KAPITEL 15

JOSIE FUHR MIT heruntergelassenem Verdeck. Sie hatte die Baseballkappe aufgesetzt, und ihre Sonnenbrille hielt den kalten Fahrtwind ab, während sie über die Autobahn 405 jagte. Das Verdeck hatte sie mit Absicht unten gelassen, denn es hätte sie wahnsinnig gemacht, mit jemandem unter dem niedrigen Dach zusammengepfercht zu sein, der so angespannt war wie Archer und der bei jeder Kleinigkeit sauer wurde, weil er aus Stolz nicht zugeben konnte, Angst vor der Begegnung mit der Vergangenheit zu haben.

Josie fuhr sich mit der Hand über die Nase, die so kalt war, dass die Berührung wehtat. Sie veränderte ihre Sitzhaltung und ließ den Nacken kreisen, um die Verspannungen zu lösen, die ihren ganzen Rücken hinunterreichten. Archer war nicht der Einzige, bei dem die Nerven blank lagen. Josie war selbst nicht sonderlich erpicht auf diesen Ausflug, zumal sie zu dem Schluss gekommen war, dass Jude bei ihren Motiven den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

Zu dieser Erkenntnis war sie in der Nacht gekommen, als sie wach neben Archer lag. Ihre nackten Körper übten keinerlei Reiz aufeinander aus; sie hatten sich völlig unter Kontrolle. Keiner von ihnen wollte Trost in der Liebe suchen, weil beide fürchteten, dass es nichts mehr zu lieben gab. Beide fürchteten sich vor der Leere, die der Akt ohne tiefere Verbindung mit sich brachte.

Furcht war etwas Neues zwischen ihnen. Genau wie Sorge, Anspannung und alle anderen Begriffe, mit denen sich die Beziehung zweier Menschen beschreiben ließ, die plötzlich das Gefühl hatten, einander nicht mehr zu kennen, aber mit niemand anderem reden konnten. Viele Bereiche mussten sie aussparen. Manche Fragen durfte Jo, Archers Freundin, nicht stellen, wohingegen Josie, die Anwältin, es tun musste. Da waren die kurze Anspannung vor einer Antwort und das kaum hörbare Aufatmen, wenn diese Antwort sie weiterbrachte, anstatt sie zurückzuwerfen; einen Punkt klärte, anstatt Misstrauen zu säen.

Im Moment lieferten Archer und Josie der Fahrtwind, die Geschwindigkeit und die hereinbrechende Dämmerung eine Ausrede, um sich nicht zu unterhalten, während sie sich Pacific Park näherten, wo sie auf Wilson, Jude und den Ingenieur treffen würden. Als der Park vor ihnen auftauchte, löste Josie eine Hand vom Lenkrad und streckte sie instinktiv nach Archer aus. Sie verflocht ihre Finger mit seinen, und er zog die Hand nicht weg. Zwar leistete er kurz Widerstand, als wollte er ihr nicht zeigen, wie sehr er sie brauchte, doch dann erwiderte Archer den Händedruck. Das genügte. Sie waren zusammen.

Zufrieden zog Josie die Hand wieder zurück und lenkte mit beiden Händen, während sie die Autobahn verließ. Mit fünfzehn Sachen über dem Limit fuhr sie die Ausfahrt hinunter. Der alte Jeep vibrierte, als sie bremste, den Verkehr abwartete und sich dann in die Schlange zum Pacific Park einfädelte.

»Da.« Archer hob die Hand und zeigte auf ein riesiges Schild, das den Abschnitt E des weitläufigen Parkplatzes markierte. Josie nickte, scherte aus der Schlange aus und rollte langsam weiter, auf der Suche nach einer Parklücke.

»Das ist Judes Wagen.« Josie deutete mit dem Kinn darauf, und Archer sah hinüber.

»War ja klar«, murmelte Archer, als sie in der übernächsten Lücke einparkte. Er wand sich aus dem Jeep und klopfte seine Kleidung ab, während er den champagnerfarbenen Mercedes beäugte.

Josie ging zu Archer hinüber und nahm ihn beim Arm. Seine Verunsicherung überraschte sie nicht. Der edle Wagen repräsentierte alles, was für Archer im Moment bedrohlich war: Geld, das er nicht hatte, Freiheit, die er nicht hatte, Judes Jugend und sein gutes Aussehen, die Archer beide niemals haben würde. Deshalb die abfällige Bemerkung über Judes Auto, die sich im Grunde in eine Frage an Josie übersetzen ließ: Liebte sie ihn noch? Hatte sie sich von jemandem verführen lassen, der mit ihrer Branche vertraut war, der eher zu ihrer Altersgruppe gehörte, von einem Mann, der nicht vorbelastet war? Josie verstand die Frage und beantwortete sie, so gut sie konnte.

»Alles okay, Archer?«, fragte sie und drückte seinen Arm. Er nickte. Sie lächelte. »Gut. Dann komm.«

Sie ließ seinen Arm los und steckte die Hände in die Taschen der uralten Lederjacke, die das Kleinod ihres Vaters gewesen war. Die Kappe behielt sie auf, nahm jedoch die Sonnenbrille ab. Archer ging zielstrebig neben ihr her wie jemand, der nichts zu verbergen hat. Das war gut. Nicht so gut war das Kribbeln in Josies Magen, das Gefühl drohenden Unheils, ein ganz untypisches Gefühl für eine Anwältin, das sie verunsicherte.

Dann sah sie Jude, und schon fühlte sie sich besser. Der Anzug war verschwunden und durch Jeans, ein oben offenes Hemd und ein Jackett, das nach Kaschmir aussah, ersetzt worden. Wanderstiefel. Sein Blick war unbeirrt. Josie blickte zu Jude hin, doch die Hand streckte sie nach Archer aus. Auch wenn die Rollen verändert waren, ihre Loyalität war es nicht. Archer war ihr Fels in der Brandung gewesen; jetzt würde sie seiner sein.

»Da sind Sie ja«, begrüßte Jude sie, als sie zu seiner kleinen Gruppe stießen. »Ich wollte gerade anfangen, mir Sorgen zu machen.«

»Auf der Überleitung zur 710 war ein Stau. Tut mir leid«, entschuldigte sich Josie. »Haben Sie beim Sicherheitsdienst angerufen?«

»Ja, gleich, als ich Sie erspäht habe«, erwiderte Jude. Er wandte sich an Archer. »Kommen Sie klar damit, dort reinzugehen? Wenn nein, dann sagen Sie es jetzt.«

»Das mache ich nur, wenn ich Angst kriege«, antwortete Archer, dem angesichts der Dreistigkeit dieses neuen Hahns der Kamm schwoll.

»Ich wollte nur sichergehen.« Jude ließ das Thema elegant fallen.

Archer wurde ein bisschen freundlicher. »Ich komme schon klar.«

»Prima.« Jude streckte die Hand aus, Archer ergriff sie, und Jude zog ihn zu den anderen. »Das ist Wilson Page.«

Archer schüttelte dem dicken Mann die Hand und sah ihm in die Augen. »Danke für Ihr Kommen.«

»Um nichts in der Welt hätte ich mir das entgehen lassen«, erwiderte Wilson freundlich. Josie nahm mit Besorgnis Wilsons Blässe zur Kenntnis. Sie hatte sich immer noch nicht an sein Keuchen gewöhnt. Wilson übernahm die Vorstellungen und machte sie mit dem großen, hageren Mann neben ihm bekannt. »Das ist Dr. Hart. Ein ausgezeichneter Ingenieur. Genau der Profi, den wir hier und jetzt brauchen.«

Alle begrüßten einander mit höflichen und gedämpften Stimmen, denen man die Ernsthaftigkeit der bevorstehenden Aufgabe anhörte. Josie wollte gerade Dr. Hart ansprechen, als sich plötzlich das letzte Teammitglied aus dem Schatten des Personaleingangs löste. Wie ein Geist kam Colin Wren zu ihnen herüber, die Priesteraugen einzig und allein auf Archer gerichtet. Sein weites Cordjackett konnte seine schmächtige Statur ebenso wenig verbergen wie die Brille und sein Auftreten seine Skepsis. Archer und Colin ignorierten einander, und Josie beobachtete die beiden neugierig. In Colins Blick lag etwas Neues, die Gereiztheit schien durch Feindseligkeit ersetzt worden zu sein.

Josie zog Jude beiseite. »Sie hätten mir sagen müssen, dass er mitkommt. Ich halte das für keine gute Idee.«

»Muss ich Sie daran erinnern, dass Sie und Archer nur wegen Colin hier hineindürfen?«

»Das Strafverfahren gibt es überhaupt nur, weil er die ganze Sache in Gang gebracht hat«, schoss Josie zurück. »Sie hätten mich zumindest warnen können.«

»Er hat sich erst in letzter Minute dazu entschieden. Für ihn wird das sehr schwer, und ich erwarte, dass sie ein wenig Mitgefühl zeigen«, erwiderte Jude.

»Und Sie meinen, für Archer ist es ein Kinderspiel?«, fragte Josie. »Und …«

»Halten Sie nur Archer im Zaum«, sagte Jude flüsternd.

»Ich weiß nicht, ob es Archer ist, dessentwegen wir uns Sorgen machen müssen.« Josie musterte Colin und versuchte, die Veränderung an ihm näher zu bestimmen. »Was hat er? Ich dachte, er wollte uns helfen. Ich fange ungute Schwingungen auf. Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?«

»Er ist nur angespannt. Das hier ist wie bei einer Begehung nach einem Flugzeugabsturz. Es bringt alle möglichen Gefühle an die Oberfläche.«

»Nein, es ist was anderes.« Josie kaufte ihm das nicht ab. »Wieso hat er sich so versteckt?«

Jude schaute nach hinten. »Meine Güte, Josie, er hat sich nur abseits gehalten.«

»Er sich vom Fleck gerührt. Archer nicht aus den Augen gelassen. Es wirkt, als wollte er ihn provozieren.«

»Hören Sie, der ganze Abend wird stressig werden, machen Sie nicht alles noch schlimmer, indem Sie sich etwas einreden. Jetzt kommen Sie und machen Sie ein freundliches Gesicht. Es geht gleich los.« Jude nahm sie beim Arm. Roger McEntyre näherte sich mit raschen Schritten. Kurz vor dem Tor blieb er stehen.

»Mr Getts?«

Judes Gruppe rückte zusammen.

»Ja.«

Roger McEntyres Augen bewegten sich kaum, doch Josie wusste, dass er notfalls selbst die Farbe der Knöpfe an Judes Ärmelaufschlägen würde bezeugen können. Er ließ den Blick über die anderen schweifen und händigte einem nach dem anderen sein Besucherschild aus.

»Mr Hart, Mr Page, Ms Bates und Mr Getts. Mr Wren.« Der Mann war gut. Er hatte seine Hausaufgaben gemacht.

»Einen haben Sie vergessen.« Josie trat vor.

»Nein, ich glaube nicht. Der Park hat Anweisung erhalten, Mr Getts’ Team zur Begehung hereinzulassen.« Roger blickte zu Archer hinüber. »Dieser Mann hier ist Angeklagter in einem Strafprozess. Nach dem Antrag auf Besichtigung, der in diesem Prozess abgewiesen wurde, dürfen wir jedem nach eigenem Ermessen den Zutritt verweigern.«

»Bei Mr Getts gab es keine Einschränkungen«, konterte Josie, die McEntyre für seine Voraussicht bewunderte. »Der Gerichtsbeschluss war allgemein gehalten. Er enthielt keine Angaben über die Größe und Zusammensetzung des Besichtigungsteams und schloss auch niemanden aus.«

»Das sehe ich anders, aber ich bin kein Anwalt.« Roger war so höflich wie ein Türsteher, kurz bevor dieser einem wegen einer Unvorsichtigkeit die Fresse poliert. »Aber ich werde mich gern mit dem hausinternen Anwalt in Verbindung setzen, damit er Kontakt mit dem Richter aufnimmt, um die Sache zu klären. Allerdings ist es leider schon spät, es könnte also etwas dauern.«

»Mr McEntyre«, unterbrach Jude, »wir bewegen uns innerhalb der Auflagen des Gerichtsbeschlusses, und nachdem es sich um eine Besichtigung unter Aufsicht handelt, werden Sie feststellen, dass Ms Bates’ Mandant sich auf die Zuschauerrolle beschränken wird. Er hat keine Erlaubnis, etwas anzufassen oder mit Ihrem Personal zu sprechen, und wird sich durchgehend in Sichtweite Ihres Angestellten aufhalten. Und falls Ihnen das nicht ausreicht, sorge ich persönlich dafür, dass Sie wegen Missachtung einer gerichtlichen Anordnung verurteilt werden.«

McEntyres Schnurrbart zuckte gereizt, doch er gab nicht nach. Er sah Colin an und nahm den leisen Beifall im Blick des Mannes wahr. Diese Reaktion fand er zwar interessant, doch er richtete das Wort an Jude.

»Da es hinsichtlich der Motive von Pacific Park in der Vergangenheit zu Missverständnissen gekommen ist, möchte ich lieber auf Nummer sicher gehen. Ich glaube kaum, dass irgendein Richter das als Missachtung interpretieren würde. Ich habe Anweisung, Ms Bates’ Mandanten nicht in den Park zu lassen. Solange ich nichts anderes höre, werde ich mich daran halten.«

Roger beäugte Archer. Josie machte sich auf eine Erwähnung von Archers Übertritt gefasst, aber es kam nichts. Vielleicht hatten sie ja einen Freund in Roger McEntyre. Aber im nächsten Augenblick zeigte Roger McEntyre Flagge, und es war die von Pacific Park.

»Meiner Meinung nach strapaziert es die Grenzen unserer Gastfreundschaft bereits, dass ich Ms Bates in den Park lasse. Sie können also gerne mit unserem Anwalt sprechen und einen Richter suchen, der sich Ihrer Auffassung anschließt, aber solange ich nicht ganz sicher gesetzlich verpflichtet bin, diesen Mann hereinzulassen, werden Sie auf dem Parkplatz warten müssen. Es liegt ganz bei Ihnen.«

Zufrieden, seinen Standpunkt verdeutlicht zu haben, schaute er von Josie zu Jude. McEntyre wusste, wo die Macht lag, er war sich nur nicht ganz im Klaren, wer von beiden mehr davon hatte.

»Also gut. Wir akzeptieren Ihre Bedingungen.« Josie hatte das Wort ergriffen. Irgendjemand musste schließlich eine Entscheidung fällen. Judes Miene blieb ausdruckslos. Colin machte ein triumphierendes Gesicht, und Archer stieß das verächtliche kleine Geräusch aus, das einer Eskalation vorausging. Josie nahm Archer beim Arm, führte ihn ein paar Schritte beiseite und redete auf ihn ein.

»Besonders aussichtsreich war es sowieso nicht …«

Er unterbrach sie genauso heftig. »Das ist doch Blödsinn …«

Josie hielt ihn am Arm fest. Er wollte sie abschütteln, doch es gelang ihm nicht.

»Besonders aussichtsreich war es nicht«, wiederholte sie nachdrücklich. »Das Unternehmen hat das Recht dazu. Sie könnten es damit begründen, dass die Gäste verschreckt werden, wenn du im Park herumläufst.«

»Als ob mich da drin irgendjemand erkennen würde. Komm schon, Jo«, widersprach Archer mit einer heftigen Kopfbewegung zum Park hinüber.

»Wenn die einen Richter davon überzeugen, dass deine Anwesenheit in dem Park der von Jack the Ripper in einem Bordell gleichkäme, dann wird diese Theorie sehr real. Außerdem haben wir keine Zeit zum Streiten. Ihr Anwalt könnte die ganze Nacht Gründe suchen, um dich draußen zu halten. Am Ende erzählt McEntyre womöglich noch von dem kleinen Besuch, den du ihm abgestattet hast. Die Anhörung, der Antrag, das frisst alles Zeit, die wir nicht haben. Ich brauche diese Besichtigung noch vor der Voruntersuchung.« Josie bewegte sich, sie stand dicht vor ihm und hatte den Kopf abgewendet, als würden sie tanzen. »Bitte, Archer«, flüsterte sie. »Sei jetzt vernünftig. Ich schaffe die ganze Sache aus der Welt. Ich verspreche es dir, Schatz.«

Archer schloss die Augen. Wie Sand über einem Toten wurden Demütigung und Schmach über ihm aufgehäuft. Ein Sandkorn hier und da hätte sich abschütteln lassen; aber in der Masse begann das verdammte Zeug ihn niederzudrücken.

Josie fasste ihn an den Schultern. »Selbst falls die noch nicht fertig sein sollten, in einer Stunde bin ich wieder da, dann komme ich zu dir, Archer, und warte mit dir zusammen, wenn du mich jetzt nur so lange reingehen lässt, dass ich mir alles ansehen kann.«

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, aber schließlich nickte Archer.

Josie ließ ihn los. Sie blieb noch kurz bei ihm stehen, dann ging sie wieder zu den Männern, die am Tor standen. »Er bleibt hier.«

»Gut.« McEntyre winkte einem Mann, der in der Nähe stand, und sprach so laut, dass Archer ihn verstehen konnte. »Ich lasse einen Wachmann hier, damit Ihr Mandant nicht die Regeln vergisst.«

Josie drehte sich bei dieser Herablassung der Magen um, aber es war McEntyres zufriedenes Grinsen, das ihr bewies, wie richtig sie mit ihren zweiten Gedanken gelegen hatte: Hier gab es niemand, der ihnen freundlich gesinnt war. McEntyre hatte gerade einen weiteren Kübel Sand über Archer aufgehäuft. Hoffentlich würde das nicht der sein, der ihn endgültig vernichtete, dachte Josie, und folgte den Männern in die Spielzeuglandschaft namens Pacific Park.