legte die Hände aneinander. »Dann gehen wir wohl beide besser an die Arbeit.«

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Hannah sah sich nicht um, als sie neben Mrs Crawford durch die jetzt stillen Gänge ging, doch Josie konnte den Blick nicht von dem Mädchen wenden. Am liebsten hätte sie Hannah begleitet, einfach um sicherzugehen, dass es ihr gut ging. Eine Mutter hätte das getan – wenn auch nicht Hannahs oder Josies Mutter. Aber Josie war keine Mutter. Sie hatte Hannah aufgenommen, weil sonst niemand da war. Der Entschluss hatte Josies Leben verändert, wenn sie auch nicht recht wusste, ob zum Besseren. Archer würde es eher als Verschlechterung bezeichnen, und Josie dachte darüber nach, als sie über den Campus ging, vor dem Überqueren der Straße nach rechts und links schaute und Jacke und Handtasche auf den Rücksitz ihres Jeep Wrangler warf. Sie schwang sich auf den Fahrersitz, und eine Sekunde später klingelte ihr Handy.

Sie blickte auf die Armbanduhr. Für einen Anruf vom Gericht wegen jener Anhörung war es noch zu früh, und der neue Mandant hatte ihre Handynummer nicht. Sie arbeitete als freie Mitarbeiterin für Faye, wurde also im Büro nicht erwartet. Burt war heute nicht im Restaurant. Billy Zuni? Der war hoffentlich in der Schule. Wer auch immer es war, es konnte nicht so wichtig sein. Das Handy klingelte weiter, während Josie die Ärmel hochkrempelte und nach hinten griff, um sich ihre Baseballkappe zu angeln.

»Ach, verdammt«, murmelte sie. Die Neugier gewann die Oberhand. Sie griff nach dem Handy und drückte den Knopf. »Bates.«

Weniger als eine Minute später jagte Josie mit quietschenden Reifen über die Straße auf dem Weg zur Autobahn, die sie in die Stadt zum Parker Center und zu der Arrestzelle bringen würde, wo Archer wegen Mordverdachts festgehalten wurde.