KAPITEL 27
DER MANN IM Zeugenstuhl war schon früher hier gewesen. Er wusste genau, was er sagen wollte. Und was er zu sagen hatte, alarmierte Josie über alle Maßen, als er seinen Namen zu Protokoll gab.
»Ich heiße Tom Ford und bin leitender Detective bei der Polizei von Los Angeles, Abteilung West.«
»Sind Sie dem Angeklagten schon früher begegnet?« Ruth deutete auf Archer.
»Der Angeklagte war Detective unter mir, bevor er in den Ruhestand ging.«
»Hatten Sie mit dem Angeklagten während seiner Dienstzeit irgendwelche Schwierigkeiten?«
»Bis etwa drei Monate vor seinem Ausscheiden war er ein ausgezeichneter Polizist. Ab da wurde er unberechenbar. Einige meiner Detectives weigerten sich, mit ihm zusammenzuarbeiten, solange er sich keiner Evaluierung unterzog.«
»Und hat eine solche Evaluierung stattgefunden?«, fragte Ruth.
»Der Angeklagte verweigerte ein Beratungsgespräch mit unserem Polizeipsychologen. Meines Wissens hielt er sich auch nicht an das Versprechen, sich privat Hilfe zu suchen.«
»Könnten Sie das Verhalten des Angeklagten während dieser Monate beschreiben?« Geistesabwesend zog Ruth ihre Hose hoch und schob das Gummiband zurecht.
»Sein Verhalten war allgemein zunehmend aggressiv. Er war aufbrausend, gereizt und unwirsch.«
»Gab es ein bestimmtes Verhalten, das in der Abteilung Besorgnis erregte?«
»Es kam zu einer Beschwerde wegen unnötig brutalen Vorgehens«, antwortete der Zeuge.
»Was genau wurde dem Angeklagten vorgeworfen?«
»Der Beklagte wurde vorgeladen, weil er bei der Verhaftung eines sechzehnjährigen Jungen übermäßige Gewalt angewandt hatte. Der Junge musste deshalb ins Krankenhaus«, antwortete der Detective.«
»War dieses Verhalten ungewöhnlich für den Beklagten?«
»Ja. Aber auch verständlich.«
»Inwiefern?«, fragte Ruth.
»Die Arbeitseinstellung des Beklagten stand im Zusammenhang mit der Krebsdiagnose seiner Frau.«
»Einspruch!«, rief Josie. »Unbewiesene Behauptung.«
Ruth nahm sich der Sache umgehend an und erläuterte den Verlauf von Lexis Erkrankung wie auch die Beschwerden gegenüber Archer. Es war eine kleine juristische Übung. Danach wandte sie sich wieder der eigentlichen Angelegenheit zu. »Wäre unter diesen Umständen Wut nicht etwas ganz Natürliches gewesen?«, fuhr sie fort.
»Einspruch!« Josie war aufgesprungen. »Dieser Mann ist kein Arzt. Er kann keine Diagnose stellen.«
»Stattgegeben. Führen Sie die Befragung fort, Ms Alcott«, ordnete der Richter an.
»Hat der Beklagte Ihnen je persönliche Einsicht in die Gründe für sein verändertes Verhalten gegeben?«
»Unterschiedlich. Mal leugnete er die Erkrankung seiner Frau, mal war er erzürnt darüber. Je weiter die Krankheit voranschritt, desto häufiger wurden seine Zornausbrüche. Er machte sich lautstark und immer öfter Luft.«
»Würden Sie das nicht von einem Mann erwarten, der mit dem Verlust seiner Frau rechnen muss?«
»Ja, nur dass der Zorn des Angeklagten zusätzlich dadurch verschlimmert wurde, dass seine Frau in seinen Augen zwar zutiefst besorgt um das Wohlergehen ihres Sohnes war, um seines, das ihres Ehemannes, dagegen überhaupt nicht. Seiner Meinung nach hätte sie sich Gedanken um ihn machen müssen, da schließlich er es war, der sie pflegte, die Rechnungen bezahlte und sie zum Arzt brachte.«
Josie warf Archer einen Seitenblick zu. Kerzengerade saß er da, die Zähne zusammengebissen, sodass sich der Muskelstrang an seiner Halsseite abzeichnete. Sie legte ihm die Hand aufs Knie, nicht aus Trost oder Loyalität, sondern um das Ausmaß seiner Erregung abzuschätzen. Es war jenseits von Gut und Böse.
»Sprach er oft über Geld?«, fragte Ruth.
»Ja. Er machte sich Sorgen wegen der Kosten, die anfallen würden.«
»Wurde der Beklagte am Ende wegen seines Verhaltens suspendiert?«
»Nein. Er wurde auf einen Schreibtischposten versetzt, war unzufrieden deswegen und nahm schließlich seinen Abschied. Ich glaube, seine Frau starb etwa drei oder vier Wochen später.«
»Dann hat der Beklagte seinen Polizeiposten also in der Woche von Tim Wrens Tod gekündigt, stimmt das?«
»Das stimmt.« Tom Ford antwortete, ohne zu Archer hinüberzuschauen.
Ruth nickte und dankte ihrem Zeugen.
Josie übernahm, ging um den Tisch herum und näherte sich dann rasch dem Zeugenstand. »Sir, sind Sie sich darüber im Klaren, dass die Frau des Angeklagten Sanitäterin und damit im Krankheitsfall finanziell durch die County-Versicherung abgedeckt war?«
»Ich wusste, dass sie Sanitäterin war.«
»Wieso hätte der Beklagte sich dann um Geld Gedanken machen sollen, wenn die Krankenversicherung seiner Frau sie doch gegen die Kosten durch schicksalhafte Erkrankungen absicherte?«
»Die Einzelheiten der Versicherungsleistungen waren mir nicht bekannt«, erwiderte der Chief.
»Wir werden die Versicherungspolice anfordern«, sagte Ruth mit einem Desinteresse, das Josie alarmierte.
»Würden Sie demnach darauf schließen, dass Sie die Einstellung des Angeklagten zu seiner finanziellen Situation nicht richtig einschätzen konnten?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, sicher nicht. Der Beklagte hat mir selbst erzählt, dass seine Frau eine experimentelle Behandlung für ihren Sohn wollte. Soweit ich weiß, war der Beklagte sehr besorgt, weil er für die Behandlung seiner Frau Zuzahlungen leisten musste und weitere Kosten für die experimentelle Behandlung des Jungen anfielen. Das Geld stellte ein sehr großes Problem dar. Da bin ich mir ganz sicher.«
Josie sammelte sich für die nächste Frage, ohne sie jedoch zu stellen. Irgendetwas war falsch. Der Gerichtssaal fühlte sich plötzlich seltsam an, als sei er aus dem Lot geraten. Es war, als stehe sie an Deck eines Schiffes und könne den Horizont nicht mehr sehen. Tausend Informationsfetzen wirbelten um sie herum wie eine Strömung, die sie in die falsche Richtung zog, ihr winziges Boot ergriff und es Zentimeter um Zentimeter vom Ufer wegtrieb, bis Josie mit einem Mal begriff, dass sie hilflos war. Sie hatte keine Ruder, um zum Ufer zurückzukehren. Das Ufer war nicht einmal in Sichtweite.
»Ms Bates? Ms Bates!«
Josie riss sich aus ihrer Trance. Sie kämpfte gegen den Drang, zu Archer hinüberzuschauen. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, was sie tun solle. Hier wurde das Bild eines egoistischen Mannes gezeichnet, eines Mannes, der sich nicht unter Kontrolle hatte, dem es um das Geld, nicht um Menschenleben ging, eines Mannes, der log, indem er Dinge ausließ oder verschwieg – selbst ihr gegenüber.
Archer erwiderte ihren Blick, nicht mit Antworten, sondern mit Forderungen. Sie wartete auf eine Reaktion von ihm, doch dann hörte sie stattdessen die Stimme ihres Vaters.
Du musst kämpfen.
Auch ihre Mutter war da.
Renn weg, bevor sie dich bei lebendigem Leib auffressen.
Sie verscheuchte den Geist ihrer Mutter und klammerte sich an den ihres Vaters. Sie war seine Tochter. Wenn sie Reißaus nahm, würde sie sich und das Ziel aus den Augen verlieren, und was vielleicht am schlimmsten war, sie würde Archer im Stich lassen.
»Entschuldigen Sie, Euer Ehren.« Josie räusperte sich und wandte sich dem Zeugen zu. »Sir, als Sie meinen Mandanten wieder auf seinen Posten zurückkehren ließen, waren Sie da der Meinung, dass er eine Gefahr für andere darstellte?«
»Nein«, erwiderte er. »Sonst hätte ich ihn vom Dienst freigestellt.«
»Wurde er wegen der übermäßigen Gewaltanwendung verurteilt?«, fragte Josie.
»Nein.«
»Danke«, murmelte Josie.
Damit zufrieden, ging sie an ihren Tisch zurück und setzte sich neben Archer. Als er sich zu ihr herüberbeugte und ihr zuflüsterte, er und Lexi hätten nur über jene Operation bei Tim gesprochen, er habe keine außergewöhnlichen Ausgaben übernommen, und seine Gereiztheit sei ganz normal gewesen, niemand könne ihm daraus einen Vorwurf machen, schnitt Josie ihm das Wort ab. Darüber würde sie später mit ihm sprechen.
Ruth Alcott rief gerade den Anwalt auf, der mit Lexis Vermögen befasst gewesen war.
Es war nicht viel, was er zu sagen hatte, aber das Wenige war unbestreitbar negativ. Lexi hatte nur eine winzige Lebensversicherung gehabt, aber sie hatte ein Mietshaus in Hermosa Beach besessen, und Tim, ihr Sohn, hätte es nach dem Tod seiner Mutter geerbt. Doch Tim war vor ihr gestorben, und offenbar war Archer bei dieser kleinen Immobilie der Nächste in der Erbfolge gewesen.
»Und womit konnte der Beklagte rechnen?«
»Für den Fall, dass er das Haus in Hermosa Beach behielt, mit beträchtlichen Einnahmen aus den Mietwohnungen, und im Fall eines Verkaufs mit etwa vier Millionen. Natürlich«, fügte der Zeuge hinzu, »ist der Marktwert der Immobilie seither gestiegen, weshalb sie heute eineinhalb Millionen mehr einbringen würde.«
»Nicht schlecht«, sagte Ruth grinsend, »für die Beseitigung eines zurückgebliebenen Jungen.«
»Euer Ehren, das ist unerhört!« Josie erhob zwar Einspruch, aber selbst sie musste sich eingestehen, dass ein so lukratives Motiv etwas für sich hatte. Sie gab den Staffelstab weiter, und Ruth rief Mr Hillerman, den Anwalt von Pacific Park, in den Zeugenstand.
Er war dabei gewesen, als Pacific Park Lexi einen Vergleich angeboten hatte. Sie hatte kein Geld gewollt, obwohl ihr Ehemann sie gedrängt hatte, in aller Ruhe darüber nachzudenken. Die Frau des Angeklagten war standhaft geblieben. Sie wollte lediglich, dass Pacific Park das Begräbnis ihres Sohnes bezahlte. Diesem Wunsch wurde auf die bestmögliche Weise entsprochen. Keinerlei Ausgaben wurden gescheut.
Als Letzter betrat Roger McEntyre den Zeugenstand. Der Tag, wie auch Ruths Vorstellung, neigte sich seinem Ende zu. Keuchend lag Josie im Ring und suchte nach einem Hoffnungsschimmer, um den Kampf an einem weiteren Tag fortsetzen zu können.
Roger McEntyre erzählte, während das Video von Tim Wrens tödlichem Unfall abgespielt wurde. Er beantwortete Fragen zu dem kürzlichen Angriff auf Eric Stevens. Roger berichtete, er habe befürchtet, dass der Angeklagte Eric auf die gleiche Weise umbringen würde … nun, schließlich war Eric noch ein Junge.
Josie hätte bei dieser Unterstellung und Falschdarstellung schreien können, doch als sie an die Reihe kam, blieb sie vollkommen sachlich. Eine lange Papierrolle in der Hand, ging sie auf McEntyre zu.
»Mr McEntyre, können Sie mir sagen, wieso es in Pacific Park Überwachungskameras gibt?« Josie war kühl, selbstbewusst und beeindruckte Roger McEntyre kein bisschen.
»Sie sind aus verschiedenen Gründen dort angebracht.«
»Nennen Sie mir zwei«, schlug Josie vor und versuchte, nicht an das Loch zu denken, das Ruth Alcott in sie hineingeboxt hatte.
»Die Kameras geben unseren Gästen ein Gefühl der Sicherheit. Falls es im Park Probleme gibt, liefern sie uns Aufzeichnungen.«
»Wie das Video des Unfalls, das wir gerade gesehen haben?«, fragte Josie.
»Ja«, antwortete Roger.
»Als Chef des Sicherheitsdienstes wissen Sie bestimmt, wo sich im Park die Kameras befinden.«
»Ja.«
»Außerdem wissen Sie sicherlich, wie viele Kameras auf jedes Fahrgeschäft gerichtet sind«, sagte Josie herausfordernd.
»Mehr oder weniger. Für genaue Informationen müsste ich in unseren letzten Wartungsunterlagen nachsehen. Der Park befindet sich in ständigem Wandel. Wir verändern laufend etwas. Kein Sicherheitssystem ist perfekt. Auch unser Kamerasystem nicht.«
»Mr McEntyre, als wir uns in Pacific Park unterhalten haben, sagten Sie mir, Sie hätten nur ein Video – das Video, das wir in diesem Gerichtssaal gesehen haben –, auf dem der Unfall am Shock & Drop aufgezeichnet wurde, bei dem Tim ums Leben kam.«
»Das ist richtig.« Roger nickte.
»Bleiben Sie bei dieser Aussage, Mr McEntyre?«
»Ja, ich habe nur ein Video des Unfalls von einer Kamera, die auf dieses Fahrgeschäft gerichtet war.«
»Wieso gibt es nicht mehr Aufzeichnungen, Mr McEntyre?«, fragte Josie.
»Weil das alles ist, was ich habe, Ms Bates.«
Josie entrollte den Ausdruck in ihrer Hand und segnete im Stillen Wilson Page, während sie das Papier vor Roger ausbreitete.
»Mr McEntyre, können Sie mir sagen, was das hier ist?«
»Das sind die Pläne der Elektrik im Park aus dem Jahr 2003.«
»Und würden Sie diese bitte für das Gericht genauer bezeichnen?« Josie deutete auf die Grafiken.
»Das ist der östliche Quadrant des Parkes, und die Markierungen kennzeichnen die Stellen, wo sich in diesem Bereich Kameras befinden.«
»Und diese spezielle Kamera, Mr McEntyre – können Sie mir sagen, was die aufgezeichnet hat?«
»Diese spezielle Kamera filmte das Geschehen vor dem Shock & Drop.«
»War darauf das Fahrgeschäft selbst zu sehen, insbesondere die untere Hälfte kurz vor der Stelle, an der die Fahrt langsamer wird?«
»Ich weiß es nicht.«
»Oder Sie wollen es uns nicht sagen«, bemerkte Josie und nahm die Pläne weg.
»Ich weiß es nicht«, sagte Roger mit ausdrucksloser Stimme. »Die Kamera wurde deinstalliert, als wir den Bereich für eine neue Attraktion umgestaltet haben. Wir haben den öffentlichen Bereich erweitert, weil das neue Fahrgeschäft kleiner war. Diese Kamera gibt es nicht mehr.«
»Aber am Tag von Tim Wrens Tod war sie in Betrieb, ist das korrekt, Mr McEntyre?«
»Meines Wissens ja.«
»Und wer sieht sich die Videoaufzeichnungen an, Sir?«, fragte Josie.
»Bei einer Situation, wie wir sie an jenem Tag hatten, normalerweise ich«, räumte Roger ein.
»Und Sie wollen mir weismachen, dass Sie sich nicht mehr erinnern, ob man auf diesem Video die untere Hälfte eines Fahrgeschäfts sehen konnte, in dem ein junger Mann gestorben ist?«
»Ich wusste nicht mehr, was auf dem ersten Band war, bevor ich es mir ein weiteres Mal angesehen habe.«
»Wieso haben Sie sich das zweite Band nicht noch einmal angesehen?«, wollte Josie wissen.
»Weil es kein Video mehr gibt, das man sich ansehen könnte, Ms Bates.«
Josies Puls beschleunigte sich. »Haben Sie dieses Band vernichtet, Mr McEntyre?«
Roger zögerte. Sein Schnurrbart zuckte, doch sein Blick blieb unbeirrt. »Ja.«
»Haben Sie dieses Band vernichtet, weil etwas, was darauf zu sehen war, meinen Mandanten entlasten würde?«, fragte sie in der irrwitzigen Hoffnung, die Sache damit zu beenden und einen Freispruch für Archer zu erwirken.
Roger McEntyre legte den Kopf schief. Seine dunklen Augen hielten ihren Blick fest. Sie glaubte, ein Lächeln zu erkennen. Josie hatte den vagen Eindruck, dass er mit ihr spielte. Als er ihre Frage schließlich beantwortete, war sie sich sicher.
»Ich habe es vernichtet, weil die Kamera im allgemeinen Bereich installiert war. Die übliche Verfahrensweise sieht vor, dass die Bänder neun Monate lang aufbewahrt werden. Nur die Videos, die zu den Fahrgeschäften gehören, werden mehrere Jahre lang aufgehoben. Ist Ihre Frage damit beantwortet, Ms Bates?«
»Ja«, murmelte sie entmutigt. »Ja, damit ist sie beantwortet.«
Roger McEntyre durfte gehen. Die verbleibenden Anwesenden im Gerichtssaal warteten stumm darauf, was der Richter von den vorgelegten Beweisen hielt. Lange mussten sie nicht warten. Der Richter sah Josie, dann Archer an und hielt eine einstudierte Rede mit durchschlagender Wirkung.
»Nach Ansicht des Gerichts gibt es hinreichende Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Anklage. Es wird angeordnet, dass der Angeklagte in hundertzehn Tagen zur Anklageverlesung vor Abteilung 1 erscheint. Die Verhandlung wird vertagt.«
Spärliche Worte, doch damit war es vorbei. Archer, dem jetzt ein Mordprozess bevorstand, blickte sich nicht nach Josie um, als man ihn abführte. Sie rief ihm nichts nach. Ruth packte ihre Sachen zusammen und verließ den Gerichtssaal, ohne mit irgendjemandem ein Wort zu wechseln, mit zufriedener Miene und nachdem sie ihren Hosenbund ein weiteres Mal über den breiten Hüften hatte schnalzen lassen. Einige Zuschauer blieben stehen, blickten zu Josie hinüber und schienen sich zu fragen, warum sie der Sache nicht eine spektakuläre Wendung hatte geben können. War das nicht immerhin die Anwältin, die vor nicht allzu langer Zeit dieses Mädchen auf so eindrucksvolle Weise verteidigt hatte? Die hätte ihren Biss eigentlich nicht so schnell verlieren dürfen, oder? Man hätte eine bessere Show erwarten können, nicht wahr?
Josie war sich dieser Gedanken bewusst wie auch der Blicke in ihrem Rücken, als sie langsam ihre Unterlagen einpackte. Sie sah zu dem großen Amtssiegel des Staates Florida hinüber, das über dem Richtertisch hing, doch es tröstete sie nicht. Als es schließlich still war und sie hinter sich niemanden mehr wahrnahm, ergriff Josie ihre Aktentasche, um aufzubrechen, doch dann merkte sie, dass sie gar nicht allein war.
Ganz hinten saß Colin Wren. Das Licht spiegelte sich in seinen Brillengläsern, seine Haare waren ordentlich gekämmt, sein Anzug frisch gebügelt, und er regte sich nicht, nicht einmal, als Josie durch die Schranke trat. Die kleine Tür schwang hin und her und warf ihr Echo durch den fast leeren Sitzungssaal. Josie stoppte sie mit der Hand und schritt durch den Mittelgang. Sie erwog, ihn anzusprechen. Gern hätte sie ihm gesagt, dass noch ein langer Weg vor ihnen lag und er nicht den Mut verlieren solle, doch Colin kam ihr zuvor. Er stand auf. Er trat in den Mittelgang und sorgte dabei dafür, dass Josie ihm ins Gesicht sehen musste. Dann drehte er sich um und ließ sie allein.
»Himmelherrgott noch mal.« Jude nahm sein Handy und schloss die Faust darum, als wollte er es zerquetschen. Sieben Monate, Hunderte von Arbeitsstunden, ganz zu schweigen davon, dass er selbst Colin Wrens Prozess gegen Pacific Park für eine todsichere Sache gehalten hatte, und jetzt das.
Er biss sich auf die Unterlippe und kurvte um einen Kombi herum, in dem ein gefühltes Dutzend Kinder saß, nahm die Abzweigung acht Stundenkilometer schneller als erlaubt und hielt vor Wilsons Haus, ohne sich darum zu scheren, dass der Mercedes zu drei Vierteln im verbotenen Bereich neben einem Hydranten stand. Wilson Pages Wohnviertel stand auf der Prioritätenliste der Politessen nicht besonders weit oben, und bei der Niederlage, die Jude gerade eingesteckt hatte, war ein Strafzettel seine geringste Sorge.
Er ließ sein Jackett auf dem Beifahrersitz liegen, knallte die Autotür hinter sich zu und wünschte sich auf dem Weg zu Wilsons Haus, er hätte diesen Termin nicht vereinbart. Bei Rückschlägen zog Jude die Gesellschaft einer willigen, geistreichen Frau der von Wilson vor, aber sei’s drum. Jetzt war er nun mal hier. Jude klopfte zweimal heftig an und trat ein, bevor Wilson Gelegenheit hatte, ihn hereinzubitten.
»Jude!«, begrüßte Wilson ihn fröhlich von seinem riesigen Computerbildschirm aus.
»Wir machen mit Colins Sache nicht mehr weiter, Wilson. Vergiss das Ganze. Und zwar komplett.« Jude ging in dem kleinen Raum auf und ab. »Colin hat gerade angerufen. Er zieht die Klage gegen Pacific Park zurück. Er sagt, es ist ihm egal, ob Josie das Ruder noch herumreißen kann, weil er jetzt die Wahrheit kennt. Nach Colins Meinung ist Archer schuldig.«
Verdrossen steckte Jude die Schlüssel ein und ließ sich auf das Sofa sinken. Es war die falsche Seite. Er sackte in die Vertiefung, die Wilson verursacht hatte, als er noch weniger ausladend gewesen war und auf einem Sofa sitzen konnte. Das war er – der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Fuchsteufelswild stemmte Jude sich hoch, marschierte an Wilson vorbei und sagte: »Es hätte keinen Sinn, jetzt zu arbeiten. Reine Zeitverschwendung. Ich rufe an, falls sich etwas Neues ergibt.« Jude war an der Tür. Er legte die Hand auf die Türklinke und blickte Wilson an, als er sie herunterdrückte. Er sah das Mitgefühl im Gesicht des Mannes, seine bedingungslose Ergebenheit und seine Bedürftigkeit, und mit einem Mal ärgerte sich Jude Getts maßlos darüber. »Verdammt noch mal, Wilson, kauf dir endlich ein neues Sofa, okay?«