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Jede Gemeinschaft hat ihre eigene Geschichte, ihre Mythologie.

Bei Jörg Albrechts alten Griechen waren das die Götter des Olymp, mit dem Donnergott Zeus und Pallas Athene, mit Hermes, Herkules, Odysseus. Bei der Belegschaft eines Automobilwerks ist es vielleicht die Story vom Gründer der Firma, der mit seiner pferdelosen Kutsche über ungepflasterte Buckelpisten geholpert ist und von den Leuten ausgelacht wurde. Bei einem Kegelverein die Erinnerung, wie man auf der ersten gemeinsamen Fahrt stockbesoffen auf einer Almhütte eingeschneit war.

Solche Geschichten.

Was sie gemeinsam haben, ist, dass es sich um Gründungslegenden handelt. Im weitesten Sinne jedenfalls. Sie stehen ganz am Anfang, haben sich in grauer Vorzeit zugetragen, wobei diese graue Vorzeit natürlich sehr unterschiedlich lange her sein kann. Sie bilden den Hintergrund. Wer zum Team gehört, kennt sie, und trotzdem denkt man im Höchstfall vielleicht ein oder zwei Mal im Jahr daran, wie das Ganze irgendwann mal losgegangen ist.

Ich hätte die Geschichte vom Traumfänger also ganz an den Anfang stellen können.

Aber hätte das nicht eine Zwangsläufigkeit ergeben, eine innere Logik, dass die Geschehnisse so und genau so auf diesen Punkt hätten zulaufen müssen?

Das war aber nicht der Fall. Die Traumfänger-Ermittlung war die Traumfänger-Ermittlung, und für die Arbeit auf dem Revier spielte sie vor allem deswegen eine Rolle, weil nach Abschluss dieser Ermittlung Jörg Albrecht von seinem Provinzposten zur Hamburger Polizei gewechselt war und die Leitung des Kommissariats übernommen hatte.

Das war der Beginn unserer Gemeinschaft gewesen, der Mannschaft vom PK Königstraße, wie sie, natürlich in wechselnder Besetzung, bis heute bestand.

Der Fall selbst …

Jeder Mensch erinnert sich an die großen Kriminalfälle, die für eine gewisse Zeit wieder und wieder in zentimeterhohen Lettern in der Presse auftauchen: der Kannibale von Rotenburg oder der Doppelmörder von Bodenfelde. Oder eben der Traumfänger, wie die Medien ihn getauft hatten, der Ende der Achtziger Hamburg und halb Norddeutschland in Atem gehalten hatte.

Ich war damals in der siebten Klasse gewesen, das erste Jahr auf dem Gymnasium. Meinen Freundinnen und mir war es vor allem peinlich gewesen, dass unsere Eltern uns nicht mehr mit dem Schulbus fahren ließen, sondern Fahrgemeinschaften gebildet hatten, von der Haustür zur Schule und zurück. Die Menschen waren einfach in Panik – ganz ähnlich wie sich das auch jetzt abzeichnete, während der Ermittlungen nach dem Tod von Ole Hartung und Kerstin, Professor Möllhaus und der Zecke.

Hätten wir deswegen sofort an den Traumfänger denken müssen? Rückblickend eindeutig ja. Aber genauso an die Täter von Rotenburg und Bodenfelde und Dutzende andere. Besonders aber an diejenigen, die sich in den Akten versteckten, die Faber, Matthiesen und Seydlbacher stundenlang durcharbeiten mussten. Sämtliche Taten, die uns während Jörg Albrechts Amtszeit beschäftigt hatten.

Der Traumfänger war logischerweise nicht dabei.

Der Traumfänger.

Es hatte mit einem Klassiker begonnen, damals im Sommer 1988.

Eine Frau Mitte fünfzig, die eines Morgens von den ersten Besuchern in Hagenbecks Tierpark tot aufgefunden wurde – im Spinnenhaus. Unheimlich genug, doch das vielleicht Sonderbarste an der ganzen Angelegenheit war die Frage nach der Todesursache: Ja, die Frau war von den Tieren gebissen worden, aber die Gerichtsmedizin hatte eindeutig festgestellt, dass diese Bisse erst nach ihrem Tod erfolgt sein konnten. Herzversagen – das war am Ende die Erklärung.

Natürlich gab es Untersuchungen, schon dieser gruselige Fall war der Presse jede Menge Berichte wert. Doch es blieb ungeklärt, was die Frau überhaupt dort zu suchen gehabt hatte. Am Vorabend war sie nicht nach Hause gekommen, und der Ehemann hatte sie gerade als vermisst melden wollen, da erhielt er auch schon die Todesnachricht.

Der zweite Fall – ich glaube, dass es der zweite war – war der Tote im Elbtunnel. Allerdings war er nicht im Tunnel selbst gefunden worden, sondern in einem der Notausgänge, angekettet an ein Schutzgeländer. Keine offensichtlichen Verletzungen. War es überhaupt Mord gewesen? Auf jeden Fall stand diesmal fest, dass eine weitere Person beteiligt gewesen sein musste.

Identisch war lediglich die Todesursache: Herzversagen. Hier jedoch brachte die Befragung des familiären Umfelds wichtige Hinweise: Der Mann hatte unter schwerer Klaustrophobie gelitten, sich geweigert, Fahrstühle zu benutzen. Der dunkle, enge Fluchttunnel musste die Hölle für ihn gewesen sein.

Er war schlicht aus Angst gestorben. An seinem eigenen persönlichen Albtraum.

Von nun an begann die Presse zu lauern.

Sie musste nicht lange warten.

Die Frau, die einige Tage später auf der Aussichtsplattform des Michel gefunden wurde, hatte unter extremer Höhenangst gelitten. Angst vor dem Sturz in die Tiefe hat wohl jeder Mensch, doch in diesem Fall war es gar nicht erst so weit gekommen. Todesursache? The same procedure.

Wieder ein paar Tage später: ein Toter auf der Intensivstation des Eppendorfer Klinikums. Kommt jeden Tag vor, natürlich – mit dem Unterschied, dass dieser Tote überhaupt kein Patient gewesen, sondern dort, wo andere Menschen geheilt wurden, seiner panischen Angst vor Krankenhäusern zum Opfer gefallen war.

Die unglaublichsten, persönlichsten Ängste, die ein gesunder Mensch sich nicht mal vorstellen kann: ein Rentner, der auf einem öffentlichen WC unter schrecklichen Schmerzen gestorben sein musste: Zur Abwechslung war es mal nicht das Herz gewesen, sondern ein Rückstau des Urins in den Nieren. Der Hintergrund wurde erst angesichts seiner Krankenakte deutlich: Paruresis, krankhafte Angst, in der Öffentlichkeit zu pinkeln.

Unter normalen Umständen wären alle diese Geschehnisse schlicht ein Fall für die Abteilung Vermischtes & Bizarres gewesen, doch da war zum einen die Häufung, in der die Meldungen in diesen Wochen einliefen, zum anderen aber die vollständige Unfähigkeit der Angehörigen, zu erklären, warum sich die Verstorbenen ausgerechnet jener Situation ausgesetzt haben sollten, die sie gefürchtet hatten wie nichts anderes auf der Welt.

In den meisten Fällen war es eindeutig, dass sie das nicht freiwillig getan hatten.

Persönliche Albträume von Menschen wurden Wirklichkeit – die Legende vom Traumfänger war geboren.

Für das PK Königstraße war das natürlich kein Fall wie jeder andere. Ole Hartung oder der alte Hansen – und Kerstin, die während der Ermittlungen zum Team stieß – wollten später trotzdem niemals groß über diese Zeit sprechen. Zu gespenstisch muss die Atmosphäre gewesen sein. Die Frage, ob es überhaupt einen Täter gab, ließ sich nicht in allen Fällen so einfach beantworten wie bei dem Mann mit der Sonnenangst, der am Ende einer Hitzewelle halb verkohlt an einem abgelegenen Strandabschnitt der Elbe gefunden wurde – mit Fesseln an den Buhnen fixiert.

Horst Wolfram, seit mehr als zehn Jahren Leiter des Kommissariats, hatte sich jedenfalls auf eine Weise in den Fall vergraben, die selbst schon nicht mehr gesund war.

Ich hatte mir schon immer vorgestellt, dass er eine Menge Ähnlichkeit mit Jörg Albrecht gehabt haben muss. Vielleicht ist die Leitung unseres Kommissariats einfach ein Job, der solche Leute anzieht. Auch bei Wolfram hat natürlich die Familie darunter gelitten – entsprechend hätte er ein warnendes Beispiel für unseren Herrn und Meister sein müssen. Fast schon zwangsläufig dürfte aber exakt das Gegenteil eingetreten sein: Wahrscheinlich genau deswegen hatte Jörg Albrecht alles, was mit Horst Wolfram zusammenhing, vollständig ausgeblendet.

Und damit auch den Traumfänger.

Um es kurz zu machen: Das Duell zwischen Wolfram und dem Täter hat sich wochenlang hochgeschaukelt. Wolfram hat wohl ziemlich früh Psychologen und Psychiater auf dem Schirm gehabt. Schließlich war das eindeutig ein verbindendes Element: Sämtliche Toten hatten unter einer krankhaften Angst gelitten, und die meisten von ihnen waren in entsprechender Behandlung gewesen. Doch personelle Überschneidungen ließen sich höchstens in Einzelfällen feststellen, und selbstverständlich wurden die Therapeuten auf Herz und Nieren geprüft.

Wolfram muss schließlich einem lebenden Leichnam geglichen haben. Seine Familie – Frau und kleine Tochter – bekam ihn überhaupt nicht mehr zu sehen. Er begann auf dem Revier zu schlafen, in dem Raum, in dem wir jetzt zusammensaßen, Jörg Albrechts heutigem Büro. Wenn er überhaupt schlief. Doch er war davon überzeugt, dass er dem Täter immer näher kam. Kerstin Ebert meinte einmal zu mir, er hätte etwas in dem Sinne gemurmelt, der Mann wolle im Grunde gefasst werden. Ein Bild, das bei Serientätern gar nicht so untypisch ist.

Und vielleicht entsprach es auch diesmal der Wahrheit.

Ich kann mich nicht genau erinnern, was Wolfram schließlich auf die Spur von Max Freiligrath geführt hat. Freiligrath galt als Koryphäe in diversen Psychowissenschaften, hatte sich aber als Therapeut kaum hervorgetan. Ein Wissenschaftler in der Studierstube, mit Preisen und hoch dotierten Forschungsaufträgen überhäuft.

Genauso wenig weiß ich, warum sich Wolfram zuletzt so sehr auf den Hafen eingeschossen hat. Vielleicht weil die Angst vor dem Wasser, vor dem Ertrinken so ziemlich das Einzige war, das nach sechzehn oder siebzehn Toten noch übrig blieb.

Wie es endete, draußen auf der Nordsee, als Wolfram auf einem Kutter der Küstenwache Freiligraths Boot einholte … Wie er begriff, dass der Täter eine Geisel hatte – und dass diese Geisel die kleine Lena war, seine, Wolframs, eigene Tochter …

Ich weiß nicht, ob das Mädchen schon immer besondere Angst vor dem Wasser gehabt hatte.

Aber es ist keine Frage, wessen Angst bei der letzten Tat des Traumfängers tatsächlich im Mittelpunkt stand.

Wolfram hatte viel zu spät begriffen, was seine eigene größte Angst war.

Vielleicht wirklich erst in dem Moment, in dem das Mädchen mit dem ablaufenden Wasser hinaus in die offene See gerissen wurde.

Nein, ich denke, im Rückblick ist es nur allzu verständlich, dass niemand, der damals mit diesem Fall zu tun hatte, später viel darüber reden wollte.

Der Täter war gefasst – und er war ohne Zögern geständig, mitsamt allen grausigen Details, wie er seine Patienten darauf eingeschworen hatte, niemandem, auch den engsten Angehörigen nicht, davon zu erzählen, dass sie sich bei ihm in Therapie befanden. Das könne alle Mühen zunichtemachen.

Wie hätten sie ahnen können, worauf diese Mühen in Wahrheit abzielten?

Am Ende hatte Max Freiligrath die Höchststrafe bekommen, obwohl durchaus Uneinigkeit herrschte, ob der Mann im klassischen Sinne zurechnungsfähig war. Vermutlich war das Gericht schlicht und einfach genauso erschüttert wie der Rest der Bevölkerung.

Doch wenn ich jetzt, in Jörg Albrechts Büro, als Irmtraud Wegner uns die wichtigsten Details noch einmal in Erinnerung rief … Wenn ich jetzt noch einmal überlegte, war es vielleicht gar nicht der Täter, der am Ende die schlimmste Strafe erhalten hatte, sondern sein letztes Opfer.

Horst Wolfram, das einzige Opfer des Traumfängers, das überlebt hatte.

Ein Gespenst, ein Untoter. Während die Therapeuten in der Rehabilitationsklinik darum kämpften, ihn in die Wirklichkeit zurückzuholen, und nicht wahrhaben wollten, dass ein Mensch eine Phobie gegen Psychotherapeuten entwickeln konnte, nahm sich seine Frau das Leben.

Natürlich war es kein Thema, dass er seinen Beruf je wieder würde aufnehmen können.

Und so, nachdem Ole Hartung dankend abgewinkt hatte, war die Stelle des Leiters von PK Königstraße extern besetzt worden und unser Herr und Meister war auf den Stuhl gekommen, auf dem er heute noch saß.

Auch jetzt, in diesem Moment, als Irmtraud Wegner fertig war mit der Geschichte, die wir nur zu gut kannten.

Und als ich ihn ansah, wusste ich, dass die Dämonen in seinem Kopf erwacht waren.

***

Er hatte es gewusst.

Nein.

Heiner Schultz hatte es gewusst.

Die falschen Fragen.

Hindernisse im Raum der Ermittlung, die verhinderten, dass sich die Fäden zwischen den einzelnen Tatbeständen in einer geraden Linie spannen ließen, an der Jörg Albrecht hätte entlangpeilen können. Auf das Ziel hin, auf den Täter und seine Motivation.

Hindernisse, die sich seinem Blick entzogen, weil sie unsichtbar waren und transparent wie …

Wasser.

Das Dröhnen und Brüllen der Strömung, die David Martenbergs Körper mit sich reißt, während Jörg Albrecht sich in die Wurzeln klammert und die anderen Mitglieder der Spinnenbande hilflos am Ufer stehen.

Ein kleines Mädchen. Ein kleines Mädchen, das bei ablaufender Flut in das tobende Wasser der offenen Nordsee gestoßen wird.

Ein Kind. Das Schlimmste, was Eltern geschehen kann: dass ihr Kind vor ihnen stirbt.

Für Jörg Albrecht hatte Lena Wolfram immer Claras Gesicht getragen.

Es war die Grenze, die unsichtbare Mauer zwischen der Arbeit auf der Dienststelle und dem Leben des Ehemanns und Familienvaters. Die entscheidende Distanz, die zwei Welten voneinander trennte.

Sie war durchbrochen worden. Im Leben seines unmittelbaren Vorgängers war diese Mauer gnadenlos niedergewalzt geworden, und das war etwas, das er unter keinen Umständen akzeptieren konnte.

Die Dinge, so wie sie sind.

Es gab Dinge, die nicht sein durften.

Dinge, denen er keinen Raum gab in seinem Leben.

Für Hauptkommissar Jörg Albrecht begann die Geschichte des PK Königstraße mit dem 1. März 1989.

Alles, was davor gewesen war, hatte niemals existiert.

Bis zu diesem Augenblick, in dem Irmtraud Wegner erschöpft den Atem ausstieß und ihre Hände in den Schoß legte, auf den Synthetikstoff des geschmacksfernen Kleides.

Es war der Augenblick, in dem die Zeit, die bis zu diesem Moment stillgestanden hatte, mit einem schmerzhaften Ruck wieder einsetzte.

«Der Traumfänger», flüsterte Hannah Friedrichs.

Es war derselbe Tonfall, in dem primitive Stämme den Namen ihres finstersten Götzen aussprechen mochten: atemlos, voller Furcht, und doch mit einem zitternden Gefühl der Verehrung, wie es allem entgegengebracht wird, das groß ist. Selbst wenn es allein die Größe ist, die in allem Absoluten liegt, und sei es in der absoluten Bosheit.

«Unser Täter ist der Traumfänger?», flüsterte Friedrichs. «Max Freiligrath?»

«Nein», sagte Irmtraud Wegner, und es war Jörg Albrecht, auf dem ihr Blick lag. «Nachdem Sie gestern keine Zeit hatten, mir zuzuhören, habe ich mir erlaubt, in Ihrem Namen Erkundigungen einzuziehen. Max Freiligrath ist am 15. Juni 2006 aus der Haft entlassen worden …»

Albrecht sah, wie die Kommissarin Luft holte, doch er wusste, was kommen würde.

«… und umgehend in die Psychiatrie eingeliefert worden. Faktisch eine Sicherungsverwahrung, aber da sie nachträglich angeordnet wurde, wäre die Maßnahme laut dem Spruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 13. Januar 2011 ungesetzlich gewesen.»

Der Hauptkommissar beobachtete, wie Friedrichs zentimeterweise der Unterkiefer herunterklappte. «Das Aktenzeichen kennen Sie nicht auch noch?»

Wegner ging nicht darauf ein. «Deshalb musste das Kind einen anderen Namen bekommen», erklärte sie. «Jedenfalls sitzt Freiligrath nach wie vor ein, in einer Sonderabteilung des Niedersächsischen Landeskrankenhauses in Königslutter.» Pause. «In der Nähe von Braunschweig.»

Albrecht kniff die Augen zusammen. «Braunschweig?»

«Einer der Rechtspsychologen, die seinerzeit mit der Abfassung eines Gutachtens beauftragt wurden, war Professor Hartmut Möllhaus. Das erste Mal damals, dass er mit uns zusammengearbeitet hat.» Ein zuckersüßes Lächeln. «Nach Aussage von Isolde Lorentz.»

Der Hauptkommissar keuchte. «Sie haben die Lorentz informiert?»

Die Sekretärin fixierte ihn. «Was glauben Sie wohl, Herr Hauptkommissar, warum die Frau Präsidentin den ganzen Tag noch nicht angerufen hat?»

Er konnte es nicht fassen. «Sie informieren Isolde Lorentz über den Fortgang unserer Ermittlungen?»

Plötzlich wurde Wegners Stimme ganz leise. «Ich sorge dafür, dass diese Ermittlungen unter Ihrer Leitung ihren Fortgang nehmen können.»

Albrecht stierte sie an. Mit einem Mal begannen sich einige Bausteine zusammenzusetzen.

Ein Doppelspiel. Seine eigene Sekretärin spionierte für die Polizeipräsidentin – das war es, was Isolde Lorentz glaubte.

Doch das war nur die eine Seite der Medaille. Gleichzeitig sorgte Wegner dafür, dass Jörg Albrecht die Leitung der Ermittlung behielt. Deshalb hatte ihm die Lorentz den Fall nicht aus der Hand genommen: weil ein walkürenhafter Schutzengel im Blümchenkleid die Hand über ihn hielt.

Und er hatte Irmtraud Wegner behandelt wie den letzten Dreck, als sie ihm die entscheidende Information hatte geben wollen.

Hätte er ihr zugehört … Möllhaus könnte noch leben und …

«Nein.» Die Sekretärin sah ihn noch immer an. «Ich weiß, was Sie denken, aber: nein. Auch ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass der Professor in Gefahr sein könnte. Genauso wenig Margit Stahmke.»

«Stahmke», murmelte Albrecht. «Wie passt Stahmke ins Schema?»

«Sie war dabei», erklärte Wegner. «Damals noch bei den Öffentlich-Rechtlichen. Mit dem Traumfänger-Fall ist sie zum ersten Mal groß rausgekommen. Der eigentliche Beginn ihrer Karriere.»

Albrecht starrte gegen die Wand. Für eine Sekunde glaubte er zu begreifen, wie es funktionierte mit dem Raufaserputz.

«Es ist so deutlich.» Er schüttelte den Kopf. «Und ich habe es nicht gesehen.»

«Deshalb hat die Polizeipräsidentin Sie zu Professor Möllhaus geschickt. Für den Blick von außen. Wenn Sie selbst ein Teil des Bildes sind, können Sie niemals …»

Albrecht hob abwehrend die Hand. «Danke. Schon mal gehört.»

Jetzt begriff er seinen Fehler. Jetzt, wo es zu spät war. Ja, er war ein Teil des Bildes.

Aber wie selbstverständlich war er davon ausgegangen, dass er im Mittelpunkt der Darstellung stehen musste.

Und das war nicht die Wahrheit.

Er holte Luft. «Gut», sagte er.

Doch nichts war gut. Überhaupt nichts war gut.

Und doch blieb ihm keine Wahl.

Das hier war seine Ermittlung. Möglicherweise die größte und wichtigste in seinem Leben. Und es war ein Geschenk, dass er sie noch immer leiten durfte.

Wenn er auch nur eine Winzigkeit von dem, was er in den letzten Tagen angerichtet hatte, wiedergutmachen wollte, konnte er nur eins tun.

Seine Pflicht.

Und niemand sollte ihm erzählen, nicht er trage die Verantwortung für die Toten der letzten Tage, sondern Isolde Lorentz oder Irmtraud Wegner – oder die Umstände, die immer gerne bemüht wurden, wenn niemand den Kopf hinhalten wollte.

Doch darüber durfte er nicht nachdenken. Im Moment zählte nur eins.

Die Pflicht.

«Gut», wiederholte er. «Wir müssen völlig neu …» Er zögerte. «Nein, wir müssen nicht völlig neu ansetzen.»

Er hatte das Wichtigste, das Offensichtliche übersehen.

Und doch behielt alles, was sie bis zu diesem Augenblick herausgefunden hatten, seine Gültigkeit.

Irmtraud Wegner hatte nichts anderes getan, als genau jene Frage zu beantworten, die Jörg Albrecht an seine Ermittlerrunde gestellt hatte: Wo liegt der Zusammenhang? Was ist das verbindende Element?

«Wir haben unser verbindendes Element», stellte er fest. «Das Element ist der Traumfänger.»

Friedrichs sah ihn an. «Aber Freiligrath kann unmöglich der Mörder sein.»

«Nein.» Albrecht nickte. «Obwohl alles auf ihn hindeutet, in meterhohen Buchstaben, die uns bis zu diesem Augenblick entgangen sind. Sämtliche Opfer waren direkt oder indirekt an der Freiligrath-Ermittlung beteiligt. Und falls wir das übersehen sollten, ist auch das Leitmotiv dasselbe: Angst. Eine Parallelität, die unmöglich ein Zufall sein kann.»

«Und das bedeutet?»

«Das bedeutet …» Auch Albrecht wurde jedes Wort erst in dem Moment klar, in dem er es aussprach, doch mit jedem dieser Worte wurde ihm zugleich bewusst, wie richtig er den Täter eingeschätzt hatte: Er war in höchstem Maße intelligent, wenn nicht genial. Genial wie Max Freiligrath selbst. «Das bedeutet, dass unser Mörder will, dass wir genau die Rückschlüsse ziehen, die wir im Augenblick ziehen. Warum er es darauf anlegt, muss für den Moment im Dunkeln bleiben, aber dass er uns diese Sichtweise aufzwingen will, steht außer Frage. Und damit haben wir zwei Möglichkeiten.»

«Wir lassen uns drauf ein», murmelte Friedrichs. «Oder wir lassen es bleiben – aber wie soll das funktionieren? Nachdem wir endlich begriffen haben, wo die Gemeinsamkeiten liegen, tun wir doch wieder so, als wüssten wir von nichts?»

Albrecht schüttelte den Kopf. «Ein entschiedenes Nein. Aber in dem Moment, in dem wir die Gemeinsamkeiten erkannt haben, gleichzeitig jedoch wissen, dass der Täter, auf den sie hindeuten, nicht der Schuldige sein kann, eröffnet sich uns eine völlig andere, neue Perspektive.»

Die Kommissarin sah ihn verständnislos an.

«Die Gemeinsamkeiten sehen wir nun ganz deutlich», erklärte der Hauptkommissar. «Die Frage ist, wo sind die Unterschiede?»

Friedrichs kniff die Augen zusammen. «Gibt es die? Müsste das nicht die erste Frage sein?»

«Richtig. Aber die kann ich Ihnen beantworten: Wie sind wir überhaupt an diesen Punkt gekommen? Der Täter selbst hat uns darauf hingewiesen. Das ist der erste Unterschied: die Öffentlichkeit.

Freiligrath hat sie billigend in Kauf genommen, doch bei ihm war sie niemals Selbstzweck, wie sie das für unseren Täter zu sein scheint.»

«Also ist unser Täter ein Trittbrettfahrer?», fragte Friedrichs. «Er exerziert Freiligraths Versuche nach? Aber er will damit zum Medienstar werden?»

Der Hauptkommissar zögerte. «Jedenfalls will er genau diesen Eindruck erwecken – dass er uns Kopien von Freiligraths Experimenten abliefert.

Und nicht uns allein. Der gesamten Öffentlichkeit. Es ist schon fast ein Wunder, dass noch niemand von der Journaille auf den Zusammenhang gekommen ist. Zumindest die Stahmke hätte …»

«Vielleicht hat sie ja?»

Albrecht blinzelte.

«Sie könnte es sogar von Anfang an gewusst haben», erklärte die Kommissarin. «Deshalb war gerade sie es, die er mit Informationen versorgt hat. Weil sie so oder so auf den Zusammenhang gekommen wäre. Ein Geschäft zum gegenseitigen Vorteil: Er bekommt die größtmögliche Aufmerksamkeit der Medien, sie kriegt ihre Story. Aber vielleicht hat er die Bedingung gestellt, dass sie den Zusammenhang eben nicht in ihren Berichten deutlich macht, weil er wollte …»

Albrecht tat etwas, von dem er wusste, dass Friedrichs es als Ausdruck seiner höchsten Wertschätzung erkennen würde.

Er pfiff leise durch die Zähne.

«Weil er wollte, dass wir ihn herstellen. Das ergibt einen Sinn. Auch das ist etwas, an dem Max Freiligrath niemals ein Interesse hatte. Die Ermittler waren ihm so gleichgültig wie die Öffentlichkeit, zumindest bis zu seiner letzten Tat. Ihm kam es auf die Reaktion einzelner Menschen auf ihre größten, schrecklichsten Ängste an. Abstruse Ängste. Bizarre Ängste. Und genau da liegt der zweite Unterschied. – Hannah, Sie kannten Kerstin Ebert besser als jeder andere auf dem Revier: Hatte sie besondere Angst vor Radioaktivität? Eine Angst, die ans Irrationale grenzte, diese Grenze womöglich sogar überschritt?»

«Radio…» Friedrichs schüttelte den Kopf. «Nein», murmelte sie. «Luftsprünge hat sie nicht gemacht, als wir zum Castor-Transport abkommandiert wurden, aber dass sie besonderen Horror vor den Behältern hatte … Nein, nicht mehr als wir alle.»

Albrecht nickte. «Ähnlich dürfte es sich mit Ole Hartung verhalten haben. Niemand würde sich wünschen, so zu sterben», sagte er leise. «Doch Kommissar Hartung war Profi, und seine Einblicke ins Rotlichtmilieu gingen tiefer als bei den meisten von uns. Wenn eine besondere Angst da war, hätte ich das gewusst.»

Er verstummte.

Kann ich mir da wirklich sicher sein?

Er versuchte, sich Gespräche mit Hartung ins Gedächtnis zurückzurufen. War da irgendwann der Hauch einer ganz besonderen Furcht gewesen? Nein. Nichts, auf das er den Finger hätte legen können.

«Zu Professor Möllhaus kann ich in dieser Hinsicht wenig sagen», fuhr er fort. «Aber ich werde mit Jonas Wolczyk reden – einem seiner Doktoranden. Und die Stahmke …»

«Ihr Kostüm ist ziemlich hin nach der Sache im Sumpf», murmelte Friedrichs. «Das hätte ihr sicher nicht gefallen. Aber ob das ihre besondere persönliche Angst war …»

Albrecht hob die Hand. «Die Furcht, ersticken zu müssen, gehört zu den schrecklichsten und grundlegenden Ängsten des Menschen. Zynischerweise tritt – unabhängig von der allgemeineren Todesursache, der tödlichen Krankheit – der Tod am Ende faktisch immer durch Ersticken ein, weil der Organismus nach dem Herzstillstand nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden kann.»

«Also eine … kollektive Angst?»

«Zurschaustellung des toten Körpers in einer entwürdigenden Situation. Radioaktivität. Lebendig begraben werden. Und Ersticken. – Sind das nicht alles kollektive Ängste? Sie sind weniger exotisch als Klaustrophobie oder die Angst, in der Öffentlichkeit zu urinieren. Weniger irrational. Mit einem Wort: Sie sind wie geschaffen, das Wort Angst zu buchstabieren.»

«Und das bedeutet?»

«Öffentlichkeit.» Albrecht biss die Zähne zusammen. «Freiligrath hat das Phänomen der Angst an einzelnen Individuen erforscht. Unser Täter geht einen Schritt weiter: Er erprobt es an größeren Gruppen. An der Allgemeinheit …» Er zögerte.

Denk an Heiner Schultz! Denk an Sokrates!

«Das wäre eine Möglichkeit», fuhr er fort. «Ebenso vorstellbar erscheint allerdings, dass die Öffentlichkeit nur ein Mittel zum Zweck für ihn darstellt: um uns zusätzlich unter Druck zu setzen.»

Die Kommissarin nickte langsam.

«Aber nichts von dem, was wir bisher angesprochen haben, ist der eine, große, der entscheidende Unterschied», betonte Jörg Albrecht.

Er sah die beiden Frauen an und konnte erkennen, wie es in Friedrichs’ Kopf arbeitete.

Es war so deutlich. Dermaßen deutlich, dass man schlicht darüber hinwegsehen konnte.

«Wie sind die Opfer des Traumfängers gestorben?», fragte er.

Friedrichs stutzte. Zwei Sekunden, dann riss sie die Augen auf. «Natürlich», flüsterte sie. «Mein Gott, ich erinnere mich, wie damals gestritten wurde, wofür man Freiligrath überhaupt verurteilen sollte. Er hat zwar alles gestanden, aber gleichzeitig … er hatte die Leute nicht mal angerührt!»

«Höchstens in Einzelfällen», bestätigte Albrecht. «Den Mann im Elbtunnel, den Toten am Strand …» Leiser. «Der einzige Fall, in dem er konkrete körperliche Gewalt ausgeübt hat, war das Kind – und das allein hätte schon ausgereicht für die Höchststrafe.

Freiligraths Opfer starben durch ihre Angst. Unser Täter dagegen setzt zwar auf kollektiv angstbeladene Situationen, übt dann aber unmittelbare Gewalt aus. Seine Taten sind als Morde zu klassifizieren, kein Jurist würde das in Zweifel ziehen.

Doch so fundamental der Unterschied zwischen dem Traumfänger und unserem Täter auch ist: Die Verbindung ist da. Die Auswahl der Opfer und das Element der Angst macht sie überdeutlich. Unser Mörder zeigt auf Max Freiligrath, den Traumfänger. – Mit blutbesudelten Fingern.

Davon abgesehen aber haben alle unsere bisherigen Schlussfolgerungen weiterhin Bestand. Von der Typisierung unseres Täters müssen wir nichts zurücknehmen: Er ist wandlungsfähig und hochintelligent, und möglicherweise hat er diese Taten sehr lange im Voraus geplant. Und aus irgendeinem Grunde hat er sich auf Max Freiligrath eingeschossen.»

Friedrichs biss die Zähne zusammen.

«Faber und die anderen müssen sich auf der Stelle die Traumfänger-Akte vornehmen!»

Der Hauptkommissar nickte. «Das müssen sie. Allerdings wird sie noch nicht digitalisiert sein. Es wird dauern, bis sie alles gesichtet haben, und bevor sie in die Tiefe gehen können, müssen sie sich die damals Beteiligten vornehmen. Jeder, der mit diesem Fall zu tun hatte, ist von diesem Moment an in Gefahr.»

Nicht erst von diesem Moment an, dachte er. Schon jetzt können ein halbes Dutzend abgeschlachteter Menschen irgendwo herumliegen, von denen wir noch gar nichts ahnen.

«Die Menschen müssen gewarnt werden», stellte er fest. «Das ist der erste Schritt. Danach müssen wir sehen, welche Spuren sich aus den neuen Erkenntnissen ergeben. Wenn ich mich richtig entsinne, gab es eine Zeitlang die Theorie, dass Max Freiligrath damals Unterstützung hatte. Warum ist diese These fallengelassen worden? Prüfen. Dann, vor Gericht, soll es ein paar durchgeknallte Irre gegeben haben, die aus dem Kerl eine Art Guru oder Messias machen wollten. Sind die noch aktiv? Prüfen. In der Akte muss das alles zu finden sein. Faber soll das angehen. Zur Not bekommt er jeden dazu, der irgendwie frei ist. – Irmtraud, geben Sie das weiter!»

Die Sekretärin nickte, doch Albrecht bekam es kaum mit. Wenn er noch länger nachdachte, würde ihm noch mehr einfallen, doch es war sinnvoller, wenn sich Faber damit befasste, während er die Akte sichtete.

Der Hauptkommissar zögerte. Da war noch etwas anderes, etwas, das er übersah. Er spürte es.

Doch er bekam es nicht zu fassen.

Er sah zwischen den beiden Frauen hindurch. Früher Nachmittag. Nach der fast schockartigen Klarheit dieses Vormittags bewölkte sich der Himmel nun wieder.

Keine neuen Wolken, dachte Jörg Albrecht. Alles, aber keine neuen Wolken. Ich muss erkennen …

Freiligrath selbst. Von allen Spuren war das die deutlichste. Auf Freiligrath hatte der Täter gewiesen. Albrecht musste eine Möglichkeit finden, mit dem Traumfänger zu sprechen – auch und gerade in dem Wissen, dass es vermutlich exakt das war, was der Mörder von ihm erwartete, nachdem er einen solchen Aufwand getrieben hatte, die Beamten mit der Nase auf den Traumfänger zu stoßen.

Und, nein, die eisige Kälte, die sich beim Namen Max Freiligrath und dem, wofür er stand, in Albrechts Hinterkopf ausbreitete, durfte keine Rolle spielen.

Freiligrath. Das war der Weg.

Was also konnte es sein? Was konnte es sein, das er übersah?

Sein Blick ging zu Irmtraud Wegner.

Die Sekretärin hatte den Anstoß gegeben. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie mit ziemlicher Sicherheit sehr viel mehr sagen können, doch sie kannte Jörg Albrecht, wie alle seine Mitarbeiter ihn kannten.

Sie wusste, dass sein Verstand freien, klaren Himmel brauchte, um zu funktionieren. Die Dinge erkennen zu können, wie sie sich in Wahrheit verhielten.

Sie betrachtete ihn, und er wusste, dass sie von sich aus nichts mehr sagen würde.

Doch dann, mit einem Mal, war es, als würde ein Lichtstrahl durch die graue Wolkendecke brechen.

Er sah die Sekretärin an, und mit einem Mal war es wieder da.

Das, was ihn von Heiner Schultz unterschied, der ein Genie war in der Analyse komplexer Situationen, Schritt für Schritt vorging und die Logik seines Gedankengangs jederzeit bis ins Detail reproduzieren konnte.

Was sich in Jörg Albrechts Innern bewegte, war anders. War mehr.

Es war eine Gabe. Die Dinge wahrzunehmen, die sich hinter den Dingen verbergen. Die unausgesprochenen Worte zu hören.

Dieser Fall, in dem alles anders war als jemals zuvor: Er hatte ihm diese Gabe nicht genommen.

Jörg Albrecht sah ein schreiend buntes Kleid in einem wahrhaft sonnigen Design. Farbe gewordene Aufmunterung – für Irmtraud Wegner selbst?

Wann war ihm zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass es einen Mann in ihrem Leben geben musste?

Er war ein Mensch, dem die Privatsphäre seiner Mitarbeiter heilig war.

Doch Wegner hatte selbst den ersten Schritt gemacht.

«Was denken Sie, Irmtraud?», fragte er. «Glauben Sie, Sie schaffen es, dass er sich auf ein Gespräch mit mir einlässt? Horst Wolfram?»

***

Du hast nicht vor, mir zu erklären, was das heute Morgen sollte?

Die Nummer kannte ich nicht, doch der Inhalt der SMS ließ keine Frage offen, wer der Absender war.

Er verschickte ja gern mal mehr oder weniger anonyme Mitteilungen.

Die Empfängerin der letzten hatte ich vor ein paar Stunden an der Alsterquelle besichtigen dürfen. Das, was aus dem Sumpf noch rausschaute von ihr.

Wenn Joachim Merz nicht vollständig von der Außenwelt abgeschnitten war, musste er inzwischen wissen, dass sie tot war.

Doch darüber kein Wort von ihm. Nichts als die Frage, warum ich heute Morgen aus seiner Wohnung verschwunden war, ohne auch nur eine Nachricht zu hinterlassen, während er noch unter der Dusche stand.

Konnte ich sie beantworten? Besser beantworten, als ich sie heute Morgen hätte beantworten können?

Wir hatten die Verbindung.

Wir wussten, was die Morde an Ole Hartung, an Kerstin, an der Zecke und dem Professor gemeinsam hatten.

Machte das Joachim Merz mehr oder eher weniger verdächtig?

Machte es überhaupt einen Unterschied?

Eines stand fest: Mit den Traumfänger-Ermittlungen konnte Merz nichts zu tun gehabt haben. Er war nur ein oder zwei Jahre älter als ich, was ich nebenbei auch bloß aus der Presse wusste.

So nahe stehen wir uns nun auch wieder nicht, dachte ich. Bloß weil wir ab und an miteinander ins Bett gehen.

Ich vermied den Blick in den Rückspiegel.

Albrecht hatte mir das Steuer überlassen, ganz freiwillig.

Ich glaubte, den Grund zu kennen.

Der erste Eindruck. Sein Spleen, die Atmosphäre eines Ortes zu erschnuppern wie ein Trüffelschwein im Hugo-Boss-Anzug.

Hinterm Steuer musste man auf andere Dinge achten, was in diesem Fall allerdings bedeutete, dass er von der Rückbank aus schnuppern musste. Auf dem Beifahrersitz saß Irmtraud Wegner, für die es hinten im Wagen schlicht zu eng geworden wäre.

Außerdem musste sie mir den Weg zeigen.

Diesen Teil der Stadt kannte ich fast nur vom Durchfahren. Eine der Möglichkeiten, dem Tunnel zu entgehen, wenn die Neuen Elbbrücken mal wieder dicht waren.

Natürlich hat jeder Teil von Hamburg etwas Besonderes, von den sündhaft teuren Quartieren in Blankenese oder den Walddörfern bis zu den Studentenghettos in Wandsbek oder Altona.

Harburg ist noch einmal anders. Trauriger irgendwie in manchen Ecken.

Diese hier gehörte dazu. Kurz hinter der Abfahrt von der A7 hatte es bis vor ein paar Jahren ein Kentucky Fried Chicken gegeben, wo ich ab und zu mal angehalten hatte, wenn ich zu faul gewesen war, selbst zu kochen. Davon abgesehen war die Gegend auf meinem persönlichen inneren Stadtplan Niemandsland.

«An der nächsten Ampel links», murmelte Irmtraud Wegner. «Richtung Kleingartenkolonie.»

Ich setzte gehorsam den Blinker.

Irmtraud wirkte angespannt.

Angst vor der eigenen Courage? Ich hatte keinen Schimmer, wie unser Chef auf den Trichter gekommen war, dass sie Kontakt mit Horst Wolfram haben musste. Vielleicht weil sie offenbar auch die Einzige war, die Hinnerk Hansen im Krankenhaus besucht hatte?

Wir alle sollten ein schlechtes Gewissen haben, dachte ich.

So viel zu den Kollegen, die angeblich Familie waren.

Auf jeden Fall hatte Albrecht wieder einmal richtig gelegen.

«Jetzt rechts.»

Die ersten Schrebergärten. Traurig. Ich konnte nicht sagen, woran ich das Gefühl festmachte. Vielleicht an dem Himmel, der jetzt wieder genauso grau war wie das Wasser des Raffineriehafens hinter dem Bostelbeker Hauptdeich, direkt im Anschluss an die Kleingartensiedlung.

Auf der rechten Seite verlief eine mehrgleisige Schnellbahnstrecke parallel zur Straße, dahinter eine Betonmauer.

Idyllisch.

Auf der linken Seite ein Industriekomplex.

«E.on», murmelte ich.

«Dahinter bleiben Sie stehen», sagte Irmtraud leise. «Fahren Sie noch ein Stückchen geradeaus. Nur falls er …»

Ich sah in den Rückspiegel.

«Ich komme sonst immer zu Fuß», erklärte die Sekretärin. «Also mit dem Bus und das letzte Stück dann zu Fuß. Aber es ist sowieso noch …»

Was die letzte Bemerkung zu bedeuten hatte, überließ sie unserer Phantasie.

Albrecht nickte verständnisvoll, schien aber ansonsten vollkommen damit beschäftigt, die düstere Stimmung in sich aufzunehmen. Ein Stück vor uns eine Fußgängerbrücke, die über die Fahrbahn und die Schnellbahntrasse führte.

Ich brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen. Irmtraud Wegner zwängte sich ins Freie. «Geben Sie mir fünf Minuten», bat sie. «Dann können Sie nachkommen.»

Ich sah auf die Uhr. «Okay.»

Albrecht blickte weiter geradeaus, während ich beobachtete, wie sie auf das umzäunte Betriebsgelände zuhielt, dann aber kurz davor rechts abbog. Ein Trampelpfad, der ins Nichts zu führen schien: Industriebrache, eine wilde Müllhalde, im Hintergrund ein paar kranke Bäume und schemenhaft der Deich zum Hafen. Auf der Deichkrone einzelne Spaziergänger. Eine junge Frau, die sich gegen den Sturm stemmte.

Was für eine Gegend für einen Spaziergang!

«Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier freiwillig ein Mensch lebt», murmelte ich.

Albrecht warf mir einen kurzen Blick zu. «Exakt.»

Noch vier Minuten.

Unser Herr und Meister ließ keinerlei Neugier erkennen. Ich konnte nur Mutmaßungen anstellen, was gerade in seinem Hirn vorging.

Vielleicht dachte er an Faber und Seydlbacher, denen er Anweisung gegeben hatte, den Aktenberg, den sie endlich nahezu durchgearbeitet hatten, zurück ins Archiv zu bringen. Erst als er ihnen verraten hatte, welchen Fall sie sich stattdessen vornehmen sollten, hatte sich das zweistimmige Stöhnen in ein anderes Geräusch verwandelt. Ein Keuchen.

Geister der Vergangenheit, die zum Leben erwachten.

Selbst Marco Winterfeldt hatte sekundenlang seinen Laptop zugeklappt, als er seine Instruktionen in Empfang nahm: bei den Öffentlich-Rechtlichen anrufen und jeden Filmschnipsel anfordern, der von Margit Stahmkes Berichterstattung über den Traumfänger noch existierte.

Erst danach sollte er mit ihrem letzten Arbeitgeber Kontakt aufnehmen. Jetzt, wo Stahmke selbst ein Opfer des neuen Täters geworden war, konnten uns keine presserechtlichen Ausreden mehr daran hindern, ihre Arbeit zu durchleuchten.

Nils Lehmann war der Einzige, der nicht vollständig wie vom Donner gerührt ausgesehen hatte. Das allerdings brachte ich eher mit der Gelegenheit zu einem neuerlichen Besuch bei Jacqueline in Verbindung, die ihm so unverhofft in den Schoß gefallen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Chef besondere Erwartungen daran knüpfte. Die Fotos von Wolfram und Freiligrath, die unser Jüngster im Gepäck hatte, waren über zwanzig Jahre alt.

Woher nur nahm ich die Ahnung, dass Jörg Albrechts Vorgänger nicht bereit sein würde, uns für eine aktuelle Aufnahme Modell zu sitzen?

«Das waren dann fünf Minuten», murmelte der Hauptkommissar. Woher auch immer er das wusste, denn eine Uhr trug er nicht. «Ich denke, wir geben ihr noch zwei dazu», ergänzte er und verfiel wieder in Schweigen.

Für geschätzte zwanzig Sekunden.

«Ach ja», bemerkte er plötzlich. «Eine Frage hätt ich da noch.»

Ich blinzelte.

War ihm klar, dass das ein Zitat war?

Eins, auf das man in jedem Columbo wartet. Und wenn der Inspektor es dann bringt, weiß man Bescheid: Jetzt kommt’s.

In Albrechts Büro war der Kelch an mir vorübergegangen – dank Irmtraud, die so überraschend aufgetaucht war. Doch unser Herr und Meister war kein Mensch, der von gestern auf heute vergaß, warum er mich nach St. Georg gejagt hatte.

Margit Stahmkes Verabredung zum Abendessen.

Mit der ich im Bett gelandet war.

Nichts davon ist passiert.

«Ja?», fragte ich, ohne in den Rückspiegel zu sehen.

«Haben Sie an der Alsterquelle eigentlich einen Wagen von Kanal Neun gesehen?», erkundigte er sich. «Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass einer der Kollegen der Zecke dahintersteckt, aber die Presseleute sitzen direkt an der Futterkrippe in Sachen Traumfänger-Informationen. Und beruflicher Neid ist immer ein denkbares Motiv.»

Ich atmete auf.

Und das war mein Fehler.

In diesem Moment trafen sich unsere Augen im Rückspiegel.

Er hielt meinen Blick fest – nur einen Moment lang, doch schon hatte ich das Gefühl: wie ein Fisch am Haken.

Und ich machte genau denselben Fehler wie der Fisch. Ich versuchte, mich loszureißen. Noch im selben Moment begriff ich, dass es das Dümmste war, was ich überhaupt tun konnte.

Doch da war es schon zu spät.

Er betrachtete mich nachdenklich.

Er zog seine Schlüsse.

Aber konnte er die richtigen Schlüsse ziehen? War das nicht selbst für ihn unmöglich?

«Äh, nein», sagte ich. «Tut mir leid, aber ich hab nicht darauf geachtet, welche Sender im Einzelnen da waren.» Ich befeuchtete meine Lippen. Flucht nach vorn, dachte ich. Was blieb mir anderes übrig? «Wen hatten Sie denn eigentlich auf diese Tapas-Bar angesetzt gestern?», fragte ich. «Also ursprünglich? Bis ich kam?»

«Den Schönen Schorsch.» Gleichmütig hob er die Schultern. «Ist raus aus dem Geschäft auf dem Kiez. Hat Zeit, für uns die Augen offen zu halten. Wenn’s sein muss die ganze Nacht.»

Ich nickte stumm.

Er musste nicht eindeutiger werden. Sein Kontaktmann hatte die ganze Nacht die Augen offen gehalten, auch nachdem ich die Bar betreten hatte. Mich hatte Jörg Albrecht dorthin beordert, weil meine Aussagen im Zweifelsfall vor Gericht zu verwerten waren – sehr viel besser jedenfalls als die Beobachtungen einer Halbschattenexistenz vom Kiez. Doch natürlich war ihm bewusst, dass dieser Job nicht ganz ungefährlich war. Wenn jemand ein wenig ein Auge auf mich hatte … Und sei es der Schöne Schorsch …

Ob er bis zum Schluss an mir drangeblieben war? Bis mein Verdächtiger mir weltmännisch die Beifahrertür des Jaguar aufgehalten und mir dabei die Hand auf eine Stelle irgendwo zwischen Hüfte und Hintern gelegt hatte, auf eine Weise, dass es fast beiläufig wirkte? Fast.

So oder so.

Albrecht musste klar sein, dass ich ihm etwas verheimlichte.

«Gut», murmelte er. «Zehn Minuten Vorsprung sollten wirklich genügen.»

***

War er enttäuscht?

Jörg Albrecht war nicht bereit, sich die Frage in diesem Moment zu beantworten.

Friedrichs hatte sich, gerade in den vergangenen Tagen, als diejenige Mitarbeiterin erwiesen, die am ehesten in der Lage schien, seinen Gedankengängen zu folgen. Und nun?

Irgendetwas verschwieg die Kommissarin. Stahmke hatte sich mit Paul Schubert und ihrem Anwalt getroffen – diesem Merz, einer der sieben biblischen Plagen, was den Hauptkommissar anging. So viel hatte er schon von Schorsch erfahren. Ob danach noch etwas geschehen war? Unwahrscheinlich. Schorsch war der Zecke und Schubert auf den Fersen geblieben, bis sie ihren Wagen erreichten, während Friedrichs in die Gegenrichtung verschwunden war – zu ihrem eigenen Auto mit ziemlicher Sicherheit. Ob sie in der Tapas-Bar selbst etwas mitbekommen hatte?

Hatte Albrecht ihr überhaupt die Chance gegeben, einen vollständigen Bericht abzuliefern?

Er biss die Zähne zusammen. Er war in seine eigene Falle gegangen.

Darüber durfte er jetzt nicht nachdenken!

Jetzt bist du hier! Was siehst du? Wie fühlt es sich an?

Er blieb einen Moment lang neben dem Wagen stehen.

Der Wind hatte aufgefrischt seit dem Morgen, kam unangenehm von den Harburger Bergen herab. Der Himmel war gleichmäßig grau. Kein Sonnenlicht, keine Schatten.

Auf dem Hof des Energieversorgers bewegten sich Gestalten, die keine Notiz von den Ermittlern nahmen.

Gedämpfte Ruhe des frühen Nachmittags. Trügerische Ruhe.

Wenige Meter vor dem Zaun, der das Betriebsgelände abteilte, tauchte ein Abwassergraben unter der Straße auf.

Der Geruch. Präge ihn dir ein. Er könnte wichtig sein.

Dahinter der Trampelpfad, den Wegner genommen hatte. Er führte ein paar Schritte durch hoch stehendes Gras, und dann durch ein hüfthohes Metalltor, das offen stand.

Albrecht folgte ihm mit langsamen Schritten, parallel zum Graben.

Der Deich war durch die nur noch spärlich belaubten Bäume bereits sichtbar. Wie weit bis dorthin? Hundert Meter maximal.

Das ist nicht das Entscheidende! Was spürst du?

Einsamkeit.

Jenseits des Grabens erhoben sich einige Schuppen oder Kleingartenbuden. Schwer zu sagen, ob sie bewohnt waren. Auf dieser Seite der Ablaufrinne der Baumbewuchs, aber nicht dicht genug, dass es zu einem Wäldchen gereicht hätte. Ein halb wilder Lagerplatz. Baustoffe?

Belebtes Gelände in sämtliche Richtungen. Die Gegenwart von Menschen ließ sich nicht ausblenden. Auch in der Nacht mussten die Geräusche vom Hafen, die vorbeifahrenden Züge allgegenwärtig sein.

Doch dieser Fleck war ausgenommen, wobei er nichts von einer Oase hatte. Nein, gewiss nicht.

Eine Sackgasse, dachte Albrecht. Ein verlassener, hinterletzter Winkel, in den sich ein todwundes Tier flüchtet, eingekreist von seinen Verfolgern.

Links vom Weg niedergetretenes Gras. Ein günstiger Punkt, um sich zu erleichtern? Oder mehr?

Behalte alle Möglichkeiten im Kopf!

Dann sah er das Wohnmobil.

Es sah schäbig aus, doch Albrecht bemerkte sofort, dass eine Schneise in Richtung Straße freigehalten wurde.

Kein Wrack. Eine Fluchtmöglichkeit bleibt offen.

Irmtraud Wegner stand vor der Tür des verrosteten Kastens.

Sie war verschlossen.

Jörg Albrechts Herzschlag beschleunigte kurz, wurde aber sofort wieder ruhiger.

Keine Gefahr. Wegner hatte zehn Minuten Vorsprung gehabt. Wenn irgendetwas nicht in Ordnung gewesen wäre, hätte sie ihn und Friedrichs längst informiert.

«Ist Hauptkommissar Wolfram nicht zu Hause?», fragte er mit einem Nicken.

Er hatte für sich beschlossen, Wolfram mit dem Titel anzusprechen, den er zuletzt bekleidet hatte – auf Albrechts jetzigem Posten.

Was immer mit dem Mann geschehen war und wie er sich verändert hatte: Dieser Posten prägte einen Menschen stärker, als der Mensch den Posten prägen konnte.

Wegners Augenbrauen zogen sich zusammen. «Er ist immer zu Hause!»

«Aber er will nicht mit uns sprechen?»

Die Sekretärin schüttelte bedauernd den Kopf. Ein Bedauern, das echt war, keine Frage. «Tut mir leid», sagte sie. «Ich habe Ihnen nichts versprochen, Hauptkommissar.»

Albrecht trat zwei Schritte näher, spürte Friedrichs hinter sich.

«Hauptkommissar Wolfram?», fragte er mit erhobener Stimme. «Hier ist Jörg Albrecht von der Hamburger Kripo. Meine Kollegin und ich würden uns gerne mit Ihnen unterhalten.»

Schweigen. Eine Sekunde lang glaubte er, dass sich die zerschlissenen orangeroten Vorhänge eine Winzigkeit bewegten, doch das blieb die einzige Reaktion.

«Haben Sie ihm gesagt, warum wir hier sind?», wandte er sich an seine Sekretärin.

Wegner deutete auf eine Satellitenschüssel am rückwärtigen Teil des Wohnmobils. «Das war nicht nötig.»

Albrecht nickte knapp.

«Hauptkommissar Wolfram, ich würde Sie wirklich nicht belästigen, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass Sie mir wichtige Hinweise zu meiner laufenden Ermittlung geben können.» Er wartete.

Schweigen.

«Ist er immer so … scheu?», fragte Friedrichs leise.

«Sie haben keine Vorstellung, wie er ist», murmelte die dicke Frau. «Horst?», fragte sie lauter. «Wir gehen jetzt wieder.»

«Aber …» Die Kommissarin.

Albrecht brachte sie mit einem Blick zum Schweigen.

«Irmtraud», wandte er sich an die Sekretärin. «Ihnen ist klar, dass ich diesen Mann notfalls vorführen lassen kann.»

«Mir ist klar, dass Sie das nicht tun werden», zischte sie. «Aber wenn Sie darauf verzichten, wird er vielleicht …»

«Nach dem nächsten Mord?», fragte Friedrichs leise. «Oder wann genau?»

Wegner warf ihr einen Blick zu, aus dem vieles sprach. Enttäuschung, unterdrückte Wut. Sicher auch eine Spur Verständnis.

Die war allerdings am schwächsten zu spüren.

Albrecht betrachtete die geschlossene Tür. Rost überall. Nur die Angeln blitzten sauber.

Er hatte heute schon eine Tür aufgebrochen, und die Hüfte tat ihm immer noch weh.

Doch ihm war klar, dass das keine Alternative war.

«Wir können nichts machen», murmelte er. «Von Gefahr im Verzug kann nicht die Rede sein. Nicht hier.»

Er schüttelte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. Es gab noch eine Möglichkeit, doch alles in ihm wehrte sich dagegen.

In dieser Blechkiste sitzt der Mann, der ich sein könnte, dachte er. Ich bin nur einen Schritt davon entfernt. Eine winzige, unsichtbare Linie.

Doch durfte das seine Entscheidung bestimmen?

Er holte Luft. «Nein», sagte er. «Es hat keinen Sinn.» Dann, beiläufig, nur eine Spur lauter: «Und wir haben immer noch Freiligrath.»

Ein Laut aus dem Innern, unbestimmbar, unmöglich in Worte zu fassen. Kein menschliches Wesen.

Keines, das bei Verstand war.

Albrecht hielt den Atem an. Seine letzte und einzige Trumpfkarte …

Zehn Sekunden, zwanzig.

Kein Lebenszeichen mehr.

Irmtraud Wegner sah ihn an, und er wollte sich krümmen unter diesem Blick. Er hatte es versuchen müssen, das musste ihr klar sein.

Doch das änderte nichts.

«Ich wünsche Ihnen gute Fahrt», sagte die dicke Frau und ließ dabei keinerlei Gefühlsregung erkennen. «Ich nehme den Bus.»

***

Gewogen, dachte Jörg Albrecht. Gewogen und für zu leicht befunden.

Natürlich wusste er, dass das Unsinn war. Er hatte keine Alternative gehabt.

Doch ihm war klar, dass das Geräusch, das aus dem Innern des Blechkastens gekommen war, ihn bis zum Tag seines Todes verfolgen würde.

Er saß jetzt auf dem Beifahrersitz, während Friedrichs den Wagen zurück in Richtung Autobahn lenkte.

Hatte es wirklich keine Alternative gegeben?

Oder machte ihm lediglich der Umstand zu schaffen, dass er vor der Alternative größere Angst hatte, als er sich eingestehen mochte?

Freiligrath.

Wenn sich Wolfram einer Zusammenarbeit verweigerte, blieb ihnen keine andere Wahl.

Sie mussten mit dem Traumfänger sprechen, so schnell wie möglich.

Ein säuerlicher Geschmack stieg in Albrechts Kehle auf, wenn er sich vorstellte, dem Mann zu begegnen, der Horst Wolframs Leben mit gefletschten Zähnen in Stücke gerissen hatte.

Dieser Mann war gefährlich. Und eine innere Stimme sagte Jörg Albrecht, dass es keinerlei Rolle spielte, dass Freiligrath seit einem halben Leben in Haft war.

Ein Schatten, dachte der Hauptkommissar. Ein Schatten, der darauf lauerte, die Grenze zwischen den Welten zu überschreiten.

Doch zugleich hatte er keinerlei Zweifel, dass sich der Fall tatsächlich auf dem Weg über den Traumfänger klären ließ. Ganz bewusst hatte ihnen der Täter diese Information gegeben.

Doch es war ein vergiftetes Geschenk.

Albrecht dachte an eine Aktentasche mit einem fröhlichen Anti-Atomkraft-Aufkleber, abgestellt im Eingangskorridor des Rechtspsychologischen Instituts. Sie hatten die Tasche finden – und die entscheidende Zeit zu spät kommen sollen, um Hartmut Möllhaus’ Leben zu retten.

«Timing», murmelte er. «Das ist der Schlüssel zu diesem Fall. Das Timing.»

Friedrichs warf ihm einen Seitenblick zu. Sie hatte bereits den Blinker gesetzt: die A7 Richtung Hamburg-Zentrum. Zurück aufs Revier.

«Nein», sagte er kurz entschlossen. «Die nächste. Auf die Autobahn, aber in die Gegenrichtung.»

«Raus aus der Stadt?»

Albrecht nickte, beobachtete, wie sie schicksalsergeben den Blinker zurückschob und ihn zehn Sekunden später von neuem betätigte. Die steile Zufahrt hoch in die Harburger Berge, wo sich an der Steigung die LKW Stoßstange an Stoßstange quetschten. Die gruseligste Auffahrt in der ganzen Stadt.

Albrechts Finger schlossen sich um den Haltegriff, als sich die Kommissarin zwischen einen dänischen Möbellaster und sein deutsches Gegenstück einfädelte. Die A7 war ein Albtraum.

Wenn Friedrichs am Steuer saß.

Aber immer noch besser als Fabers Abkürzung.

«Timing?», griff Friedrichs seinen Gedanken auf.

Albrecht nickte.

«Sie erinnern sich, was ich beim Meeting erzählt habe? Die Tasche des Professors, die der Täter im Flur des Instituts zurückgelassen hatte? Diese Tasche war ein Zeichen, und ihre Botschaft war deutlich: Ich habe den Professor. Er ist das nächste Opfer. So weit, so schlimm. Doch der wirkliche Hintergrund war ein ganz anderer: Dieses Zeichen konnte nur dann funktionieren, wenn wir es zu einem bestimmten Zeitpunkt zu sehen bekamen: Wir hatten plötzlich einen Hinweis – doch wir haben ihn erst in dem Moment erhalten, in dem es zu spät war. Möllhaus war nicht mehr zu retten.

Und genau dasselbe tut er wieder.»

Friedrichs sog die Luft ein. «Sie glauben, das nächste Opfer ist Freiligrath selbst?»

Der Hauptkommissar legte die Stirn in Falten. Dieser Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen.

War das möglich?

Er sah geradeaus. Die beiden rechten Spuren führten jetzt ab zur 261, der Verbindung nach Bremen.

«Bleiben Sie auf der 7», murmelte er. «In Richtung Hannover/Kassel.»

Friedrichs warf ihm einen irritierten Blick zu, doch Albrecht hob die Hand.

Störe meine Kreise nicht!

Der Traumfänger selbst als Opfer? Wenn das so war, würde dieser Tod jedenfalls das Ende der Mordserie bezeichnen, da gab es keinen Zweifel.

Doch, nein, daran glaubte der Hauptkommissar nicht.

Angenommen, ein Angehöriger eines Freiligrath-Opfers wollte sich am Traumfänger rächen: Warum hätten dann zuvor mehrere Menschen sterben müssen, die – der eine mehr, der andere weniger – dazu beigetragen hatten, Freiligrath zur Strecke zu bringen?

Nein, dachte Albrecht. Das ergab keinen Sinn.

«Nein», sagte er leise. «So funktioniert es nicht.» Lauter. «Das Timing, Hannah. Das Timing ist das Entscheidende. – Freiligrath sitzt in Sicherungsverwahrung. Sie wissen, was das heißt?»

Friedrichs nickte. «Die Sicherungsverwahrung wird zusätzlich zur eigentlichen Haftstrafe verhängt, faktisch im Anschluss daran, weil man befürchten muss, dass der Täter neue Straftaten begehen würde, falls er direkt wieder freikommen sollte. Ist natürlich nicht unumstritten.»

Albrecht schnaubte. «Allerdings. Sie haben Wegner ja gehört. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist der Ansicht, dass das besondere seelische Grausamkeit gegenüber den armen, gequälten Kreaturen wäre, die Frauen und Kinder auf dem Gewissen haben und nicht einsehen wollen, warum man sie nach zehn, zwölf Jahren nicht wieder auf die Allgemeinheit loslässt.»

«Weil sie ihre Strafe verbüßt haben», bestätigte Friedrichs. Unüberhörbar, was sie von Albrechts Ironie hielt. «Soviel ich weiß, ist es genau das, was unser Rechtssystem von dem in den Vereinigten Staaten unterscheidet. Bei denen landen die Leute auf dem elektrischen Stuhl. Bei uns haben sie eine Chance, ihre Schuld zu büßen. Sich zu ändern. Auch wenn es lange dauert. Immer die Chance, irgendwann wieder frei …»

«Das müssen Sie unbedingt mal mit Horst Wolfram erörtern», knurrte Albrecht. «Oder mit anderen Eltern, die ihre Kinder …» Er stieß den Atem aus. «Sie haben ja recht», murmelte er. «Grundsätzlich. Das eigentliche Problem besteht in der Definition dieser Sicherungsverwahrung. Die Leute werden ja nicht deswegen länger festgehalten, weil sie etwas verbrochen haben, sondern auf den Verdacht hin, dass sie sich etwas Neues zuschulden kommen lassen könnten. Sie erbringen ein Sonderopfer für die Allgemeinheit. So schimpft sich das: Sonderopfer. Die reinsten Märtyrer! Diese Leute sitzen gemütlich in psychiatrischen Kliniken, mit einem Dutzend hochbezahlter Psychoklempner, die versuchen, Leute zu therapieren, von denen die ganze Welt weiß, dass sie eben nicht therapierbar sind. Was denken Sie, was die für Freudensprünge machen, wenn wir mit der Anfrage kommen, mit einem ihrer Schutzbefohlenen ein paar Takte über seine alten Morde zu reden?»

«Sie werden nicht begeistert sein», murmelte die Kommissarin.

«Sie werden versuchen, die Anfrage abzubügeln», prophezeite Albrecht. «Sie zu verschleppen, nach hinten zu schieben, uns von Pontius zu Pilatus zu jagen. Wie lange, was denken Sie? In Morden ausgedrückt? Drei? Vier? Fünf?»

«Ich habe verstanden», sagte Friedrichs plötzlich scharf. «Und?»

«Timing», erklärte Albrecht. «Unser Mörder hat uns einen Hinweis gegeben. Max Freiligrath: damals der Täter, und heute? Warum weist unser Täter auf ihn? Ich hatte die Hoffnung, dass Horst Wolfram uns das vielleicht sagen könnte, doch Wolfram verweigert sich. Damit bleibt uns nur ein Weg: Freiligrath selbst. Ein Zeuge, der uns entscheidend weiterbringen, uns vielleicht sogar den Namen des Täters liefern könnte. Aber wir kommen nicht an ihn ran, weil unser eigenes Rechtssystem ihn schützt. Wieder haben wir eine entscheidende Information bekommen. Und wieder können wir nichts mit ihr anfangen – bis es zu spät ist.» Er holte Luft. «Das zumindest glaubt unser Täter.»

Fragend sah Friedrichs ihn an.

Albrecht stellte fest, dass seine Hand feucht war, als er sie in die Hosentasche gleiten ließ und nach dem Kärtchen suchte, das er am Vorabend eher beiläufig eingesteckt hatte.

Dipl. Psych. Jonas M. F. Wolczyk, Institutsadresse, Privatadresse, Handynummer, E-Mail – und ein halbes Dutzend weiterer elektronischer Möglichkeiten, den Kontakt herzustellen.

Wolczyk hatte dem Hauptkommissar nahegelegt, sich per Mail zu melden. Natürlich, er wartete auf die Phantombilder, wollte sehen, ob der Täter ein klassisches Würgerkinn hatte oder eine Messerstechernase. Ob ihm die Gier nach Jungfrauenblut aus den Augen guckte.

Albrecht tippte die Festnetznummer in sein Handy.

Mit Sicherheit war der junge Mann heute nicht in der Uni. Sein Doktorvater war tot – Albrecht hatte keine Ahnung, wie in solchen Fällen verfahren wurde. Scherereien und Verzögerungen waren vermutlich vorprogrammiert. Und so oder so würde der Junge kaum in der Stimmung sein …

«Ja?» Die Stimme klang fragend, schwankend.

Verständlich. Albrecht hatte die Visitenkarte zwar angenommen, aber kein Gegenstück rausgerückt. Wolczyk konnte seine Nummer nicht kennen.

«Hauptkommissar Jörg Albrecht», sagte er. «Ich hoffe, ich …»

«Klar!» Die Stimme war sofort verändert. «Klar, ich hab schon gehört, Sie haben noch einen Toten! Also eine Tote. Diese Fernsehfrau. Kanal Sieben, nicht wahr? Nein. Neun, oder? Neun, war’s, Kanal Neun. Mein Gott, die kannte ich sogar! Also aus dem Fernsehen natürlich. Haben Sie … Hat ihn diesmal jemand gesehen? Haben Sie Bilder? Ich kann Ihnen …»

«Nein.» Albrecht legte alle Betonung in das eine Wort. Den Mann erstmal stoppen.

Am anderen Ende das Schnippen eines Feuerzeugs und ein tiefer Atemzug. Ein gemurmeltes «Mein Gott …»

«Aber möglicherweise können Sie mir trotzdem helfen», erklärte Albrecht ruhig. «Nicht Sie direkt, aber Ihre Freundin vielleicht.»

«Meine … was?»

Albrecht blinzelte, doch im nächsten Moment überkam ihn eine völlig unerwartete Trauer.

So einfach.

Sie fragen sich, ob die beiden zusammen sind? Professor Möllhaus hatte aufgeblickt. Ein müdes, selbstironisches Lächeln. Diese Frage stelle ich mir seit Jahren.

Und nun: Meine … was?

Manche Antworten waren so einfach, und man suchte doch ein ganzes Leben lang vergeblich nach ihnen.

«Maja Werden», korrigierte der Hauptkommissar mit leiserer Stimme. «Ich habe das gestern doch richtig verstanden, dass Frau Werden sich mit Häftlingen beschäftigt, die sich in Sicherungsverwahrung befinden?»

Ruckartig drehte Friedrichs den Kopf in seine Richtung. Albrecht warf ihr einen bösen Blick zu, als das Fahrzeug die Bewegung mitmachte.

«Nein.»

Er brauchte zwei Sekunden, bis er begriff, dass das Wolczyks Antwort gewesen war.

«Sie sind keine Häftlinge», erklärte der Doktorand mit demonstrativer Geduld. «Sie sind Patienten. Ein Häftling wird für das Unrecht bestraft, das er begangen hat. Ein Patient muss therapiert werden, weil er unter einer Krankheit leidet.»

Albrecht verdrehte die Augen. Sollte er den Jungen für sein schlichtes Weltbild bedauern oder ihn im Gegenteil bewundern?

Doch er sah, dass sich Friedrichs’ Griff um das Steuer verstärkt hatte.

Sie hatte ihm nicht glauben wollen.

Welcome to the real world, dachte er.

***

Jörg Albrechts Ansichten konnten seiner Umgebung ziemlich auf den Senkel gehen, und das wusste er.

Aber das hatte unseren Herrn und Meister noch nie daran gehindert, sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu äußern.

Es gab maximal ein, zwei Themenfelder, bei denen wir einer Meinung waren. Wenigstens die Todesstrafe lehnte er ab.

Doch sonst? Der Mann war ein Genie als Ermittler, aber seine Vorstellungen von Recht und Unrecht, davon, wie die Welt funktionierte, waren irgendwo in den Fünfzigern stehengeblieben.

Und ich hasste es, wenn er recht hatte.

Doch zu diesem Zeitpunkt war ich sowieso schon dermaßen auf der Palme, dass für irgendwas anderes nicht mehr viel Platz war.

Schließlich hatte ich soeben begriffen, wohin wir unterwegs waren, jetzt, sofort, heute Nachmittag: nach Braunschweig und anschließend, nachdem wir mit dieser Frau gesprochen hatten, die offenbar nicht Wolczyks Freundin war, vielleicht weiter nach Königslutter.

«Ich hatte vorgestern Nachtdienst», rechnete ich ihm vor. «Und den kompletten folgenden Tag. Dann eine Nacht frei. Gestern wieder den vollen Tag und abends Ihre Sonderermittlung in St. Georg …» Ich konnte mich gerade noch bremsen, ihm auf die Nase zu binden, dass ich die Nacht außer Haus verbracht hatte. «Und heute wieder den ganzen Tag! Bis wir in Braunschweig sind, ist es mindestens sechs. Wir können uns jetzt schon ausrechnen …»

Er warf mir einen wortlosen Blick zu.

Ich dachte an Kerstin. Ich dachte an Oliver, an den kleinen Raoul. An Sabine Hartung, ein wenig auch an die mir unbekannten Angehörigen von Möllhaus. Und selbst die Zecke musste ein Privatleben gehabt haben.

Vor allem aber hatten diejenigen eins, die als Nächstes auf der Liste des Täters standen.

Es sind genau diese Augenblicke, in denen man sich klein und mickrig vorkommt als Kriminalbulle. Die Augenblicke, in denen man in die Falle geht: to serve and protect, wie es beim New Yorker NYPD heißt.

Es geht ja um Menschenleben. Und selbstverständlich hat ein Polizist in so einem Moment kein Privatleben zu haben.

Das Dumme ist, dass dieser Moment um die vierzig, fünfundvierzig Jahre anhalten kann, wenn man sich entscheidet, diesen Job zu machen.

Ich fuhr an der ersten Raststätte hinter dem Horster Dreieck ab, ohne das Manöver zu kommentieren, und beobachtete, wie Albrecht in Richtung des Restaurants und der WCs trottete.

Dann wählte ich den Geschäftsanschluss meines Ehemanns.

«Gunthermann und Friedrichs Immobilienberatung, Dennis Friedrichs.»

«Hi», murmelte ich.

Ein Hi, das sich nicht anhörte, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ein Hi, das nach schlechtem Gewissen klang.

Ein ‹Ich hab mit Joachim Merz geschlafen, weiß aber nicht so recht, was ich davon halte›-Hi.

«Hi … Hannah!»

Brauchte er tatsächlich einen Moment, um sich an den Namen seiner eigenen Ehefrau zu erinnern?

Meine Stimmung kippte auf der Stelle.

«Wo hast du gestern gesteckt?»

«Was war denn gestern Abend los?»

Beide gleichzeitig.

Ich biss die Zähne zusammen. Schweigen.

«Das Meeting hat ziemlich lange gedauert», sagte er schließlich. «Du warst gar nicht zu Hause. Wieder Nachtschicht?»

Hatte die Frage einen verdächtigen Unterton?

«Dasselbe wie immer», murmelte ich.

Schweigen. Fünf Cent für seine Gedanken.

«Also …» Ich stieß den Atem aus. «Ich wollte dir nur Bescheid sagen: Wie es aussieht, sind wir gerade unterwegs nach Braunschweig.»

«Braun…» Er verschluckte sich. «Wer sind wir? Was willst du in Braunschweig?»

Wer seid ihr, dachte ich. Aus deiner Perspektive.

«Es geht doch nicht um diesen Professor, den sie lebendig begraben haben?», schob er nach. «Diesen … Müller?»

Ich zwinkerte – doch im selben Moment meldete sich das Funkgerät, und ich erkannte das Rufzeichen des Reviers.

Überflüssig ranzugehen.

Die niedersächsischen Kollegen hatten Professor Möllhaus’ Tod, so lange sie konnten, unter der Decke gehalten.

«Ich bin mit Albrecht unterwegs», sagte ich kühl. «Und du weißt, dass ich über den Stand der Ermittlungen nichts sagen darf.»

Warum auch immer sämtliche Männer in meinem Leben damit ein solches Problem hatten. Alle beide.

«Aber immer.» Dennis seufzte übertrieben, als brächte er ein gigantisches Opfer. «Jörg Albrecht, dein Herr und Meister. Ich könnte fast schon … eifersüchtig werden.»

Das kam dermaßen gönnerhaft, dass ich kurz davor war, den Anruf auf der Stelle zu beenden.

Aber das tat ich nicht. Wir sprachen noch ein paar Worte, bevor wir uns in seltsam sachlichem Ton verabschiedeten.

Wieder eine Nacht.

Wieder eine Nacht getrennt von Tisch und Bett.

Nein, ich würde nicht an den Mann denken, der mir heute Morgen eine Rose geschenkt hatte.

***

Wirklich selten hatte Jörg Albrecht ein Gesicht mit dermaßen ausdrucksstarken Augenbrauen gesehen.

Als ob sie den Blick noch einmal unterstrichen, mit dem Maja Werden den Hauptkommissar betrachtete.

Sie saßen in Jonas Wolczyks Wohnküche, die beiden Ermittler, Werden und der schlaksige Doktorand selbst.

Freundin oder nicht, die junge Frau schien sich wie zu Hause zu fühlen, hatte ihnen den Kaffee eingeschenkt und war auch sonst diejenige, die die Unterhaltung beherrschte.

Wie hätte es anders sein können?

Jörg Albrecht hatte ein nicht unwichtiges Detail übersehen.

Ja, möglicherweise hatte er eine Chance, die labyrinthischen Pfade des Dienstwegs abzukürzen, die ihn zu Max Freiligrath führen konnten.

Doch auf der Schwelle zu dieser Abkürzung wachte Maja Werden gleich einem Zerberus mit Bubikopf.

Maja Werden war Psychologin. Keine von denen, die den Insassen der Psychiatrie eine Gehirnwäsche verpassten und ihnen ansonsten verständnisvoll Händchen hielten, aber eben doch eine von diesem gewissen Fach.

Und dass sich ihre und des Hauptkommissars Einschätzung eines Tatbestands nicht zwangsläufig deckten, hatte Albrecht gestern eindrücklich erlebt.

«Niemand verdächtigt Max Freiligrath, irgendetwas mit diesem Fall zu tun zu haben», betonte er zum dritten oder vierten Mal. «Freiligrath sitzt seit mehr als zwanzig Jahren …» Er brach ab. Die Formulierung hinter Gittern hatte sie zehn Minuten zuvor harsch zurückgewiesen. «Wie würden Sie das ausdrücken?», fragte er stattdessen.

«Er saß sechzehn Jahre lang in Haft», erwiderte Werden ruhig und ließ seinen Blick dabei nicht los. «Seit 2004 befindet er sich in stationärer Behandlung.»

Irrenanstalt, dachte Jörg Albrecht. Klapsmühle hätte sein Vater gesagt.

Dann eben stationäre Behandlung.

«Aber was ich nicht begreife», fuhr die junge Frau fort, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. «Wenn er nichts mit dem Fall zu tun haben kann – und da stimme ich Ihnen zu –, was erhoffen Sie sich dann von ihm?»

Albrecht holte Luft. Der Kaffee war gut gewesen, brannte ihm aber gerade ein Loch in die Magenwand. «Ich habe schon versucht, Ihnen das zu erklären …»

Die Augenbrauen hoben sich eine Winzigkeit.

Albrecht biss sich auf die Zunge. «Sie … Es tut mir leid, aber Sie müssen verstehen, dass ich aufgrund der aktuellen Ermittlung nicht in allen Details deutlich werden darf. Kommissarin Friedrichs und ich», ein Blick zur Seite, «sind uns sicher, dass unser Täter bewusst auf Max Freiligraths Taten verwiesen hat.»

Friedrichs nickte nur ganz knapp. Bisher war sie nicht die Hilfe, die er sich von ihr versprochen hatte. Seit der Raststätte hatte sie kaum ein Wort gesprochen, seinem Versöhnungsangebot zum Trotz: frische Apfeltaschen und Coffee to go aus dem Autobahnrestaurant.

«Und gleichzeitig sind wir uns sicher», formulierte er umständlich, «dass der Täter sich sicher ist, dass wir keine Chance haben, rechtzeitig mit Freiligrath Kontakt aufzunehmen.»

«Rechtzeitig wofür?»

Albrecht schüttelte den Kopf. «Für den nächsten Mord? Für den übernächsten? Worauf auch immer der ganze kranke Zauber hinausläuft. Wir kennen das Drehbuch nicht, dem seine Pläne folgen, aber es kann keinen Zweifel geben, dass ein solches Drehbuch existiert. Alles spricht dafür. Er überlässt nichts dem Zufall, und dort, wo er gezwungen ist, zu improvisieren – so wie gestern Abend, mit der Ermordung von Professor Möllhaus –, stellt er sich mit einer Geschwindigkeit auf die neue Situation ein …» Er schüttelte den Kopf. «Dämonisch.»

«Sie werden verstehen, dass ich von Erklärungen, die mit Dämonen arbeiten, nicht besonders viel halte», erwiderte Maja Werden kühl.

Und noch immer sah sie ihn an. Mehr denn je kam er sich vor wie im Verhör. Sie sah …

Er kniff die Augen zusammen und tastete über seine Stirn.

«Hab ich da etwa einen Fussel?», fragte er freundlich.

Den Trick kenn ich auch!

Die wenigsten Menschen konnten es besonders lange ertragen, wenn sie den Eindruck hatten, jemand schaue ihnen unentwegt in die Augen.

Und Jörg Albrecht machte da keine Ausnahme.

Zumindest solange er nicht durchschaute, dass sein Gegenüber gar nicht seine Augen fixierte, sondern einen Punkt auf seinem Nasenrücken oder einen Leberfleck auf der Stirn.

Zum ersten Mal schenkte ihm Maja Werden ein – wenn auch dünnes – Lächeln. Sie konnte es ertragen, einen Treffer zu kassieren.

An ihrem Blick änderte das nichts.

Doch vielleicht war das Eis damit gebrochen.

Die Zeit lief ab.

Jörg Albrecht spürte es.

***

Nach Königslutter brauchte man um die zwanzig Minuten.

Wieder saß Friedrichs hinter dem Steuer, passte jetzt auf, dass sie Maja Werdens dunklen Golf nicht aus den Augen verloren.

Albrecht holte währenddessen sein Handy hervor.

Am Nachmittag, nach dem Nicht-Besuch bei Horst Wolfram, hatte er nur kurz auf dem Revier angerufen und veranlasst, dass in der Nähe des E.on-Geländes eine Zivilstreife stationiert wurde.

Theoretisch war Wolfram als höchst gefährdet anzusehen. Doch gleichzeitig war sich Albrecht nahezu sicher: Wo immer der Mörder als Nächstes zuschlagen würde – jedenfalls nicht an dem schäbigen Wohnmobil.

Der Täter hatte sie bewusst auf den Traumfänger angesetzt. Er konnte sich ausrechnen, dass der Hauptkommissar Maßnahmen veranlassen würde, um den damaligen Ermittler zu schützen.

Genauso im Übrigen beim alten Hansen, der die restlichen Tage im Krankenhaus unter Polizeischutz verbringen würde.

Doch das war keine Garantie, dass nicht in genau diesem Moment irgendwo anders die Luft brannte.

«PK Königstraße, Kriminaloberkommissar Max Faber.»

«Bericht!»

«Moment …»

Albrecht hörte ein Rascheln.

«Okay … Sie wollen wissen, wie weit wir sind?»

Albrecht biss die Zähne zusammen. Warum sollte er sonst anrufen?

«Gut …», murmelte Faber. «Wir haben uns die Traumfänger-Akte vorgenommen. Wenn man das Akte nennen will … Zwei Regalreihen voller Ordner. Wir haben das Relevante inzwischen erfasst, denke ich, und gehen in der Reihenfolge vor, wie Sie das angewiesen haben. Zuerst die Namen der Beteiligten. In den eigentlichen Fall lesen wir uns hinterher ein. Im Moment schreibt Seydlbacher noch die Namen raus, und ich versuche, die Leute zu erreichen. Ich denke, in dieser Aufteilung …»

Albrecht brummte zustimmend. Seydlbacher war ein guter Mann, aber für den Telefondienst nur bedingt geeignet. Zumindest nördlich des Weißwurstäquators.

«Allerdings muss uns klar sein, dass wir auf diese Weise wohl nur einen Bruchteil derjenigen feststellen können, die möglicherweise gefährdet sind», gab Faber zu bedenken. «Sämtliche Beamten, die irgendwie beteiligt waren, klar, die haben wir. Dazu das Gericht, Gutachter und Zeugen …»

«Die Zecke hätten wir jedenfalls nicht auf der Liste gehabt», murmelte Albrecht.

«Genau. Und auch nicht die Angehörigen der einzelnen Opfer, soweit wir keine offizielle Aussage von ihnen haben. Und selbst die, die wir haben: Ich ruf sie an, bitte sie, sich vorzusehen, frage nach, ob sie in letzter Zeit irgendwelche ungewöhnlichen Bekanntschaften hatten, aber …»

«Weder bei Stahmke noch bei Professor Möllhaus hat er diesen Aufwand betrieben», führte der Hauptkommissar den Gedanken zu Ende.

Es sei denn, dachte er, Friedrichs hat recht, und der Kontakt zur Zecke war intensiver, als wir geahnt haben.

Seine Verbündete. Was hat es zu bedeuten, dass er sie jetzt getötet hat?

Hastig schob er den Gedanken auf Wiedervorlage. Faber sprach schon weiter.

«Eben», bestätigte die Stimme aus dem Telefon. «Absolut jeder, mit dem ich heute Nachmittag telefoniert habe, kann das nächste Opfer sein. Und so viele Menschen unter Personenschutz zu stellen … Sie wissen selbst am besten, wie unsere Kapazitäten aussehen.»

«Illusorisch», fasste Albrecht zusammen. «Machen Sie trotzdem weiter. Wir müssen die Leute zumindest warnen. Können Sie mir sagen, wie weit Matthiesen mit den Bestattungsunternehmen gekommen ist?»

«Er hat alles im Umkreis von fünfzig Kilometern um Braunschweig abtelefoniert. Niemand vermisst einen Sarg, niemand will unter ungewöhnlichen Umständen einen geliefert haben. Jetzt geht er die Ansprechpartner für die Friedhofskapellen durch.»

«Da kriegt man Särge?»

Ein Hüsteln. «Keine freien Särge. Aber der Täter könnte einen frei gemacht haben. Wie ich das verstanden habe, meinten Sie ja, der Sarg hätte neu ausgesehen. Also war er noch nicht unter der Erde. Doch wenn in so einer Kapelle jemand aufgebahrt ist …»

Albrecht nickte düster. Das konnte Faber natürlich nicht sehen, zog aber offenbar die richtigen Schlüsse.

«Ach ja», bemerkte der Beamte. «Nils Lehmann ist gerade zurückgekommen.»

Nach viereinhalb Stunden, dachte Albrecht. Das Fleurs du Mal lag zwei Straßen vom Revier entfernt.

«Jacqueline hat sich die Bilder angesehen, meinte aber, von denen wäre es keiner gewesen. Bei Freiligrath gar keine Ähnlichkeit, bei Wolfram vielleicht ganz, ganz entfernt. Aber der wäre wohl zu alt.»

Albrecht stieß den Atem aus. «Das Foto ist selbst schon über zwanzig Jahre alt. Jünger wird er nicht geworden sein. Wir wissen also, dass wir nichts …»

«Halt! Moment!»

«Ja?»

Neues Geraschel, ein gemurmelter Wortwechsel im Hintergrund. Matthiesen? Winterfeldt?

«Hauptkommissar?» Fabers Stimme klang belegt. «Wir …» Der Beamte holte Luft. «Eben kommt noch was rein. Der … der Aufnahmewagen von Kanal Neun. Spaziergänger haben wohl heute Mittag Reifenspuren entdeckt, unterhalb der Elbbrücke – die bei Geesthacht. Gehört schon zu Schleswig-Holstein, deshalb erfahren wir’s jetzt erst.»

«Ja? Was ist mit dem Wagen?»

Ein Pochen in Albrechts Hinterkopf, eine Vorahnung.

«Er ist gerade vom Elbgrund geborgen worden.»

Schweigen.

Albrecht musste die Frage stellen, obwohl er spürte, dass er die Antwort kannte.

«Der Kameramann?»

«Saß drin», murmelte Faber. «Gefesselt. Die Fenster waren geschlossen. Das THW meint, es hätte eine Weile gedauert, bis das Wasser eingedrungen ist.»

***

Die psychiatrische Landesklinik in Königslutter war eine Anlage, die Jörg Albrechts düstere Vorstellungen einer Irrenanstalt noch übertraf.

Das trübe Wetter trug sicherlich dazu bei, doch schon der Blick auf die dunklen Backsteinbauten aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende löste ein Gefühl der Beklemmung in ihm aus.

Mehrstöckige Gebäudeflügel umfassten krakenartig den heute als Parkplatz genutzten Innenhof. Im Hintergrund waren funktionelle Klötze zu sehen, aus Stahl, Glas und sehr, sehr viel Beton – Bausünden der siebziger Jahre. Überragt wurde alles noch einmal von einer wuchtigen, doppeltürmigen Kirche, die älter sein musste als der ganze Rest zusammen.

«Königslutter», murmelte der Hauptkommissar.

«Der König liegt da drüben.» Maja Werden war aus ihrem Wagen gestiegen und nickte hinüber zu der Domkirche. «Kaiser Lothar der Dritte. Er hat hier ein Kloster gestiftet, um dort begraben zu werden.»

Albrecht nickte stumm. Dazu war der Ort wie geschaffen.

«Das Kloster wurde während der Reformation aufgelöst. Geblieben ist der Name, und das Hospital als eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung.»

Was man seinerzeit mit Sicherheit anders ausgedrückt hätte, dachte Albrecht.

«Und Luther?», fragte er laut. «Der Reformator?»

«Ist im übertragenen Sinne zu verstehen.» Die junge Frau deutete auf einen langgestreckten Gebäudeflügel. «Lutter wie das alte Wort lauter: klar, rein und sauber. Es gibt talaufwärts eine Quelle. Der Bach fließt auf der Rückseite. Früher muss es dort eine Mühle gegeben haben. Die Schleuseneinrichtung ist im Keller noch erhalten. – Hauptkommissar?»

Tobendes, rauschendes Wasser. Menschliche Körper in der zermalmenden Gewalt der Strömung.

Wie eine nachträgliche Erklärung für die instinktive Abwehr, die Jörg Albrecht beim Anblick der Anlage gepackt hatte.

Maja Werden sah ihn fragend an, und, schlimmer, auf Friedrichs’ Gesicht stand dasselbe Fragezeichen.

«Sie sind regelmäßig hier?», fragte er statt eines Kommentars.

Die Psychologin schüttelte den Kopf. «Relativ häufig, ja, schon wegen der räumlichen Nähe und weil Professor Möllhaus hier gute Kontakte hatte. Aber ich beschäftige mich in meinem Projekt mit den Sicherungsverwahrten in ganz Niedersachsen, und die sind auf mehrere Einrichtungen im gesamten Bundesland verteilt. Psychiatrische Kliniken, aber leider auch Gefängnisse, wo man ihren Bedürfnissen kaum gerecht werden kann. Das jedenfalls wird wohl eines meiner Ergebnisse sein.»

Dafür aber den Bedürfnissen der Bevölkerung, dachte Albrecht. Dem Bedürfnis nach Sicherheit vor Straftätern, die man der Öffentlichkeit selbst nach Verbüßung ihrer Haftstrafe nicht wieder zumuten durfte.

Doch er nickte verständnisvoll. Ihm war klar, dass die Frau sich weit aus dem Fenster lehnte, wenn sie versuchte, ihnen Zugang zu Freiligrath zu verschaffen.

In einem Punkt war er sich jedenfalls sicher: Maja Werden war absolut unbestechlich. Nicht für Geld – und für gute Worte schon gar nicht. Sie hatte sich Jörg Albrechts Argumentation sehr genau angehört und hatte versucht, seinen Gedankengang auseinanderzunehmen, wie sie das auch gestern getan hatte. Und am Ende hatte sie ein Fazit gezogen und die Entscheidung getroffen, den Hauptkommissar zu unterstützen.

Zum ersten Mal in seinem Leben sah sich Jörg Albrecht mit der Frage konfrontiert, ob Psychologen womöglich ganz ähnlich arbeiteten wie er selbst.

Zumindest einige von ihnen.

Die Dinge, wie sie in Wahrheit sind, dachte er. Die Abfolge von Ursache und Wirkung. Ein Fünf-Millimeter-Schusskanal deutete auf eine Penetration durch Kleinkalibermunition hin. In der Welt der Rechtspsychologie mussten Ursache und Wirkung in einem weit komplexeren Verhältnis stehen.

Er stellte fest, dass er beachtlichen Respekt für diese junge Frau empfand.

Seine Begleiterinnen sahen ihn abwartend an. Friedrichs kannte sein Vorgehen, die Atmosphäre des Ortes wahrzunehmen. Werden erfasste es entweder intuitiv oder nahm es einfach hin.

«Wo …» Er drehte sich langsam um. Wo befindet sich der Zellenblock?, war mit Sicherheit die falsche Frage, doch die junge Frau deutete bereits nach rechts.

«Die forensische Abteilung ist im Nordflügel untergebracht. Freiligrath allerdings …»

Albrecht hob die Augenbrauen.

«Streng genommen fällt er aus der Personengruppe, die ich untersuche», erklärte sie. «Da seine Sicherungsverwahrung nachträglich verhängt wurde, war sie formal gesehen ungültig. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einer Grundsatzentscheidung …»

Der Hauptkommissar winkte ab.

«Da vorne», sagte sie und deutete geradeaus. «Im ehemaligen Schleusenhaus. – Bitte lassen Sie mich reden! Ich kann nichts versprechen, doch ich werde tun, was ich kann.»

***

Verkehrte Welt.

In den Knasteinrichtungen, die ich kannte, liefen die Häftlinge in Anstaltskleidung rum. In Königslutter trug nur das Pflegepersonal hässliche pastellfarbene Kittel, die Insassen dagegen Klamotten ganz nach ihrem Geschmack.

Ich war mir nicht sicher, ob Albrecht das ebenfalls wahrnahm. Irgendwas war seltsam mit ihm, seitdem wir hier eingetroffen waren. Als ob er plötzlich Angst hätte.

Etwas, das ich mir kaum hätte vorstellen können bei ihm – unter gewöhnlichen Umständen.

Doch ich hatte seine Augen gesehen, die plötzliche Erkenntnis, als Irmtraud Wegner den Traumfänger ins Spiel gebracht hatte.

Albrecht hatte Freiligrath nicht auf dem Schirm gehabt, und das war ein Fehler gewesen. Dabei hatte er die Serie von Verbrechen, der er letzten Endes seinen heutigen Posten verdankte, nicht etwa einfach vergessen.

Wir alle auf dem Revier, die Sekretärin, die Kollegen … Der Name Freiligrath war nicht jeden Tag gefallen, nein. Wenn überhaupt, dann senkte man automatisch die Stimme. Doch wir hatten diese Ermittlung jedenfalls nicht beiseitegedrängt, wie Jörg Albrecht das getan hatte.

Und nun würde genau dieser Fall über ihn kommen, in seiner brutalsten, unmittelbarsten Gestalt.

Maja Werden hatte uns durch eine Panzerglastür geführt, wo wir unsere Handys an einer Pförtnerloge hatten abgeben müssen. Das langgestreckte Gebäude, das locker über hundert Jahre alt war, sah von innen vollkommen anders aus, als man auf den ersten Blick hätte erwarten können. Neonbeleuchtete Flure, sämtliche Türen aus Sicherheitsglas. Unsere Führerin öffnete sie mit einem elektronischen Schlüssel, den sie aus ihrer Jackentasche gezaubert hatte. Ein, zwei Pfleger kamen uns entgegen, doch sobald die Leute Maja Werden erkannten, kontrollierte kein Mensch auch nur unsere Ausweise.

Wie eine lange verschollene Schulfreundin, dachte ich.

Irgendwie gefiel sie mir nicht mit ihren gezupften Augenbrauen, dem Pagenkopf und dieser humorlosen Art.

Von den Patienten bekamen wir nicht viel zu sehen. Zwei ältere Frauen saßen in einem Fernsehraum. Eine bewegte ständig den Mund, doch wenn sie etwas sagte, übertönte sie jedenfalls nicht die Gameshow, die auf dem Bildschirm lief.

Eine jüngere Frau mit farblosem Haar kam uns auf dem Flur entgegen, Schritte wie eine Schlafwandlerin. Ich machte Platz, damit sie an uns vorbeikonnte, doch sie blieb zögernd stehen. «Sie sagen mir doch Bescheid, ja?» Die Stimme kaum mehr als ein Flüstern. «Sie sagen mir doch Bescheid, wenn die Feuerwehr kommt?»

«Kein Problem», versicherte unser Herr und Meister.

Damit schien sie zufrieden zu sein. Ein gemurmeltes Danke, und sie war verschwunden.

Ein paar Schritte weiter ein irgendwie verwachsen aussehender Mann. Er sagte kein Wort, doch jedem, der vorbeikam, winkte er freudestrahlend zu. Verhaltensauffällig war das schon alles, aber gefährlich?

Doch schließlich befanden wir uns eben nicht in der Abteilung für die Sicherungsverwahrten.

«Maja!» Ein Mann Ende vierzig mit einem Backenbart wie aus Vom Winde verweht stand plötzlich vor uns, mit ausgebreiteten Armen. Sein fliederfarbener Kittel wies ihn als Mitarbeiter aus. «Mein Gott, wir haben es vorhin erst erfahren!»

Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, wovon er sprach.

Möllhaus. Maja Werdens Doktorvater hatte jahrelang mit der Einrichtung zusammengearbeitet.

«Bob», murmelte unsere neue Freundin.

«Dr. Robert Seidel», erklärte sie, halb im Schwitzkasten, nachdem er sie an sich gezerrt hatte, in einer Geste, die er wohl für mitfühlend hielt. «Der Chefarzt für die Stationen 62 a bis e.»

Der Mann, auf den es ankam, dachte ich.

Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Wir hatten uns den Weg durch die Instanzen sparen wollen, doch kein Ermittler konnte mal eben mit einem Insassen einer psychiatrischen Klinik sprechen, nur weil er irgendjemanden kannte, der dort ein Forschungsprojekt betreute. Nicht, bevor die zuständigen Mediziner das abgenickt hatten.

Seidel sah uns aufmerksam an, während die junge Frau uns vorstellte. Die Hintergründe ließ sie im Vagen, wobei sie auch kaum eine Wahl hatte. Schließlich war Albrecht genauso im Vagen geblieben. Sie deutete lediglich an, dass wir Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Tod des Professors führten.

Die Falten auf der Stirn des Arztes wurden mit jedem Wort tiefer.

«Das gefällt mir nicht», murmelte er. «Wir sind hier äußerst zufrieden mit den Fortschritten, die Dr. Freiligrath macht, gerade in den letzten Monaten. Wie Sie wissen, besteht unsere Aufgabe darin, die Wiedereingliederung des Patienten in die Gesellschaft vorzubereiten. Dr. Freiligrath nimmt hier äußerst regen und wirklich ganz besonderen Anteil, was – das darf ich bemerken – keineswegs selbstverständlich ist. Den meisten unserer Patienten müssen wir die Bedeutung und den Wert von Arbeit überhaupt erst wieder deutlich machen, während wir bei ihm nun wirklich …»

«Herr Dr. Seidel.» Albrecht hob beschwichtigend die Hand. «Bitte. Es liegt mir vollständig fern, Herrn Dr. Freiligrath irgendeiner Straftat zu bezichtigen. Irgendeiner neuen Straftat zumindest. Mir ist vollkommen klar, dass er hier bei Ihnen …»

«Wir sind eine geschlossene Abteilung!», unterbrach ihn Seidel. «Innerhalb ihrer jeweiligen Räume ermöglichen wir unseren Patienten ein Höchstmaß individueller Lebensgestaltung, ganz nach dem jeweiligen Geschmack und ihren Interessen. Doch das ändert nichts daran, dass sämtliche Zimmer auf allen unseren Stationen alle zwei Stunden kontrolliert werden, rund um die Uhr! Dr. Freiligrath hat sich vergangene Nacht nicht von hier entfernt! Nein, ich glaube wirklich nicht …»

«Bob?»

Maja Werden blickte ihn an, halb von unten.

Mädchenblick, dachte ich. Funktionierte fast immer, selbst bei Psychologen.

Seidel brach auf der Stelle ab.

«Bob, ich … ich weiß, dass das ungewöhnlich ist und …»

Ihre Zunge fuhr über die Lippen, eine Geste der Nervosität.

Oder verdammt gut gespielt, dachte ich.

«Ich will euch auch auf keinen Fall ins Handwerk pfuschen», erklärte die Psychologin. «Aber ich hab mir gedacht: Könnte das nicht für Dr. Freiligrath eine ganz wichtige Erfahrung sein?»

Seidel blinzelte verwirrt, doch die junge Frau wandte sich schon an unseren Chef.

«Hauptkommissar Albrecht, als wir uns vorhin unterhalten haben … Ich kann mich natürlich täuschen, aber wie ich Sie verstanden habe, hörte sich das so an, als ob Sie den Patienten eigentlich gar nicht so sehr als Zeugen vernehmen wollten, oder? Könnte man es nicht eher so ausdrücken, dass Sie wegen Dr. Freiligraths ganz speziellem Hintergrund seinen Rat suchen … als Sachverständigen?»

Ich biss die Zähne zusammen. Jetzt keinen Spruch, Friedrichs.

Ich sah Albrecht an. Alle sahen Albrecht an. Die Doktorandin hatte ihm eine goldene Brücke gebaut, doch ich spürte sein Zögern, und, nein, ich hätte in diesem Moment nicht in seiner Haut stecken wollen. Werdens Auslegung unserer Absichten war äußerst gewagt, und Albrecht musste klar sein, dass sie unter Umständen einen Haufen Probleme bringen konnte. Ein Zeuge war ein Zeuge, und das musste ihm – und allen anderen Beteiligten – mitgeteilt werden. Schon weil er bei einer Falschaussage selbst ganz schnell vor Gericht landen konnte. Ganz davon zu schweigen, dass wir höllisch aufpassen mussten.

«Doch», sagte Albrecht schließlich. «Ich denke, so könnte man es ausdrücken.»

«Bob?», wandte sich Maja Werden wieder an den Arzt. «Wirklich, ich glaube, das würde ihm guttun.»

Robert Seidel breitete die Arme aus. «Was soll ich sagen?» Vage genervt. «Wenn er bereit ist, mit Ihnen zu reden – er ist kein Gefangener.»

Mit dem Spruch, dachte ich, waren wir dann wohl quitt.

***

Jörg Albrecht atmete auf.

Die letzte Klippe war umschifft.

Maja Werden hatte keine Einwände erhoben, als er ihr erklärt hatte, dass sie bei der Unterhaltung – wertfrei formuliert – mit Freiligrath leider nicht dabei sein könne.

Das aber war zuletzt seine größte Sorge gewesen. Die junge Frau hatte mittlerweile einiges gut bei ihnen. Wenn sie auf ihrer Anwesenheit bei diesem ominösen Gespräch bestanden hätte: Mit welchem Argument hätte er ihr das verweigern können?

Weil es kein Gespräch ist, dachte er. Sondern ein Verhör.

Jedenfalls im Ergebnis. In dem, was er sich von der Begegnung mit dem Traumfänger erhoffte.

Er biss die Zähne zusammen und beobachtete, wie Maja Werden und der Arzt sich entfernten, Seite an Seite. Wie es aussah, ließ sie sich Seidels Fürsorge gerne gefallen.

Kopfschüttelnd wandte Albrecht sich ab und betrachtete einen mintgrünen Streifen, der in Hüfthöhe an der Wand entlanglief, oberhalb ein sanft violettes, unterhalb ein altrosanes Gegenstück. Der mintgrünen Markierung sollten sie folgen, zur Station 62.b, der Station innerhalb der Abteilung, auf der diejenigen Patienten untergebracht waren, deren Genesung bereits die weitesten Fortschritte gemacht hatte.

Bei Bedarf könnten sie sich vor Ort an das Stationspersonal wenden.

Albrecht nickte der Kommissarin zu.

Doch Friedrichs blieb stehen.

«Also kein Verhör?», fragte sie.

Albrecht schüttelte den Kopf. «Verhör, Gespräch, Unterhaltung. Können Sie mir verraten, wo der Unterschied liegt, solange wir nicht wissen, was wir überhaupt wollen von dem Mann? – Wir wissen drei Dinge. Erstens: Er kann nicht der Täter sein. Zweitens: Der Täter hat auf ihn verwiesen, also muss er irgendwie mit dem Fall zu tun haben, und drittens: Unser Täter wäre alles andere als erbaut, wenn er wüsste, dass wir jetzt schon Gelegenheit haben, mit Freiligrath zu sprechen. Und das, Hannah, ist unsere Chance. Dieser Mann weiß etwas. Etwas, das uns helfen kann.» Er zögerte. «Wobei es ein Problem darstellen könnte, dass wir nicht wissen, ob er seinerseits …»

«Ob er weiß, dass er weiß.» Friedrichs nickte. «Ob er weiß, dass er eine Rolle im Plan unseres Täters spielt.»

Albrecht neigte knapp den Kopf. «Exakt. Und auch wir wissen lediglich, dass er eine Rolle spielt, aber wie sie aussieht … Ob er ein Mitverschwörer ist oder ob die Taten von einem seiner Bewunderer begangen wurden und er so ahnungslos ist wie wir selbst: Alles ist möglich, und ein halbes Dutzend andere Zusammenhänge mehr. Schon deshalb wäre es schwierig, ein klassisches Verhör zu führen.

Dieser Mann hat uns etwas zu sagen, wie die Aktentasche im Institutsflur mir etwas zu sagen hatte. Und was immer es ist: Unser Täter will, dass wir es erfahren, doch noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Und das ist unsere Chance.

Alles andere … Selbst wenn er uns auf die Nase binden sollte, dass er sich erneut strafbar gemacht hat – was ich für unwahrscheinlich halte: Der Mann sitzt in einer psychiatrischen Einrichtung. Was wäre ein solches Geständnis wert? Kein Staatsanwalt käme vor Gericht mit so etwas durch. Stellen Sie sich vor, auf der anderen Seite sitzt jemand vom Schlage unseres Freundes Merz.»

Friedrichs zuckte kurz zusammen.

«Schlechte Karten», brummte Albrecht. «Ich weiß. Um ehrlich zu sein: Ob wir Freiligrath irgendwas nachweisen können, interessiert mich im Moment als Allerletztes. Diese Morde interessieren mich. Die müssen aufhören. Das steht an erster Stelle. Und zu einer Aussage zwingen können wir ihn so oder so nicht. Unter dem Strich wird uns nicht viel anderes übrig bleiben, als uns anzuhören, was er uns von sich aus erzählt. Und ich kann nicht behaupten, dass mein Herz bei diesem Gedanken höher schlägt. Also, kommen Sie!»

Nun, so dicht vor dem Ziel, fiel es ihm schwer, sich zu zügeln.

Ja, ihm graute vor der Begegnung. Er wollte den Traumfänger in die Finger bekommen, den Mann ausquetschen – vertrocknetes Obst, das seit vierundzwanzig Jahren in behördlicher Obhut vor sich hin rottete. Ihn ausquetschen, bis auch der letzte Tropfen Information zum Vorschein kam, der in Freiligraths krankem Hirn versickert war. Irgendetwas musste der Kerl wissen.

Doch eine innere Stimme sagte Jörg Albrecht, dass es nicht so einfach werden würde. Er wollte dieses Gespräch führen, doch vor allem wollte er es so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Aber gerade deswegen, gerade weil er damit rechnen musste, dass sich diese Begegnung als der zentrale Punkt in diesen Ermittlungen erweisen würde, durfte er nicht übereilt handeln.

Unter keinen Umständen durfte er seine ehernen Grundsätze über Bord werfen, wo sie einem Senkblei gleich auf Nimmerwiedersehen in die kalte, strudelnde Tiefe rauschen würden.

Er zwang sich, langsamer zu gehen.

Der Ort, dachte er. Was sagt dir dieser Ort, an dem Max Freiligrath die letzten Jahre verbracht hat? Wie fühlt sie sich an, diese schöne, neue Psychologenwelt mit ihren verschiedenfarbigen Linien, die zu den unterschiedlichen Lagerplätzen für die schwer, die schwerer und die schwerst Gestörten führen?

Gerade, weitläufige Flure. Helles Licht. Beruhigende Farben.

Klar und übersichtlich, ein fast schmerzhafter Kontrast zum verwinkelten und getrübten Verstand der Menschen, die an diesem Ort ihr Leben fristeten.

Ob sie diese klaren Gliederungen als Hilfe empfanden – oder als Hohn?

Es ist nicht ehrlich, dachte Jörg Albrecht. Nicht natürlich.

Künstliche Formen, künstliche Anordnungen der Räumlichkeiten, die dem um so vieles älteren Gebäude aufgezwungen worden waren. Wenn man sich die Mühe machte, sich auf das wahre Gefühl dieses Ortes einzustimmen, auf die Dinge, wie sie sich in Wahrheit verhielten, waren die ursprünglichen Formen noch teilweise erkennbar. Einzelne Elemente hatte man an Ort und Stelle belassen: einen reichverzierten Türsturz hier, ein schweres hölzernes Geländer dort.

Innenarchitektonische Feigenblätter.

Was fehlt, ist die Seele, dachte Jörg Albrecht.

Das neue System funktionierte, aber es war nicht echt, weil es von außen kam. Es hätte sich jedem anderen Gebäude in genau derselben Weise aufpfropfen lassen

Möglicherweise gelang es Seidel und seinen Therapeuten ja tatsächlich, eine neue, künstliche Form von Ordnung in die Hirne ihrer Patienten zu bringen. Doch diese Ordnung war artifiziell, aufgepresst von Fremden.

Sie funktionieren, dachte Jörg Albrecht.

Doch wie viel von ihnen sind sie noch selbst, wenn sie hier jemals wieder herauskommen?

Die mintgrüne Linie folgte einer Treppe ins Obergeschoss. Violett und Altrosa blieben in den Niederungen des Parterres zurück.

Eine Glastür, ohne Sicherheitssperre diesmal. Mintgrün endete unmittelbar davor in einem bunten Farbklecks mit der Aufschrift 62.b.

Albrecht hielt der Kommissarin die Tür auf.

Ein neuer Korridor, Linoleumboden, ein Dutzend Türen zu beiden Seiten. Die erste auf der rechten Seite stand halb offen. Das Stationszimmer?

Der Hauptkommissar trat einen halben Schritt vor und spähte ins Innere.

Ein schwerer Schreibtisch, im Hintergrund eine Bücherwand bis hinauf zur Deckenvertäfelung. Am Schreibtisch saß ein älterer Mann in einem hellblauen Kittel, den Kopf über eine Akte gebeugt. Im Grunde war nicht viel mehr zu sehen als das akkurat gescheitelte, silbergraue Haar.

Albrecht klopfte. Es konnte nicht schaden, wenn sie sich anmeldeten.

Der Arzt blickte nicht auf, beschrieb aber eine wedelnde Bewegung mit seinem Füllfederhalter. «Ich bin sofort für Sie da. Bitte … Wenn Sie sich so lange setzen …»

Albrecht nickte, trat ein – und stoppte abrupt, als er sah, worauf der Mann gewiesen hatte.

Eine Couch. Eine Psychologen-Couch.

Demonstrativ blieb der Hauptkommissar stehen. Friedrichs schloss zu ihm auf.

Der Arzt bemerkte nichts davon.

Er blätterte. Machte eine Notiz am Rand einer Seite, schrieb einige Worte in einen Spiralblock. Blätterte weiter.

Albrecht räusperte sich.

«Sofort.» Gemurmelt. «Bitte noch einen winzigen Moment. Ich … habe … hier … eine recht wichtige …» Eine doppelte Unterstreichung irgendwo in der Seitenmitte. «Sache.»

Er blätterte weiter.

«Jörg Albrecht», sagte Jörg Albrecht vernehmlich. «Kripo Hamburg. Meine Kollegin Hannah Friedrichs.»

Der Mediziner seufzte, verschloss sorgfältig seinen Füllfederhalter und legte ihn beiseite.

Er stand auf.

Der Mann war hochgewachsen, Typ alternder Beau. Die Sorte, die sich die Schläfen grau färbte, damit sie gleichmäßig grau wirkten. Ausgeprägte Nase, entschlossenes Kinn und sehr aufmerksame Augen.

Eine Haltung, aus der deutlich wurde, dass nicht die kleinste Regung dem Zufall überlassen blieb.

Mit zwei Schritten war er bei seinen Gästen, deutete eine Verneigung an, griff nach Friedrichs’ Hand – und führte sie an die Lippen.

«Es ist mir ein Vergnügen!», murmelte er und richtete sich auf. «Maximilian Freiligrath.»