KAPITEL 23

GEMESSEN AN DEN üblichen Standards, hätte sich Josie Bates nicht als besonders mildtätige Person bezeichnet. Sie sammelte in der Vorweihnachtszeit keine Kinderspielsachen. Sie betete nicht für den Weltfrieden. Sie ging nicht mit Frauen essen, die für alles sammelten, was vier Beine oder zwei Flossen hatte. Sie hatte sich noch nie für einen freiwilligen Pflegedienst gemeldet.

Ja, sie hatte Hannah aufgenommen, doch das war in ihren Augen weniger karitativ als vielmehr eine Notwendigkeit, die auf der Hand lag. Es war eine fest umrissene Aufgabe: Essen, Kleidung und Unterricht für Hannah, die Möglichkeit, sich zu entwickeln, damit sie anschließend die Verantwortung für sich selbst übernehmen konnte. Aber Mildtätigkeit? Im Sinne von Selbstlosigkeit angesichts von existenziellen Bedürfnissen anderer Menschen? Das war dann doch etwas ganz anderes. Völlige Hilflosigkeit, Schwäche, das alles waren Dinge, die Josie nicht gut aushielt, weil sie dem Gegenüber einen gottgleichen Anstrich gaben. Niemand, wirklich niemand war so gut.

Vielleicht war das der Grund, weshalb Josie sich kurz Zeit nahm, um Mrs Schmidt in Zimmer 21 in Augenschein zu nehmen. Sie suchte nach Anhaltspunkten dafür, dass die Frau nicht ganz so perfekt war, wie es aussah. Josie hätte sie gern bei einer Entgleisung ertappt, einen Bruch in ihrem Verhalten gesehen, der bewiesen hätte, dass diese Frau genauso unvollkommen war wie neunundneunzig Prozent der Bevölkerung. Doch sie bemerkte nichts dergleichen. Mrs Schmidt war mit übermenschlicher Geduld, Freundlichkeit und guter Laune ausgestattet. Zu allem Übermaß sah sie auch noch blendend aus.

Mrs Schmidt war eine gertenschlanke, damenhafte Frau. Ihre Kleidung war schlicht und elegant. Ihr fein geschnittenes Gesicht wurde von honigblondem Haar umrahmt. Ihre Hände bewegten sich anmutig, und ihre Stimme war sanft. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass der Mann im Bett auf ihre liebevollen Worte nicht reagierte, dass er nicht schluckte, was sie so gewissenhaft mit dem Löffel in seinen fast reglosen Mund beförderte, und dass er sie nicht ansah.

Im Angesicht dieser wirklich barmherzigen Seele klopfte Josie erst, als Mrs Schmidt ihrem Ehemann das aus dem Mund laufende Essen von Lippen und Kinn gewischt hatte.

»Mrs Schmidt?«

»Ja?« Sie stellte die Schale auf den Schoß. Ihre großen braunen Augen musterten Josie direkt. Ihr Rücken war gerade, ihre Miene heiter und gelassen.

»Mein Name ist Josie Baylor-Bates, und ich …«

»Und Sie sind hier, weil Sie mit mir über Tim und Lexi sprechen möchten«, beendete die Frau den Satz für sie und unterstrich ihn mit einem leichten Lachen. Sie stellte die Schüssel beiseite und schob den Nachttisch weg. »Nate hat mir schon von Ihnen erzählt. Er kümmert sich um uns alle. Er weiß, wie wenig Familienmitglieder Überraschungen mögen.«

»Ich wollte nicht stören. Ich kann gerne warten, bis Sie fertig sind.« Josie betrachtete den Mann im Bett. Aber nicht lange, denn Nate hatte recht gehabt. Für Leute, die nicht hierher gehörten, gab es hier keinen angenehmen Ort.

»Schon in Ordnung. Ich bin eigentlich schon fertig.«

Sie beugte sich über ihren Mann und löste die Serviette von seiner Brust. Rasch, aber ohne Eile faltete sie sie zusammen, murmelte ein paar Worte, legte ihrem Mann die Hand auf den Kopf und küsste ihn auf die Wange.

»Das ist mein Ehemann James. Er ist seit einem Autounfall vor zehn Jahren in diesem Zustand. Ich besuche ihn jeden Abend und esse mit ihm – nur für den Fall.«

»Für den Fall, dass es eine Änderung gibt?«, fragte Josie, verzweifelt um den angemessenen Small Talk bemüht.

Mrs Schmidts sanfte Augen richteten sich auf Josie. Ihr Lächeln glich dem von Sofia Loren.

»Nein, denn es wird keine Änderung geben«, sagte sie unverblümt und setzte sich neben Josie. »Ich komme jeden Tag hierher, um mir meine Karmapunkte abzuholen. James hat immer gesagt, dass man etwas für schlechte Zeiten zurücklegen sollte. Er hat zwar Geld gemeint, aber ich denke, es ist auch in anderer Hinsicht ein weiser Grundsatz, finden Sie nicht? Ich meine, wer weiß, vielleicht liege ich irgendwann auch in so einem Bett. Falls es dazu kommt und ich dann genug Punkte habe, schickt mir Gott vielleicht jemanden, der sich um mich kümmert. Deswegen komme ich hierher – für alle Fälle.«

»Das ist ein guter Grundsatz. Ich wünschte, ich würde danach leben.«

Langsam gingen sie den Gang entlang, wobei Mrs Schmidt Josie mit unmerklichen Kopfbewegungen und Gesten dirigierte. Sie und ihr Mann mussten auf der Tanzfläche ein schönes Paar abgegeben haben.

»Hätte ich das nur früher getan, dann hätte ich schon ein Guthaben gehabt. Vielleicht wäre James dann nur leicht verletzt worden, anstatt so zu enden.« Vor einer Glastür blieben sie stehen.

Mrs Schmidt legte eine Hand darauf und sah zu Josie hinüber. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns auf die Terrasse setzen? Ich rauche nach dem Essen gern eine Zigarette.«

Sekunden später stand Josie auf der quadratischen Betonfläche, zu der man die Patienten brachte, damit sie »frische Luft schnappten«. Schmiedeeiserne weiße Tische und Stühle mit sonnengebleichten Sitzkissen standen in dem Hof verteilt. Die Sonnenschirme waren geschlossen und fixiert, die Sommerblumen in den drei kleinen Pflanzentrögen verwelkt. Aus den Gängen fiel Licht auf die Terrasse.

Mrs Schmidt nahm an einem Tisch in der gegenüberliegenden Ecke Platz, zog einen zweiten Stuhl zu sich her und legte die Füße darauf. Josie setzte sich ihr gegenüber und war sich bewusst, an einem Ritual teilzuhaben: eine Zigarette, ein Blick in den Himmel, ein bisschen über das Leben und die Liebe und das Schicksal sinnieren, und dann ab nach Hause.

»Ich vermisse Lexi.« Mrs Schmidts Stimme klang beinahe träumerisch. Sie hatte ganz unvermittelt angefangen zu sprechen und sah Josie nicht an. Das Ende ihrer Zigarette glich einem ziellosen Glühwürmchen, das sich immer wieder in Mundnähe niederließ, dann aber wieder wegflog. Hin und her. Träge. Gedankenlos. Genusslos. Beruhigend. Schließlich hielt sie die Zigarette von sich weg. »Es scheint alles so lange her zu sein. Beinahe so, als seien sie nie hier gewesen.«

Geschickt schnippte sie die Asche weg. In der Dunkelheit sah Josie, wie sie den Kopf zu ihr hindrehte, das Glänzen ihrer Zähne, als sie reumütig lächelte.

»Es tut mir leid. Ich vermisse Lexi wohl mehr, als mir bewusst war. Jetzt werde ich schon sentimental, dabei weiß ich noch gar nicht, was Sie eigentlich wollen. Vielleicht vermisse ich sie ja einfach nur so stark, weil Sie in diesem Stuhl sitzen, genau wie Lexi früher.« Sie zog noch einmal an der Zigarette. »Ich heiße übrigens Carol.«

»Ich bin Josie«, sagte Josie noch einmal. »Archers Anwältin. Tut mir leid, dass ich Sie belästigen muss, aber ich brauche so viele Informationen wie möglich, und zwar so schnell es geht.«

»Ich kann Ihnen nur erzählen, was ich gesehen habe, und das ist alles lange her.« Mrs Schmidt hob leicht die Schultern, aufrichtig und entschuldigend.

»Aber Sie kannten Lexi gut«, bohrte Josie.

»Ja.« Carol Schmidt hielt die Zigarette von sich ab und blickte auf das glimmende Ende, als versuchte sie zu entscheiden, ob sie die Angewohnheit aufgeben solle. Sie nahm einen weiteren Zug. »Lexi und ich waren Schwestern im Geiste. Wir hatten es beide nicht leicht gehabt. Eine solche Freundschaft entwickelt sich nur zwischen Menschen, die beide viel mitgemacht haben. Sie nannte mich immer die verheiratete Witwe. Das hat mir gefallen.«

»Warum hat sie Sie so genannt?«, fragte Josie.

»Weil ich nicht in der Gegend herumschlief. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass James nie wieder gesund werden würde und dass ich jung und gesund war. Sie hat nicht von mir erwartet, dass ich James aufgab; sie wollte nur, dass ich mich auf mein eigenes Leben besann. Verstehen Sie, wie sie selbst, nachdem sie Archer kennengelernt hatte. Ich habe zu Lexi gesagt, dass ich den Mann, der James früher war, zu sehr lieben würde.« Carol zog noch einmal an der Zigarette, dann warf sie den Stummel in das kahle Beet. »Ich wollte mit keinem anderen schlafen. Ich wollte keinem anderen Mann nahe sein.«

»Hatte Lexi dafür Verständnis?«, fragte Josie.

»Aber natürlich. Sehen Sie sich doch nur an, was sie für Tim getan hat. Jede wache Minute hat sie an diesen Jungen gedacht, jeder Cent wurde für ihn ausgegeben.«

»Aber sie hat wieder geheiratet. Sie hatte ein Leben außerhalb dieses Ortes«, erinnerte Josie sie.

»Und sie hatte hier einen Sohn, keinen Ehemann. Darin bestand der Unterschied«, antwortete Carol.

»Sie meinen also, Archer spielte bei ihr die zweite Geige?«, fragte Josie.

»Nein, natürlich nicht. Lexi hat Archer leidenschaftlich geliebt, genau wie alle Menschen, die ihr etwas bedeuteten. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, einen netten Mann gefunden zu haben, bei dem sie tun konnte, was sie tun musste. Nein.« Carol schüttelte den Kopf. »Lexi war glücklich, und das hat mich wirklich verblüfft.«

»Warum hat ihr Glück sie verblüfft?«, fragte Josie aufrichtig erstaunt.

»Weil sie gegenüber ihrem ersten Mann so verbittert war. Sie hat Colin gehasst, weil er Tim im Stich gelassen hatte«, sagte Carol Schmidt. »Deswegen hat es mich verblüfft, wie vollkommen glücklich sie nach der Heirat mit Archer war.«

»Was ist mit Colins Verhalten ihr gegenüber? War Lexi darüber nicht auch verbittert?«

»Sie haben sie anscheinend nicht gekannt.« Carol lachte, ohne zu bemerken, dass Josie sich bei dieser Bemerkung angesichts von Lexis Tragödie klein und unbedeutend fühlte. »Lexi hat immer nur darüber gesprochen, dass Colin Tim verlassen hatte, nie darüber, dass er auch sie verlassen hatte. Wenn Lexi einen wirklich liebte, dann bekam man das mit. Wenn sie einen nicht leiden konnte, allerdings auch.« Carol stellte die Füße auf den Boden, verschränkte die Unterarme auf dem Tisch und fingerte an dem Zigarettenpäckchen herum. »Tut mir leid. Ich sollte wohl lieber Sie die Fragen stellen lassen, anstatt hier vor mich hin zu plappern.«

»Nein«, beschwichtigte sie Josie. »Das ist schon in Ordnung. Alles ist hilfreich. War Lexis Beziehung zu ihrem Exmann wirklich so schlecht?«

»Woher soll ich das wissen? Colin hatte zwar ganz gewiss Probleme, eine Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen, aber ich weiß nicht, ob Lexi ihm genug Zeit gelassen hat, um mit der Enttäuschung über ein Kind wie Tim fertig zu werden. In Lexis Augen musste Liebe etwas Bedingungsloses sein. Sie wollte keine Abfindung nach ihrer Scheidung. Sie sagte, das würde sich anfühlen, als würde er sie auszahlen – als würde Colin sein Gewissen wegen seiner Gefühle gegenüber seinem Sohn reinwaschen. Lexi war schrecklich stolz und schrecklich wütend auf Colin.«

»Aber sie hat eine Abfindung bekommen, und zwar eine gute«, rief Josie Carol ins Gedächtnis.

»Oh, irgendwann kam sie zur Besinnung und nahm, was Colin ihr anbot. Er war sehr großzügig, fand ich. Meiner Meinung nach hätte sie in dem Haus wohnen sollen, aber das wollte sie nicht. Das wäre so gewesen, als würde sie Colin verzeihen, sagte sie. Aber da war bestimmt ein bisschen Show dabei. Letzten Endes hat sie gerechnet und begriffen, dass sie mit den Mieteinnahmen Tims Aufenthalt in Greenwood bestreiten konnte. Das Geld, das sie von Colin außerdem als Abfindung bekam, hat allerdings nicht lange gereicht. Sie hat es allen möglichen Leuten in den Rachen geworfen, von denen sie glaubte, sie könnten Tim helfen. In dieser Hinsicht konnte sie nicht klar denken. Ein paar der Entscheidungen, die sie nach der Scheidung getroffen hatte, waren richtig, aber andere waren einfach nur selbstzerstörerisch.«

Carol Schmidt seufzte und spielte mit dem Zigarettenpäckchen.

»Ich habe vor acht Jahren damit aufgehört, den Ärzten Geld hinterherzuwerfen. Bin zu dem Schluss gekommen, dass meine Karmapunkte zwar möglicherweise für ein Wunder reichten, aber alles Geld auf der Welt James nicht heilen würde. Lexi kam nie bis an diesen Punkt. Ich habe ihr gesagt, sie soll das Geld investieren, damit für Tim vorgesorgt sei, falls ihr etwas passierte. Aber sie wollte nicht auf mich hören. Lexi hat eigentlich nie auf jemanden gehört. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, dann war sie wie eine kleine Dampfwalze, egal, ob sie recht hatte.«

»Und Archer?«, fragte Josie.

»Und Archer.« Carol seufzte. »Na ja, ich hätte einiges darauf verwettet, dass Lexi den Männern abgeschworen hatte, aber bei Archer war es um sie geschehen. Er hat sie um nichts gebeten. Er war ehrlich. Dafür hat sie ihn geliebt, und deswegen habe ich mich für sie gefreut.«

»Dann war die Liebe also gut, aber wie stand es um die Ehe?«, fragte Josie im Bewusstsein, dass ihre Neugier nicht nur beruflich bedingt war.

»Er war ein Mann, zu dem es sich gut nach Hause fahren ließ, wenn Lexi hier fertig war.«

Josie veränderte ihre Sitzhaltung. Es war kalt, und es war dunkel, und sie fand es schwierig, zuzuhören, wie jemand Archer bewertete.

»Hat Archer Tim gutgetan?«

»Weder gut noch schlecht, würde ich sagen. Er hat mehr getan, als die meisten getan hätten, und weniger als manche anderen. Er hat Lexi trotzdem geheiratet. Meiner Meinung nach ist das schon eine Menge.« Carol zeichnete auf dem schmiedeeisernen Muster des Tisches einen Kreis nach. »Eine Zeit lang begleitete er sie bei den Besuchen.«

»Ich dachte, er sei immer dabei gewesen, weil Tim so schwierig war.« Josie hörte mit ihrem Gezappel auf.

»Oh nein, tut mir leid. Er ist nur mitgekommen, wenn Lexi mit Tim einen Ausflug machen wollte. Dann war Archer immer dabei, um ihr zu helfen. Es waren die Besuche, bei denen sie in Greenwood blieben, die er nicht ertrug.«

»Hat er das gesagt?«, forschte Josie.

»Ich bin einfach davon ausgegangen, dass es so war«, erwiderte Carol. »So etwas hat man irgendwann im Gefühl. Es wurde schließlich nicht alles anders, nur weil Lexi Archer geheiratet hatte. Wenn sie das Gefühl hatte, dass Tim zu kurz kam, konnte sie ziemlich unausstehlich werden, und Archer kam damit nicht zurecht. Lexi ging dann in die Luft, und wenn sie später wieder nach Hause kam, war alles wieder gut. Sie konnte einfach so umschalten.« Carol schnippte mit den Fingern. »Es ist eine Kunst, wenn man wie wir zwei Leben lebt. Ein Leben in diesen Mauern, das andere draußen. Wenn man da keine Kompromisse eingeht, dreht man durch.«

»Also hat Lexi es an Ihnen ausgelassen, wenn sie wütend oder frustriert war?«, wollte Josie wissen.

»Legen Sie mir bitte nichts in den Mund. Sie hat sich Luft gemacht, mehr nicht. Mir hat das ebenfalls geholfen, ob Sie es glauben oder nicht. Es war, als würde jemand an meiner Stelle Dampf ablassen.« Bei der Erinnerung furchte sich Carols Stirn. »Aber als Lexi dann krank wurde, änderten sich die Dinge. Sie war besessen von dem Gedanken, was nach ihrem Tod aus Tim werden würde. Bei jeder Gelegenheit hat sie Archer hierhergeschleift. Sie hoffte, er würde anfangen, etwas für den Jungen zu empfinden. Es hat sie völlig fertiggemacht, als sie begriff, dass es dazu nicht kommen würde. Verstehen Sie mich nicht falsch, aus meiner Sicht gab Archer sich wirklich Mühe, aber er konnte mit Tim einfach nichts anfangen.«

Carol Schmidt befeuchtete sich die Lippen; ihre Stimme hatte kurz gestockt, und sie machte eine kurze Pause.

»Ein paarmal saß sie genau an diesem Platz hier und schimpfte, was für ein egoistisches Schwein Archer sei. Danach brach sie zusammen und gab zu, dass sie viel zu viel von ihm erwartete. Es war sehr emotional. Im Grunde war Lexi wütend, weil sie sterben würde und nichts dagegen tun konnte, glaube ich. Alles lief aus dem Ruder. Ich will gar nicht wissen, wie es bei den beiden zu Hause zuging.«

»Sie meinen also, Archer wollte mit Tim nichts zu tun haben?«

»Direkt geweigert hat er sich wohl nicht«, sagte Carol. »Aber ich kann es nicht mit Gewissheit sagen. Ich weiß nur, dass es wie in einer Soap Opera war. An einem Tag hing der Himmel voller Geigen, am nächsten war alles im Eimer. Dann blieb Archer immer die ganze Nacht von zu Hause weg, und wenn er wieder nach Hause kam, flehte er Lexi an, sich mehr um sich selbst zu kümmern. Verstehen Sie, er hatte Angst um sie, sie hatte Angst um Tim, und Tim bekam kaum etwas mit. Lexi konnte einfach nicht begreifen, wieso sie wichtiger sein sollte als ihr Sohn. Sie lag zwar im Sterben, aber Tim war ja nur behindert. Er hätte Archers Hilfe noch lange nach Lexis Tod gebraucht. In ihren Augen stellte sich die Sache ganz einfach dar.«

Carol stand auf und lief auf der Terrasse auf und ab. Offenbar rang sie mit sich. Sie blieb stehen und fuhr fort: »Eines Abends traf ich Archer zufällig im Eingangsbereich. Er sah schrecklich aus. Ich fragte ihn, ob alles in Ordnung sei. Er sagte, nichts würde je wieder in Ordnung sein. Dann sagte er …« Sie ging auf Josie zu, blieb dann jedoch stehen. Ihr Gesicht lag im Schatten, und sie hielt sich an einem Stuhl fest. »Er sagte zu mir, dass Tim derjenige sein sollte, der im Sterben liegt, nicht Lexi. Er sagte, das sei viel vernünftiger. Bis dahin hatte ich kaum mehr als ein paar Worte mit ihm gewechselt, und dann sagt er auf einmal so etwas. Es zerriss mir das Herz.«

Josie zog sich der Magen zusammen. Schon als Archer ihr von diesen Gefühlen erzählt hatte, war ihr klar gewesen, dass diese Äußerungen gegen ihn sprachen. Aber nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, dass er sich ausgerechnet hier Luft gemacht hatte.

»Glauben Sie, er meinte das ernst?«, fragte Josie.

»Ja«, antwortete Carol. »Aber genauso überzeugt bin ich, dass es keine Drohung gegen Tim sein sollte, falls Sie das meinen. Er war einfach nur ehrlich. In Archers Augen wäre es das Beste gewesen.«

Carol kehrte zu ihrem Platz zurück. Sie schien sich allmählich für das Thema zu erwärmen. Offenbar verschaffte es ihr Erleichterung, ihre Gedanken mit jemandem zu teilen. Archer war nicht der Einzige, für den Lexis Tod ein Verlust gewesen war. Carol Schmidt hatte eine Vertraute verloren, einen Rettungsanker und eine Freundin.

»Verstehen Sie, Lexi hätte Archer nicht geheiratet, wenn er kein guter Mensch gewesen wäre. Möglicherweise hätte Archer sich irgendwann der Verantwortung gestellt, wenn Lexi nicht so krank gewesen wäre oder wenn sie ihn nicht so sehr bedrängt und so viel von ihm erwartet hätte. Sie taten mir alle drei schrecklich leid. Man kann schließlich niemanden zwingen, einen Behinderten zu lieben. Die meisten von uns akzeptieren das.«

»Aber?«, forschte Josie.

»Aber ich könnte es wohl bei niemandem ganz ausschließen. Das Leben ist einfach so.«

Carol klopfte sich eine Zigarette heraus und nahm sie in die eine Hand, während sie das Feuerzeug in der anderen hielt. Sie war eine pragmatische, ehrliche und mit einem Mal erschreckend leidenschaftslose Frau.

»Ich habe durchaus darüber nachgedacht, James zu töten. Einmal hätte ich sogar die Gelegenheit dazu gehabt. Es wäre ganz leicht gewesen. Das Problem war nur, dass ich zuvor darüber nachgedacht hatte. Ich musste mir die Frage stellen, ob es mir um sein Leiden oder um meines ging. Das ist nichts, was man mit anderen Leuten bespricht; und es ist nichts, was man einem wehrlosen Menschen antut. Der Punkt ist: Ich hielt es allen Ernstes für eine Lösung. Vielleicht dachte Archer ja genauso. Vielleicht war er nicht so feige wie ich und hat tatsächlich bei Tim Sterbehilfe geleistet. Vielleicht war das seine Art, Mitgefühl zu zeigen.«

Carol Schmidt hob die Zigarette an die Lippen, hielt sie dort fest und ließ das Feuerzeug aufflammen. Im Schein der kleinen Flamme wirkten ihre Augen sinnlich, und mit der Zigarette zwischen den Lippen klang ihre Stimme erschütternd leidenschaftslos.

»Wenn er es getan hat, dann war es vielleicht ein Gnadentod.«