KAPITEL 33

SÜDKALIFORNIEN WAR WIEDER da. Wie trockenes Laub in Des Moines wurde der Herbst aus den Köpfen gefegt. Bis mindestens Weihnachten würde es nur Sonne, Sonne, Sonne geben. Die Batterien wurden wieder aufgeladen. Die Leute hatten Schwung und bewegten sich schneller, Ideen blitzten auf wie die Stoßstange an einem Porsche, Kinder schwänzten die Schule, Männer bandelten mit jüngeren Frauen an, Ehefrauen ließen sich die Nägel machen und trockneten sie in der Sonne. Und durch das Tor von Pacific Park strömten die Menschen und sorgten für erfreulich gute Besucherzahlen. Zwar nicht spektakulär, aber wirklich gut.

Isaac berichtete Greater United Parks davon. Außerdem berichtete er, dass man Archer demnächst wegen Mordes an Timothy Wren vor Gericht stellen würde, obwohl das bereits durch sämtliche Medien gegangen war. Er informierte sie, Colin Wren sei dabei, die Klage gegen Pacific Park zu überdenken. Glücklicherweise werde Pacific Park von jedem Verdacht reingewaschen werden. Und es werde keinen Vergleich wegen des jungen Mr Wren geben. Bei Greater United Parks, wo das alles bereits durch einen gewissen Vizepräsidenten bekannt war, war man hocherfreut über die Bestätigung, und damit war, was die Übernahme anging, alles in bester Ordnung.

»Es ist wie ein Wunder, Roger. Ich dachte, sie würden sich daran stören, dass die Besucherzahlen nicht ganz so gut waren, aber sie sind zufrieden. Geradezu beeindruckt …«

Isaac blieb stehen und unterbrach sich. Rogers Geistesabwesenheit war ganz untypisch für ihn, und Isaac war ein wenig besorgt, bis Roger von dem Telefonmemo aufsah, das er gerade las.

»Ja, Isaac.« Roger räusperte sich und lächelte unter seinem dichten Schnauzbart. Glückliche Momente wie diesen gab es für den Alten nur selten und vereinzelt. Roger faltete die Nachricht zusammen und steckte sie in die Tasche. Das konnte warten, bis sie hier fertig waren.

»Weißt du, Roger, beinahe hätte ich aufgegeben. Beinahe.« Isaac hob mahnend den Finger, als wollte er Roger davor warnen, je in Selbstzweifeln zu versinken. »Ich dachte, der Park würde den Weg von so vielen anderen gehen. Wie der Pike. Erinnerst du dich noch an den alten Pike

Isaac kam um Rogers Schreibtisch herum, setzte sich auf einen Stuhl, der daneben stand, und machte es sich zu einem Schwatz gemütlich.

»Das war vielleicht ein Park. Nicht wie der neue, den es jetzt dort gibt. Weißt du, Long Beach war damals noch ein großer Hafen. Die jungen Matrosen fuhren Achterbahn und bandelten mit Mädchen an und ließen sich die ersten Tätowierungen machen. Der Pike war ein prächtiger Park. Das hier ist auch ein prächtiger Park, und heute ist ein prächtiger Tag. Habe ich dir schon die restlichen Neuigkeiten erzählt, Roger? Unsere Versicherung wird reaktiviert, und der Kostenvoranschlag für den Rotator entsprach dem, was ich erwartet hatte. Kein Penny mehr. Ich kenne meine Fahrgeschäfte, Roger. Keiner kann mir etwas anderes nachsagen. Was für ein schöner Tag das heute war. Ja, Roger, alles wird gut. Ich kann in Frieden ruhen. Mein Lebenswerk wird fortbestehen. Was dein Vater erreicht hat, wird fortbestehen.«

Isaac ließ den Blick schweifen und redete und redete. Das war typisch für alte Männer. Ein Gedanke führte zum nächsten und dann wieder zu einem anderen und am Ende immer zu etwas Tristem: einem lange verstorbenen Freund, einem Konkurrenten, der pleite gemacht hatte. Einsamkeit.

»Ich glaube nicht, dass das hier infrage stand«, versicherte ihm Roger, und Isaac fuhr zusammen. Er schien die Gegenwart des Jüngeren vergessen zu haben. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er blickte Roger freundlich und dankbar an.

»Du bist ein guter Junge, mich hinters Licht führen zu wollen, aber mir war klar, dass wir in Schwierigkeiten steckten. Mit deiner Fürsorge bist du für mich wie mein leiblicher Sohn.« Bei der Erwähnung des Sohnes, der vor langer Zeit gestorben war, traten Tränen in Isaacs Augen, aber heute verschwanden sie rasch wieder, und Isaacs Gesicht gewann seine Fröhlichkeit zurück. »Und du sollst wissen, dass für dich ebenfalls vorgesorgt ist. In den Vertrag wird eine Klausel kommen, nach der du deinen Posten behältst, solange du willst – es sei denn natürlich, du tust etwas Schlechtes. Und Aktienanteile, Roger. Die teile ich auf. Ach, du wirst es schon sehen. Du wirst schon sehen, was ich mir überlegt habe.«

Wieder hob er den Finger. Roger hätte um ein Haar aufgelacht. Das hier war, als sei er wieder ein Kind.

Iss nicht zu viel Zuckerwatte.

Vorsichtig. Achte auf deinen Vordermann.

Vertrau nur Menschen, die du kennst, Roger. Wie zum Beispiel deinem Vater.

Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Roger lächelte über den mahnenden Finger. Er wusste, dass die Frage nach Gut und Böse eine subjektive war. Roger war der Meinung, nichts Böses getan zu haben, und selbst diese Sache heute, dieses letzte kleine Detail, würde sich möglicherweise ohne einen Gesetzesverstoß regeln lassen. Es hing ganz von dem Anruf ab, der ihm noch bevorstand, von dieser Frau, mit der er noch reden musste. Roger half Isaac sanft, zum Ende zu kommen, damit er sich um seine Aufgaben kümmern konnte.

»Ich glaube, ich werde noch eine ganze Weile hier arbeiten«, versicherte ihm Roger. »Und für Sie auf den Park aufpassen – versprochen.«

»So selbstsicher, Roger? Aber du bist noch jung. Warum solltest du nicht der King sein?«, kicherte Isaac. »Aber heute sind wir beide die Kings, also kommst du zu mir zum Abendessen und erzählst mir von all den verrückten Dingen, die die neuen Eigentümer planen. In dieser Hinsicht mache ich mir keine Illusionen. Aber ich werde den Park so im Gedächtnis behalten, wie er heute ist.« Isaac tippte sich an den Kopf, dann an die Brust und zwinkerte Roger zu. »Komm, Roger, lass uns durch den Park gehen. Nichts macht einen alten Mann glücklicher als eine ordentliche Menschenmenge an einem sonnigen Tag. Wir werden Achterbahn fahren wie früher, als du noch klein warst.«

»Nein, nein.« Roger winkte ab. »Wenn Sie wollen, dass das Geschäft mit Greater United Parks zustande kommt, habe ich noch einiges an Arbeit vor mir.«

»Arbeit! Ich bin hier immer noch der Chef. Und ich sage, dass du dir eine Stunde Pause gönnen kannst«, sagte Isaac herzlich.

»Also gut. Geben Sie mir zehn Minuten. Wir treffen uns an der Achterbahn.« Roger setze sich nicht lange zur Wehr. Was spielte es schon für eine Rolle, ob aus einer Stunde zwei wurden? Es würde Isaac glücklich machen und gab Roger Zeit zum Nachdenken. Der nächste Schachzug wollte gründlich überdacht werden. Möglicherweise würde es ein simpler Telefonanruf sein. Oder etwas so Heikles wie …

Als seine Bürotür zufiel, kehrte Roger in die Gegenwart zurück. Er zog das Memo aus der Hosentasche. Dummerweise war es über die Zentrale hereingekommen, aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer, die neben der kurzen Mitteilung stand. Es klingelte dreimal, bevor jemand abnahm.

»Hallo? Spricht da Mrs Tronowski?«

Unter Rogers Schnurrbart zuckte ein Lächeln auf. Er hatte den Jackpot geknackt. Die Dame des Hauses war selbst ans Telefon gegangen.

Er brauchte nur ein paar Minuten, um sie davon zu überzeugen, dass er alles im Griff hatte. Ja, sagte er, er habe mit dem fraglichen Herrn geredet. Der Herr habe ihn ebenfalls angerufen, und sie solle sich keine Sorgen machen, denn Roger werde sich um alles kümmern. Danke, Mrs Tronowski, dass Sie sich vergewissert haben. Diese Information wird für den betreffenden Herrn von großer Bedeutung sein.

Zehn Minuten später stand Roger mit Isaac an der Achterbahn namens Perilous Peak. Die Begeisterung des Alten war ansteckend, bei Roger bewirkte sie einen merkwürdigen, unterdrückten Leichtsinn, die Art von Gefühl, wie er es vor einer geheimen Operation hatte. Viel zu lange hatte er diese Entschlossenheit nicht mehr gespürt, diese Begierde, eine heikle Aufgabe zum Ende zu bringen. Schon seltsam, wie eine Kleinigkeit, eine kleine, unerwartete Information, ein kurzes Gespräch, einen auf einen Weg schicken konnte, von dem man geglaubt hatte, man würde ihn nie wieder einschlagen.

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»Und vereinbarungsgemäß werden Sie davon absehen, den Namen …«

Verärgert blickte Jude zur Tür und zu seiner Sekretärin, die dort stand und darauf wartete, dass er sein Diktat beendete.

»Was?« Es sah Jude gar nicht ähnlich, so kurz angebunden zu sein, aber sie war eine ausgezeichnete Sekretärin und nahm es ihm nicht krumm.

»Wilson Page ist auf Leitung 2. Er sagt, er muss Sie sprechen. Auf der Webseite gibt es sehr viel Aktivität, und er will Ihnen etwas ganz Bestimmtes zeigen.«

»Scheiße.«

Jude stützte den Kopf in die Hände und dachte nach. Er wollte Wilson nicht helfen, weil der im Grunde gar keine Hilfe brauchte. Jude hatte ihn bereits angewiesen, mit den Recherchen zu Pacific Park aufzuhören, die er für Colin durchgeführt hatte. Im Grunde brauchte Wilson nur jemanden zum Reden, und zwar, weil Wilson kein richtiges Leben hatte. Er hatte keine Freunde, außer Jude, und Jude hatte er nur, weil dieser abergläubisch war.

Als sie sich kennengelernt hatten, war Jude von Wilson so abgestoßen gewesen wie die meisten Menschen. Doch dann war Jude eines Tages etwas klar geworden. Er hatte begriffen, dass es ebenso gut ihn oder jeden anderen erfolgreichen Menschen auf der Welt hätte erwischen können. Das gleiche launische Schicksal, das Jude Getts reich, gut aussehend und überlegen hatte werden lassen, hatte Wilson klug, grotesk und bedürftig gemacht. Wilson war Judes Fliege. Jude wusste, wenn man eine Fliege nur tötet, weil sie eine Fliege ist, dann kommt sie in ihrem nächsten Leben als Lehrer zurück, der einen nicht ausstehen kann, als Frau, die einen ausnutzt, als Chef, der mit einem Schlitten fährt, als Mandant, der einen ruiniert.

Also vermied Jude alles, was Wilson schadete, und im Lauf der Zeit war er dahintergekommen, wie wenig nötig war, sich mitfühlend zu verhalten – jedenfalls an den meisten Tagen. Der heutige Tag gehörte nicht dazu. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und seufzte tief auf.

»Haben Sie ihm gesagt, dass ich hier bin?«

»Nein, ich habe ihm gesagt, ich wüsste nicht genau, ob Sie schon nach Hause gegangen sind.«

Jude errötete. Es war ihm zuwider, wenn jemand für ihn lügen musste.

»Sagen Sie ihm, dass ich heute Abend einen Mandanten treffe«, wies Jude sie an. Er brauchte ein bisschen Zeit für den Arbeitsberg auf seinem Schreibtisch.

»Dann ruft er bei Ihnen zu Hause an. Oder auf dem Handy«, erinnerte sie ihn.

»Ja. Ja.« Jude entließ sie. Jeder wusste, dass er zu den wenigen Leuten gehörte, die von Wilson angerufen wurden, und wenn Wilson einmal entschieden hatte, dass man »telefonwürdig« war, dann nutzte er diesen Kommunikationskanal ausgiebig.

Die Tür schloss sich, und es war wieder still im Büro. Jude nahm sein Diktiergerät zur Hand, vergaß jedoch, was er hatte sagen wollen, als er sich wieder auf den Stuhl sinken ließ und sich zu der hinter ihm liegenden Glaswand umdrehte. Ihm gingen ein paar Gedanken durch den Kopf, aber keiner davon hatte mit seiner derzeitigen Aufgabe zu tun.

Als Erstes betrachtete er die Pflanzen hinter der Scheibe und überlegte, wann der Typ von Gerrys Dschungel hier gewesen war. Es wäre nett gewesen, ihn dort winken zu sehen.

Danach fragte Jude sich, wieso er nicht einfach anrief und Klartext redete. Er war müde und gestresst. Wilson hatte heute nicht das Pensum absolviert, das Jude bereits erledigt hatte: mit einem halben Dutzend Mandanten gesprochen, sich mit Büropolitik beschäftigt, zwei Gerichtstermine absolviert und ein Abendessen mit einer umwerfenden Frau absagen müssen. Das Anstrengendste, was Wilson den ganzen Tag getan hatte, war, auf die Toilette zu gehen und auf seiner Computertastatur zu tippen.

Zuletzt erwog Jude, Josie anzurufen. Sie war es doch, die immer noch Wilsons Hilfe brauchte. Also konnte sie sich ein paar Stunden mit ihm abgeben, falls er es wirklich nötig hatte. Josie machte schließlich nicht das große Geld, sie betreute nicht so viele Mandanten wie er und hatte auch nicht so viele Verpflichtungen. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihn zurückzurufen, obwohl er ihr doch nur helfen wollte – selbst wenn er ihr im Moment nur moralische Unterstützung geben konnte.

Jude Getts drehte sich wieder zu seinem Schreibtisch zurück, schaltete das Diktiergerät ein und diktierte weiter an einem Brief, der die Auswirkungen aufzeigen sollte, wenn Colin Wren seine Zivilklage jetzt zurückzog. Jude drückte sich unmissverständlich aus: Falls Colin dies tat und Archer freigesprochen wurde, würde Colin leer ausgehen.

Doch Jude würde nicht kampflos dabei zusehen. Gegenüber der Aufgabe, diesen Mandanten wieder auf Spur zu bringen, trat alles andere in den Hintergrund. Sogar Wilson.

Eine Stunde später schloss Jude Getts, der sich nicht konzentrieren konnte und von abergläubischen Schuldgefühlen und zunehmender Gereiztheit geplagt wurde, sein Büro ab, stieg in seinen Wagen und fuhr zu Wilson Pages Haus.

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Im Greenwood Home hatte sich nichts verändert. Die Leute waren immer noch behindert und fuhren in Rollstühlen herum, die davon angetrieben wurden, dass sie durch Schläuche atmeten. Es wurde mittels elektronischer Hilfsmittel kommuniziert; man machte unendlich lange Nickerchen in Betten, die sich durch Knopfdruck verstellen ließen. Manche Leute wussten gar nicht, wo sie sich befanden; andere waren entsetzt darüber, immer noch hier zu sein.

Diesmal fühlte Josie sich in Greenwood etwas wohler. Da war weder offenes Mitgefühl noch Neugier, sondern nur die lästige Pflicht, die sie erneut hierhergeführt hatte, sowie Barbara Vendy, eine Angestellte, die keine besondere Lust hatte, sich noch einmal mit Tim Wren auseinanderzusetzen.

»Es tut mir leid, dass ich noch einmal Ihre Geduld in Anspruch nehmen muss, aber ich habe Tims Patientenakte nicht gefunden, also muss sie bei Ihnen sein. Ich muss unbedingt wissen, welche Medikamente er bekam. In den verbliebenen Unterlagen wurde das doch sicherlich irgendwo festgehalten …«

»Hören Sie, Ms Bates, ich habe überall nachgesehen, und sie ist nicht hier. Tims Mutter muss die Akte entsorgt haben, nachdem sie sie erhalten hatte. Nach seinem Tod gab es ja keinen Grund mehr, sie aufzuheben, und offen gestanden verstehe ich nicht, wieso das mein Problem sein soll.«

»Ist es auch nicht. Es ist mein Problem. Aber wenn ich keine zuverlässigen Informationen über die medikamentöse Behandlung von Timothy Wren bekomme, kann es passieren, dass mein Mandant zu Unrecht für den Mord an diesem Jungen verurteilt wird. Ich könnte damit nicht leben – Sie etwa?«

Barbara war zwar genervt, weil Josie ihr am Ende ihres Arbeitstags mit einem Problem kam, das sie nicht lösen konnte, doch bei diesem Satz gab sie nach. Sie zog einen Papierstoß zu sich heran und blätterte darin. »Ich habe mir alle Unterlagen zu Tim heraussuchen lassen, auch diejenigen, in denen er nur am Rande erwähnt wurde. Ich finde hier nur nichts über eine Medikation.«

»Was ist mit anderen Ärzten?«, bohrte Josie. »Gibt es irgendwo einen Hinweis darauf, dass er privat behandelt wurde? In diesem Fall hätte der betreffende Arzt seine Ergebnisse doch an Ihren behandelnden Arzt weitergegeben.«

»Nein, nein und nein. Es tut mir leid.« Rasch blätterte sie weiter. »Hier sind allgemeine Ernährungsrichtlinien; hier ein paar Aufzeichnungen über seine Physiotherapie. Kaum zu glauben, dass wir die aufgehoben haben. Zu seinem Gesundheitszustand haben wir gar nichts, nur eine Unterschrift seiner Mutter wegen einer Verletzung, die er sich etwa vier Monate vor seinem Unfall zugezogen hat.«

»Kann ich die mal sehen?«

Josie streckte die Hand aus, und Barbara Vendy schob das Blatt über den Schreibtisch. Josie überflog es. Tim Wren war schnell gerannt, gegen eine Wand geprallt und hatte das Bewusstsein verloren. Er hatte keine Gehirnerschütterung gehabt, war jedoch vierundzwanzig Stunden beobachtet worden. Man hatte ihn teilweise fixiert. Die Unterschrift war eng und unleserlich und neigte sich von der Linie nach unten.

»Sind Sie sicher, dass das Lexis Unterschrift ist?«, fragte Josie, aber Barbara unterbrach sie.

Ihre Stimme hatte sich verändert. Statt Ungeduld hörte Josie einen Missklang heraus. »Wir haben Lexis abschließende Anforderung der Patientenakte, und …« Barbara blätterte zurück, sah genauer hin und murmelte bei sich: »Herrgott, gute Bürokräfte zu finden ist wirklich schwer. Das Datum auf diesem Brief liegt fünf Tage vor Tims Tod. Ist das zu glauben? Schaut denn heutzutage niemand mehr in den Kalender?«

»Sind Sie sicher, dass das Datum nicht stimmt?«, fragte Josie und ließ die Frage nach der Unterschrift fallen.

»Es muss falsch sein«, antwortete Barbara. »Wenn Tim noch hier gewesen wäre, hätten wir ihr doch eine Kopie der Patientenakte geschickt und nicht das Original. Aber hier steht, dass die Originalunterlagen verschickt wurden.«

»Wie läuft eine solche Anforderung normalerweise ab? Könnte es sein, dass Lexi telefonisch darum gebeten hat?«, forschte Josie.

Barbara schüttelte den Kopf und warf die Papiere auf den Schreibtisch. Sie stand auf und schob die Hände in die Bauchtasche ihres Kittels. »Das wäre möglich, aber dann gäbe es einen Vermerk in der medizinischen Verwaltung. Aus Haftungsgründen müssten wir ihn mindestens sieben Jahre aufheben. Warten Sie hier. Ich sehe mal nach, was ich finden kann.«

Barbara brauchte zwölf Minuten, doch als sie zurückkehrte, hatte sie noch mehr Unterlagen dabei.

»Okay, hier ist es. Das Datum stimmt überein.« Sie reichte Josie eine Kopie des Briefes. »Lexi hat die Unterlagen schriftlich beantragt, und das Datum auf dem Brief liegt fünf Tage vor dem Tod ihres Sohnes. Hier ist eine Kopie des Vermerks, dass der Antrag bewilligt wurde. Es gibt zwei Möglichkeiten. Das Mädchen, das den Vermerk unterschrieben hat, war damals neu und ist nur ein paar Monate geblieben, dann mussten wir sie entlassen. Vielleicht hat sie aus Unachtsamkeit ein falsches Datum in den Vermerk geschrieben und statt einer Kopie die Originale geschickt.«

»Haben Sie den Umschlag noch, in dem der Antrag gekommen ist? Wir könnten das Datum des Poststempels überprüfen«, fragte Josie hoffnungsvoll.

»Da fragen Sie wirklich nach einem Wunder«, erwiderte Barbara spöttisch.

»Okay, was ist der andere Fehler, der gemacht worden sein könnte?«, forschte Josie.

»Vielleicht war es ja Lexis Schuld. Ich meine, sehen Sie sich die Schrift an. Sie ist ungleichmäßig. Schwach. Vielleicht hat sie den Antrag nach Tims Tod gestellt und das falsche Datum darauf geschrieben, und unsere Bürokraft hat es einfach übernommen. In beiden Fällen war es ein Fehler unserer Verwaltung, für den ich mich entschuldige.«

»Sind Sie sicher?«, murmelte Josie.

»So sicher man sich bei so etwas sein kann.« Barbara zuckte mit den Schultern. »Es ist ja niemand mehr da, den wir noch fragen könnten.«

»Haben Sie eine Adresse des Mädchens, das hier gearbeitet hat? Eine, an die sie ihr den letzten Scheck geschickt haben?«, fragte Josie.

»Tut mir leid. Sie arbeitete damals auf Probe, deswegen war an ihrem letzten Tag alles bezahlt. Es gab keine Sozialleistungen zu berücksichtigen. Sie haben jetzt also alles.« Barbara setzte sich wieder an den Schreibtisch und nahm ihren Kugelschreiber. »Ich habe sonst nichts, was ich Ihnen geben könnte. Ansonsten kann ich Ihnen nur noch vorschlagen, Ihren Mandanten zu fragen.«

»Er hatte bei Tims Behandlung kein Mitspracherecht«, versicherte ihr Josie.

»Aber er weiß vielleicht noch, zu welchen Ärzten Lexi mit Tim gegangen ist. Vielleicht hat sie es einmal erwähnt, oder er hat ein Gespräch mit angehört. Solche Ärzte könnten noch Unterlagen haben, falls sie nicht über Tims Tod benachrichtigt wurden.«

»Gute Idee. Mal sehen, was mir noch einfällt«, sagte Josie und stand auf.

»Sie haben doch bestimmt einen Internetzugang«, schlug Barbara als Letztes vor.

»Natürlich.«

»Sie könnten im Netz recherchieren. Suchen Sie nach experimentellen Behandlungen bei degenerativen Muskelerkrankungen, nach allem, was mit geistiger Entwicklungsverzögerung zu tun hat. Falls es zu Tims Lebzeiten in Südkalifornien Medikamentenstudien gab, hat Lexi garantiert versucht, da reinzukommen.«

»Danke. Das werde ich tun.« Josie hielt die Anforderung der Patientenakte hoch. »Kann ich die behalten?«

»Es ist eine Kopie«, sagte Barbara.

»Wunderbar. Noch mal danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

Barbara nickte, doch bevor Josie gehen konnte, fiel ihr noch etwas ein. »Heute Nachmittag ist Carol Schmidt hier. Vielleicht weiß sie ja noch, zu welchen Ärzten Tim ging.«

Josie spürte, wie ihre Lippen zuckten und ihr flau im Magen wurde. Doch die Miene, die sie Barbara Vendy zeigte, war gefasst. »Nein, ich glaube nicht, dass sie mir etwas zu sagen hätte.«

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In Colin Wrens Haus war es sehr still. Licht und Heizung waren heruntergeregelt. Der Kühlschrank war gefüllt. Er war ein Mann weniger Bedürfnisse, hing jedoch an den Dingen, die er als absolute Notwendigkeit betrachtete. Eine dieser Notwendigkeiten war es, für begangene Sünden zu büßen. Die Lektion hatte er zwar erst spät im Leben gelernt, doch immerhin hatte er sie gelernt. Als die Einsamkeit chronisch geworden war, als Schuldgefühle es ihm unmöglich machten, neue Beziehungen einzugehen, hatte Colin Wren begriffen, wie wichtig es für die Psyche ist, begangenes Unrecht wiedergutzumachen. Das Unrecht, das mit Tims Leben und Tod verbunden war, quälte Colin, weil es mit all dem anderen Unrecht verwoben war, das ihm geschehen war. Lexi und ihre Arroganz, dieser Mann, den sie geheiratet hatte, das einsame Leben, dem sie Colin überlassen hatte. Seltsam, wie leicht er das Vorhaben, Pacific Park büßen zu lassen, aufgeben konnte, als ihm klar wurde, dass Archer für so vieles verantwortlich war. Und zwar nicht nur für Tims Tod, sondern auch für Colins verkümmertes Leben. Ja, Archer und seine machohafte Geringschätzung beleidigten Tims Andenken. Colin konnte nicht schlafen, ohne von Archer zu träumen. Er verfluchte das lange, mühselige Gerichtsverfahren. Bei der Voruntersuchung war genug ans Licht gekommen, um Archer gleich zweimal zu verurteilen, aber trotzdem spielten alle das Spiel mit.

Colin Wren dachte also gerade über Tim und den Mann nach, der ihn hätte beschützen sollen, als das Telefon klingelte. Ein aufgeregter Wilson Page war auf der Suche nach Jude Getts. Colins Lachen klang trocken und humorlos. Beinahe hätte er aufgelegt, aber ein paar der gekeuchten Worte des Dicken ließen Colin aufhorchen. Als er versprach, Jude ausfindig zu machen, war das gelogen. In Wahrheit wollte Colin genau wissen, was Wilson herausgefunden hatte, bevor er irgendjemanden anrief – insbesondere Jude Getts.