KAPITEL 12
»KANN ICH AUFSTEHEN?«
Hannah fragte Josie um Erlaubnis, Josie sah Archer an, und Archer nahm von keiner der beiden Notiz. Es war ein verkrampftes Abendessen gewesen, und nach den Gesichtern von Archer und Hannah zu schließen, würde ein Nein es nicht angenehmer machen.
»Natürlich. Geh nur.«
»Sie sollte Geschirr spülen. Wenigstens den Tisch könnte sie abräumen«, maulte Archer, sobald Hannah fort war. Es war eine kleinliche, spießige Bemerkung, die Josie in Harnisch brachte.
»Die Frage, wer den Tisch abräumt, steht im Moment nicht besonders weit oben auf meiner Prioritätenliste, Archer.« Josie fingerte an ihrem Weinglas herum, nahm es schließlich und trank es aus. Um Geduld bemüht, lächelte sie Archer schmallippig an. »Fühlst du dich besser?«
»Das Aspirin hilft gegen die Schwellung.« Ein Achselzucken begleitete Archers Antwort. »Die Arbeit wird mich ablenken. Ich habe mit ein paar Freunden telefoniert. Sie besorgen mir den Bericht über die Festnahme und außerdem Tims Unfallbericht. Ich muss meine Erinnerungen an jenen Tag auffrischen. Es ist lange her, und ich …«
»Okay, Archer.« Josie schob das Weinglas weg und verschränkte die Unterarme auf dem Tisch. »Hast du nicht schon genug Unheil angerichtet, als du zu Roger McEntyre gefahren bist? Was hast du damit bezweckt? Ihn zu verfolgen, Herrgott noch mal. Er hätte dich anzeigen können.«
»Hat er aber nicht«, entgegnete Archer scharf, dann gab er widerwillig nach. »Hör zu, es tut mir leid. Es war blöd von mir. Es kam einfach über mich. Ich habe vor seinem Büro auf ihn gewartet, wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte, und bevor mir etwas eingefallen ist, war er schon weg. Dann bin ich ihm eben hinterhergefahren … Und …«
Während sie mit halbem Ohr zuhörte, wie Archer sein Verhalten rechtfertigte, griff Josie nach der Weinflasche und schenkte sich nach, obwohl Alkohol das Letzte war, was sie brauchte. Archer blieb beim Bier und drehte die Flasche hin und her, als wollte er ein Loch in den Tisch bohren. Hannah stand zurzeit eher auf Wasser als auf Essen. Wenn das alles vorbei war, würde Josie mit ihr darüber sprechen müssen. Fürs Erste redete sie mit Archer, ohne sich darum zu kümmern, dass sie ihn mitten im Satz unterbrach. Wenn sie ihn jetzt nicht zügelte, schaffte das niemand mehr.
»Warum hat Lexi nicht vor dem Zivilgericht geklagt, Archer?«
»Wozu denn?« Eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten war eine gute Methode, um Zeit zu schinden – ein Trick von Leuten, die etwas zu verbergen hatten –, und Josie erstickte den Versuch im Keim.
»Werd jetzt nicht philosophisch«, entgegnete sie. »Ihr beide kanntet doch haufenweise Anwälte, die euch bei einem Zivilprozess vertreten hätten. Warum habt ihr nicht einen von denen eingeschaltet?«
Archer nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche. Der Kühlschrank summte und knackte. Max schnarchte friedlich vor sich hin und jaulte einmal kurz auf, wohl wegen eines besonders intensiven Traumes. Draußen waren Stimmen zu hören. Archer legte den Kopf schief und schien darauf zu warten, dass die Leute vorbeigingen, bevor er sich Josie anvertraute. Josie wartete. Beide wussten, dass sie nur so taten, als würden sie sich unterhalten; beiden war klar, dass es sich um ein Verhör handelte.
»Wozu hätte sie sich von einem Anwalt aussaugen lassen sollen, wo doch der Krebs das schon bestens erledigte?«
Es war eine gute Frage, und Archer merkte gar nicht, wie Josie bei seiner abfälligen Bemerkung zusammenzuckte. Eigentlich nahm er gar keine Notiz von ihr. Er dachte über Lexi nach, über Entscheidungen und den Tod.
»Nein, Josie, zweierlei stand ja schon fest: Lexi würde tot sein, und ich würde keinerlei Rechte haben. Tim war nicht mein Sohn. Kein Anwalt hätte sich mit einem solchen Fall abgegeben. Beantwortet das deine Frage?«
Archer sah zu ihr hinüber. In dem düsteren Licht wirkte sein zerschlagenes Gesicht heimtückisch. Josie fragte sich, was sie wohl zu hören bekommen würde, wenn sie das Schweigen nicht brach. Es waren Archers Spekulationen.
»Ist es das, was die behaupten, Jo? Dass ich Tim umgebracht hätte, um mal richtig abzusahnen?« Archer ließ den Nacken kreisen. Er stieß einen Laut aus, in dem Lachen, Stöhnen und Ungläubigkeit lagen, alles gleichzeitig. »Scheiße, das wäre ein idiotisches Motiv.«
Sein angewiderter Seufzer verklang, bis Josie ihn kaum noch hörte. Sie senkte den Blick. Archer griff wieder nach der Bierflasche, sah, dass sie leer war, und ließ sie zwischen zwei Fingern baumeln. Die Küchenuhr tickte. Aus Hannahs Zimmer drang Musik – irgendetwas Düsteres. Die Bässe hörten sich an wie der ungleichmäßige Herzschlag des Hauses.
»Weißt du, Jo, vielleicht war Tims Unfall ja ein Segen. Nach seinem Tod konnte Lexi sich dem eigenen Sterben stellen.« Archer legte die große Hand über die Augen und fuhr sich über das Gesicht, als könnte er mit dieser Geste die Vergangenheit besser bewältigen. »Wenn Lexi sich um Tim hätte sorgen müssen, dann hätte sie gar nicht mehr so lange gelebt. Sie hat ihre Kraft für sich selbst gebraucht. Vielleicht war es gar nicht schlimm, dass er gestorben ist. Unterm Strich jedenfalls.«
Josie drehte sich der Magen um. Ganz gleich, wie viel Archer Lexi bedeutet hatte – Tims Tod als Segen zu bezeichnen, und sei es auch nur Josie gegenüber, war zumindest unvorsichtig und konnte im schlimmsten Fall verhängnisvoll sein.
Abrupt stieß sie den Stuhl zurück und stand auf. Sie sammelte das Geschirr ein und sah dabei weg, um ihr Misstrauen zu verbergen. Als sie in der Küche waren, ließ Josie Wasser in das Spülbecken und sagte: »Sag so was nie wieder, Archer. Weder zu mir noch sonst zu irgendjemand.«
Josie spülte das Geschirr und stellte es zum Trocknen beiseite, doch mittendrin hielt sie inne. Sie umfasste den Rand des Spülbeckens mit beiden Händen, ließ den Kopf hängen und die Schultern sinken. Dieses Video fühlte sich an wie ein Mühlstein an ihrem Hals, und Archers Bemerkungen zogen den Strick noch enger zu.
Plötzlich schlangen sich Archers Arme um ihre Taille, und er zog sie an sich. Josie wusste nicht recht, ob sie das wollte, aber sie wusste auch, dass sie ihm nicht widerstehen konnte. Instinktiv lehnte sie sich an ihn und legte ihre Hände auf seine. Es fühlte sich immer noch so gut an.
»Alles wird gut.« Archer küsste die kleine Stelle hinter ihrem Ohr. Seine Brust hob und senkte sich an ihrem Rücken. Archer war so gelassen, wie nur ein Unschuldiger es sein konnte. Seine Lippen glitten zu ihrer Schläfe, dann zurück zu dem weichen Flaum neben ihrem Ohr. »Sobald wir wissen, was der Staatsanwalt in der Hinterhand hat, klopfe ich bei sämtlichen Leuten an, die mir noch einen Gefallen schulden. Ich schaffe diese Sache aus der Welt. Versprochen, Jo.«
Josie drehte sich um und legte ihre Hände flach auf seine Brust. Das genügte, er trat einen Schritt zurück. Josie hatte kein einfaches Leben gehabt; Archer war ebenfalls ein paarmal durch die Hölle gegangen, und deswegen glaubte sie nicht daran, dass alles wieder gut wurde, nur weil Archer das sagte. So lief es nicht im Leben. Nicht bei Menschen wie ihnen.
»Spar dir das mit den Gefallen, Archer. Du wirst nicht ermitteln.«
»Das halte ich für unklug, Josie«, sagte Archer ruhig. »Das ist mein Beruf. Ich mache keinen Blödsinn mehr, versprochen. Keine Verfolgungsjagden mehr, keine Streitereien. Direkte Fragen, Jo. Legale Ermittlungsarbeit.«
Josie entzog sich ihm. Verwirrt ging ihr Archer ins Wohnzimmer nach. Sie griff nach ihrer Handtasche und presste sie an sich, bevor sie das Video herauszog.
»Du kannst nichts finden, was sie nicht schon haben. Der Staatsanwalt will nicht, dass du die Zeugen einschüchterst, und wenn McEntyre möchte, kann er uns mit einer Anzeige wegen Belästigung eine Menge Ärger einbrocken. Herrgott, Archer, hättest du mit dieser Nummer nicht warten können, bis ich wieder da bin? Dann hätte ich dir sagen können, wie gefährlich es ist, Zeugen nachzustellen.«
»Verdammt, Jo, was denn für Zeugen? Von welchem Verbrechen? Es gab kein Verbrechen.« Erregt warf Archer die Hände in die Luft. Die Ruhepause war dahin. Die Seilbrücke schwankte unter ihren Füßen, und nur Josie bemerkte, dass sie sich bereits aufzulösen begann.
»Es gibt eine Zeugenliste, Archer.« Josie bückte sich und schob das Video in den Rekorder. Ihre Finger hielten kurz über dem Knopf inne, bevor sie ihn drückte. »Du steckst viel tiefer in der Klemme, als dir bewusst ist.«
Der Film begann. Der Schein des Fernsehers beleuchtete Josies Gesicht, aber nicht die Ecke, in der Archer stand und zusah. Langsam kam er näher. Jetzt stand er so dicht hinter ihr, dass sie sich an ihn hätte lehnen können. Sie hörte, wie er den Atem anhielt, als er Lexi sah. Und dann noch einmal, als Tim von dem Fahrgeschäft stürzte.
»Noch mal von vorn«, flüsterte Archer, als es vorbei war.
»Archer, du musst nicht …«
»Noch mal von vorn, habe ich gesagt. Ich will es noch mal sehen«, verlangte er.
Josie spielte das Video ein zweites Mal ab. Diesmal schaute sie nicht hin. Stattdessen sah sie nach hinten, zu Archer hin.
Seine Augen glitzerten; stocksteif stand er da. Seine Lippen bewegten sich kaum, als er schließlich sprach. »Diesen Mist wollen sie gegen mich verwenden?«
»Der Angestellte sagt, dass du es warst, der Tim den Gurt angelegt hat.« Josie sah zu ihm hoch. »Ist das wahr, Archer?«
»Ja. Das stimmt. Und wenn sich jemand die Mühe gemacht und mich gefragt hätte, dann hätte ich ihm sagen können, dass Tim stark wie ein Ochse und ziemlich groß für sein Alter war. Manchmal war er kampflustig und ungeduldig, und wenn er um sich schlug, war das gefährlich. Einem Jungen wie Tim kann man nicht trauen. Ich habe richtig gehandelt, und du erzählst mir, dass ich den verdammten Gurt sabotiert haben soll?«
Josie stand auf, sodass sie mit ihm auf Augenhöhe war. »Beruhige dich«, befahl sie. »Erst mal muss ich mit ihm reden. Zum Glück wird er leicht zu finden sein, er arbeitet nämlich immer noch im Pacific Park. So viel habe ich zumindest aus Ruth Alcott herausbekommen.«
»Schön, wir werden eine ganze Menge mehr von diesen kleinen Mistkerl er…«
Archer unterbrach sich mitten im Satz. Josie schaute ihn fragend an, dann spürte sie es ebenfalls. Da war etwas in dem dunklen Zimmer. Sie waren nicht allein. Beide drehten sich um, und sie entdeckten Hannah. Der geisterhafte Schatten eines Mädchens, dessen Gegenwart in ihre Privatsphäre eindrang und deren Existenz sie völlig vergessen hatten. Zorn und Misstrauen lagen in dem Blick, mit dem sie Archer musterte. Als sie zu Josie herüberschaute, kamen außerdem Neugier und etwas Fragendes hinzu.
»Ich brauche Hilfe bei meinen Englischhausaufgaben.« Die Bitte schloss Archer nicht ein.
»Okay.« Geschäftig nahm Josie das Video aus dem Rekorder, stand auf und schaltete die Lampe neben der Couch ein. Wie viel hatte Hannah wohl gesehen?
»Ich gehe.« Archer zögerte, als er neben Josie vorbeikam. »Und ich werde mithelfen. Mein Leben, mein Prozess, Süße.«
»Nein, Archer. Dein Leben, mein Prozess«, erwiderte Josie gleichmütig. Beim nächsten Satz bezog sie Hannah mit ein. Sie waren eine Familie – oder wollten zumindest eine sein. »Du kannst helfen, indem du Hannah morgen zur Schule fährst. Du kannst den Informationen nachgehen, die der Staatsanwalt mir liefert. Ansonsten wirst du den Ball flach halten.«
Archer schaute zu Hannah, dann wieder zu Josie. Er war sichtlich unzufrieden, aber es war deutlich zu erkennen, dass er sich nicht in Gegenwart des Mädchens herumstreiten würde, das ihm die Zeit stahl. Sie gehörte nicht zu ihnen, und Archer würde nie zulassen, dass sie dazugehörte.
»Okay.« Das Wort kam widerwillig über seine geschwollene Lippe. »Ich hole sie um halb acht ab.«
Die Tür fiel hinter ihm zu. Wirklich allein waren Josie und Hannah nicht, denn Archer war eigentlich nicht fort. Seine Feindseligkeit und Bitterkeit befanden sich immer noch im Raum.
»Es ist nicht deine Schuld, Hannah. Es ist die ganze Situation«, erklärte Josie, ohne dass eine von ihnen es glaubte.
Hannah schlüpfte aus dem Haus. Josie folgte ihr und blieb am Tor stehen, als sie sah, dass Hannah fünfzig Meter weiter vorn Archer eingeholt hatte. Das gelbe Licht der Straßenlaternen fiel auf die Gesichter der beiden. Hannah hielt Archer am Arm fest und blickte zu ihm hoch. Der Wind blies ihr die langen Locken ins Gesicht, und sie schob sie mit ihrer anderen Hand beiseite. Sie waren zu weit entfernt, als dass Josie Hannahs Worte hätte verstehen können, aber Archer hörte ihr zu. Schließlich drehte Hannah um, und Archer setzte wortlos seinen Weg fort.
Dankbarkeit stieg in Josie auf, als Hannah auf sie zuschlenderte, ohne auf Josies neugierigen Blick zu reagieren. Sie trommelte mit den Fingern auf die Kante der niedrigen Mauer, die Josie um das Haus gebaut hatte. Zwanzig Mal tippte sie darauf, während sie vor sich hin zählte in dem Glauben, sie sei allein, bis sie Josie bemerkte und abrupt stehen blieb. Sie sahen einander an. Josie lächelte.
»Danke für das, was du zu Archer gesagt hast«, sagte Josie.
Hannah tippte mit einem Finger gegen die verputzte Wand. Sie hielt den Kopf auf die aufreizende Weise, mit der sie Erwachsenen zu verstehen gab, dass ihnen ihre nächsten Worte wahrscheinlich nicht gefallen würden. Aber Josie konnte die Zeichen nicht deuten. Dafür war die Mutterschaft noch zu neu für sie.
»Ich habe ihm nur gesagt, dass er mich morgen nicht abholen muss. Ich gehe zu Fuß in die Schule.« Eine winzige Pause entstand, bevor sie den Satz auf die grausame Weise beendete, die nur Jugendliche beherrschen. »Ich will nicht zusammen mit ihm im Auto sitzen. Womöglich hat er ja doch ein Kind umgebracht, das sich nicht wehren konnte.«
Hannahs Mundwinkel zuckten, ihre Augen waren unergründlich. Als sie lange genug gewartet hatte und von Josies Verwirrung genervt war, ging sie an Josie vorbei. Der Duft der Jugend umwehte sie, und mit einem Mal kam Josie sich alt vor, doch ohne sich dabei weise zu fühlen. An der Haustür drehte Hannah sich um und gab Josie ein weiteres Mal die Gelegenheit, eine Entschuldigung oder Erklärung von ihr zu fordern. Als nichts kam, stemmte Hannah herausfordernd die Hand an die Hüfte und testete mit ihrer nächsten Frage, ob Josie in die Luft gehen und Archer Hannah vorziehen würde.
»Hilfst du mir trotzdem bei den Hausaufgaben?«