KAPITEL 30

DIE AUSGESTRECKTEN BEINE über Kreuz, den Kopf gegen die Wand gelehnt, saß Josie auf einem der wenigen Stühle in Dr. Chows Wartezimmer. Trotz ihrer Müdigkeit war sie unfähig, sich zu entspannen, während sie auf die Ergebnisse von Timothy Wrens Autopsie warteten. In den letzten paar Wochen nach ihrem späten Anruf bei Jude hatte sie kaum geschlafen.

Wie erwartet, hatte er keine Einwände erhoben, nachdem sie ihm einen Vergleich in Aussicht gestellt hatte. Colin Wren zu überzeugen war schon schwieriger gewesen. Immerhin hatte er die Beweise gegen Archer gehört, das Video gesehen und Archer bei einem Wutanfall in Aktion gesehen. Colin wollte nicht, dass die Leiche seines Sohnes exhumiert wurde, damit die Verteidigung eine aus der Not geborene Theorie beweisen konnte. Tim sollte in Frieden ruhen. Das war der schmale Spalt in Colins Bollwerk, durch den Jude zu ihm durchgedrungen war. Tim, so hatte er gesagt, würde niemals in Frieden ruhen können, wenn es auch nur die kleinste Möglichkeit gab, dass sie einem Unrecht mit einem neuen Unrecht begegneten.

Colin hatte geschimpft und gezetert und eine Tirade gegen Archer vom Stapel gelassen, wie Jude sie noch nie gehört hatte. Jude hatte geduldig zugehört, weil es ihm nur um eins ging: die Einwilligung zur Exhumierung. Nachdem Colin sich verausgabt hatte, hatte er sie schließlich gegeben.

Der Antrag war gestellt und bewilligt worden, und die Räder der Bürokratie hatten sich in Gang gesetzt, bevor Colin seine Meinung ändern konnte. Auf dem Friedhof hatte Josie abseits gestanden, an einen Baum gelehnt, die Hände in den Jackentaschen, während die Baggerschaufel sich in den harten Boden grub. Es war ein kalter Tag gewesen. Der Himmel über Los Angeles war klar, aber über den Bergen hatten sich Gewitterwolken zusammengeballt. Ein scharfer Wind blies die Blätter von den Bäumen und wirbelte sie über das Gras. In der Ferne schmückte die Familie ein Kindergrab mit Ballons und Teddybären. Josie hatte sie beobachtet, fasziniert von so viel Hingabe. Sie schienen beinahe zu glauben, mit ihrem Geistkind spielen zu können, wenn sie den Ort möglichst kindlich wirken ließen.

Dann hatte die Schaufel des Baggers sich in das Erdreich gegraben und Josies Aufmerksamkeit zu dem Geschehen vor ihr zurückgelenkt. Tims letzte Ruhestätte war mit einer flachen Bronzetafel versehen, auf der sein Name und sein Geburts- und Sterbedatum eingraviert waren. Weiter nichts. Gequält. Wütend. Behindert. Opfer. Das waren keine Wörter, die man in die Ewigkeit trägt.

Seit seinem Tod war niemand an seinem Grab gewesen: Archer nicht, weil ihn nichts mit dem Jungen verband, und Colin nicht, weil er angeblich keine Ahnung gehabt hatte, dass sein Sohn tot war. Josie blickte zu ihm hinüber und überlegte, ob sie ihm glaubte und ob es überhaupt noch eine Rolle spielte. Für Colin schien diese Mär durchaus noch wichtig zu sein. Josie dagegen wurde von ihr daran erinnert, dass Archer eine Frau namens Lexi gehabt hatte und dass sie ebenfalls tot war. Ihr Grab, das neben dem ihres Sohnes lag, erzählte mehr von Archers Ergebenheit als von Lexis Leben. Der Grabstein war schlicht, aber teuer und geschmackvoll. Zwei Wörter waren in den Marmor eingraviert.

Geliebte Ehefrau.

Immer wieder schweifte Josies Blick zu diesen Worten, die sie zu verhöhnen schienen. Wenn sie mit dem Sterben an die Reihe kam, würde es keine Gravur auf dem Grabstein geben. Eine Tochter war sie nicht. Ihre Mutter war verschwunden, ihr Vater war tot. Auch Mutter war sie nicht. Das Kind bei ihr zu Hause hatte sie gerettet und nicht zur Welt gebracht. Sie war weder Ehefrau noch Geliebte. Sie war eine moderne Frau, die Archer auf moderne Art liebte. Zwischen ihnen gab es keine gesetzlichen Bande, nur tiefen, beständigen Respekt und eine Liebe, die von dem Bewusstsein gemäßigt wurde, dass jeder von ihnen gehen könnte, wenn er wollte. Das reichte nicht, um sich die Bezeichnung »geliebt« zu verdienen, und sie war sich nicht einmal sicher, ob sie beide sich immer noch …

»Es dürfte nicht mehr lange dauern.«

Jude stellte sich neben sie. Er trug einen Mantel, viel zu übertrieben für Südkalifornien, aber so war Jude eben. Es war ein Versuch, wiedergutzumachen, was er zu ihr gesagt hatte, als Colin die Klage gegen Pacific Park zurückgezogen hatte. Jude erkundigte sich nach Archer. Wie war es gelaufen, als sie ihm von ihrer Theorie erzählt hatte? Josie hatte mit den Achseln gezuckt. Wie sollte es schon laufen, wenn der Liebste einem in Sträflingskleidung gegenübersaß? Wie sollte es laufen, wenn alle Hoffnungen auf Spekulationen beruhten? Beim derzeitigen Stand der Dinge war Archer wütend, er war unfreundlich, und er bekam zunehmend Schwierigkeiten im Gefängnis, seit er der allgemeinen Abteilung zugewiesen worden war.

Josie beantwortete Judes Frage mit einem unverbindlichen »gut«. Etwas Besseres brachte sie nicht zustande. Alles andere war zu kompliziert.

Danach hatten Jude und Josie einander nichts mehr zu sagen gehabt und deshalb zugesehen, wie Colin immer näher an Tims Grab heranging, so nah, dass der Baggerfahrer die Arbeit einstellte, bis Colin ein Stück zurücktrat. Lange blieb er nicht weg. Es war fast, als rechnete er damit, Tim zu sehen, und Josie fand es ein bisschen krank, seinen Wunschtraum so auf die Spitze zu treiben.

Aber das alles war schon mehrere Tage her, und jetzt fuhr Josie zusammen, als jemand sie am Fuß anstieß. Die Gegenwart war kein bisschen angenehmer als der Tag auf dem Friedhof. Josie sah Jude misstrauisch an, als er sich auf den Stuhl neben ihr gleiten ließ, so nah, dass ihre Schultern sich berührten.

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass der Arzt jetzt so weit ist?«

Colin wollte die Klage gegen Pacific Park nicht wieder aufrollen, auch dann nicht, falls Josie mit ihrer Theorie recht hatte.

»Das war die Nachricht, die ich bekommen hatte«, sagte sie. »Ich habe Ihrer Sekretärin gesagt, dass Sie nicht herzukommen brauchen. Ich hätte Sie schon angerufen und Ihnen mitgeteilt, was dabei herausgekommen ist.«

»Soll das ein Witz sein?« Jude setzte sich aufrechter hin. »Colin steht kurz vor dem Durchdrehen. Ich hoffe wirklich, wir gehen damit vor Gericht, sonst werfen wir nur noch mehr Geld und Arbeitszeit aus dem Fenster.«

»Schön, Jude. Fast hätte ich vergessen, wie unterschiedlich wir die Dinge sehen.« Josie kreuzte die Arme über der Brust und schloss die Augen, um Jude nicht ansehen zu müssen. Im Wartezimmer eines Gerichtsmediziners wirkte alles an Jude übertrieben; ein Übermaß von allem, was das Leben zu bieten hatte, an einem Ort, wo der Tod einem alles nahm. Sie musste geseufzt haben.

Er begriff. »Tut mir leid«, sagte er, und Josie spürte, wie er sich neben ihr entspannte. »Dieser Ort hier verursacht mir Gänsehaut. Ich arbeite nicht ohne Grund in der Finanzbranche.«

Jude tappte ein paarmal mit der Schuhspitze auf den Boden, dann beugte er sich vor, stützte die Unterarme auf die Knie und musterte seinen Mandanten. Josie öffnete die Augen und sah ebenfalls hin. Colin lehnte draußen neben der Tür. Josie und Jude konnten ihn durch das tief in die Mauer eingelassene große Fenster sehen.

»Er war gar nicht glücklich über diese Idee von Ihnen«, murmelte Jude.

»Eigentlich sollte man doch glauben, dass er erfahren will, was hinter Tims Tod steckt, selbst wenn dabei herauskommt, dass keiner schuld war«, überlegte sie.

»Sie kapieren es immer noch nicht. Es geht ihm nicht nur um den Tod seines Sohnes, es sind die ganzen Jahre, in denen er von Tims Leben ausgeschlossen war.«

»Damit hatte Archer nichts zu tun.«

»Und was ist mit Lexi?«, fragte Jude.

»Davon werden Sie mich nie überzeugen können.« Josie streckte die Beine aus. »Die eine Sache, die wir über Lexi mit Sicherheit wissen, ist, dass sie Tim absolut ergeben war. Als Archer nicht einspringen wollte, hätte sie allen Grund gehabt, den Bruch mit Colin zu kitten. Sie wollte nicht sterben, ohne dass Tim versorgt war, und ihr Exmann wäre immerhin besser als nichts gewesen. Meiner Meinung nach hat er ihr einen Korb gegeben und klargestellt, dass er nicht interessiert sei. Ich traue dem Kerl nicht über den Weg, und wenn er sich jetzt zurechtfantasiert, was alles hätte sein können, hat er Pech gehabt.«

Jude legte den Kopf schief. »Haben Sie noch nie gehört, wie nachtragend Frauen sein können?«

»Und haben Sie noch nie gehört, dass die meisten Männer in puncto Verantwortung Arschlöcher sind?«

»Eine gewagte Feststellung«, konterte Jude.

»Aber sie trifft den Nagel auf den Kopf, oder haben Sie noch nie die Scheidungsstatistiken gesehen?« Josie machte eine abfällige Geste, dann lachte sie und legte die Hand an die Stirn. »Oh Gott, nicht zu fassen, dass ich das gesagt habe. Es tut mir leid. Wir können uns hier streiten, bis wir schwarz werden. Unterm Strich geht es einfach darum, dass ich niemanden mag, der hier auftaucht, die Hand aufhält und dem es egal ist, was man ihm hineinlegt.«

Jude ließ den Blick auf seinem Mandanten ruhen. »Ich weiß nicht. So sehe ich ihn nicht. Ich glaube, Colin befindet sich in einem frühen Stadium echter Trauer, und das ist der Grund, warum ihre Theorie ihm so wehtut.«

»Ich weiß nicht, wieso sie ihm mehr ausmachen sollte als die Annahme, dass Archer Tim auf dem Gewissen hat oder dass ein technisches Problem am Shock & Drop schuld ist. Tim ist so oder so tot. Was spielt es schon für eine Rolle, ob er vor dem Sturz gestorben ist?«

Josie erwärmte sich langsam für ihr Thema. Sie rutschte auf dem Stuhl nach vorn und versuchte noch einmal, Jude für ihre These zu begeistern.

»Schauen Sie, Jude, ich habe mir das Video hundert Mal angesehen, und auf mich wirkt es so, als wären Tims Augen geschlossen gewesen und sein Körper vollkommen schlaff, als er hinuntergefallen ist. Es ist ohne Weiteres möglich, dass er einen Krampfanfall oder ein Blutgerinnsel hatte, etwas, das ihn in der Sekunde umbrachte, bevor er wieder ins Bild kam. Bei einem Blutgerinnsel kann es ganz schnell vorbei sein.« Josie schnippte mit den Fingern. »Archer hat gespürt, dass etwas nicht stimmte, zu Tim hinübergegriffen und irgendwie den Verschluss geöffnet. Entscheidend ist: Falls Tim Wren schon tot war, bevor der Verschluss aufging, wäre es juristisch gesehen nicht einmal dann Mord, wenn Archer ihn von der Plattform heruntergerissen und zu Boden geschleudert hätte.«

»Und wenn der Arzt diese Theorie bestätigt?«, fragte Jude. »Dann wird Colin der Einzige sein, der leidet. Dann kann er niemandem mehr die Schuld geben und hat nur noch den ganzen Schmerz, ohne etwas dafür zu bekommen.«

»Vielleicht ist Wut ja alles, was dieser Mann hat, und Tim ist nur die Ausrede, um sie herauszulassen«, sagte Josie und betrachtete Colin Wren finster. »Außerdem können Sie argumentieren, dass der Angestellte einen Fehler gemacht hat. Gemessen an Tims Aussehen und Verhalten hätte man ihn in diesem Fahrgeschäft nicht mitfahren lassen dürfen. Colin wird trotzdem kassieren.«

Jude legte Josie die Hand auf die Schulter und stand müde von seinem Platz auf, ohne zu widersprechen. Josie hatte ihre feste Meinung über diesen Mann, aber Jude hatte Mitgefühl mit ihm, wie er da so alleine draußen stand. Er bückte sich und flüsterte ihr zu: »Seien Sie nicht so hart, Josie. Manche Leute brauchen ein bisschen länger als andere, um sich über die Gefühle für ihre Kinder klar zu werden. Nur die wenigsten Eltern sind Ungeheuer. Andererseits sind aber auch nur wenige Heilige darunter.«

Jude schlenderte nach draußen. Er sagte ein paar Worte zu Colin, der einen Schritt zurücktrat. Er wollte keinen Freund. Josie beobachtete die beiden, hatte dabei aber nur Augen für Jude. Seine Worte hatten sie tief getroffen. Was hätte sie getan, wenn ihre Mutter zurückgekehrt wäre, um sie zu holen? Wäre sie ihr in die Arme gefallen, hätte sie ihre Entschuldigungen aufgesogen, ihr ihre Reue abgenommen und ihr vergeben? Womöglich würde sie wollen, dass ihre Mutter büßte, einfach nur, weil sonst niemand da war, um die Rechnung zu bezahlen.

Zum Teufel damit.

Ihre Mutter würde nicht zurückkommen, die Frage stellte sich also nicht.

Zum Teufel mit ihm.

Josie schüttelte den Anflug von Mitgefühl mit Colin Wren ab, für den verloren geglaubten Vater, den Mann, der nach dem Tod seines Sohnes für ihn eintrat, um wiedergutzumachen, dass er ihn früher im Stich gelassen hatte.

Josie stand auf und strich sich die Hose glatt. Tim Wren war ein Opfer, das noch etwas mitzuteilen hatte. Gerade als sie das dachte, öffnete der Mann, der die Sprache der Toten dolmetschen konnte, die Tür und lächelte sie an.

Dr. Chow, der unabhängige Gerichtsmediziner, war so weit.