drei
Der Moment, in dem es richtig losging, war im Rückblick der Morgen des zweiten Tages.
Hätte ich auf die Dinge vorbereitet sein sollen, die mich an diesem Tag erwarteten?
Dennis hatte in unserem Haus draußen in Seevetal auf mich gewartet. Klar, wir hatten auch einen Fernseher, und Kanal Neun war nicht der einzige Sender, der auf die Story vom unheimlichen Polizistenkiller angesprungen war. Sie liefen Margit Stahmke alle brav hinterher. Und anders als die persönliche Heimsuchung unseres Chefs saßen sie an diesem Abend nicht in einer Untersuchungszelle auf dem Revier. Während wir noch auf die Strahlenschutzexperten gewartet hatten, war der Fundort von Kerstins Leichnam bereits weiträumig abgesperrt worden. Doch draußen auf der Fuhlsbüttler Straße hatten die Kamerateams alle Zeit der Welt gehabt, ihr Equipment aufzubauen. Ein ABC-Kommando, das mit Blaulicht und Martinshorn auf den Ohlsdorfer Friedhof rollte – eindrucksvolle Bilder.
Es drehte mir den Magen um. War den Presseleuten klar, dass sie dem Täter in die Hände arbeiteten? Spielte das eine Rolle für sie? Wer auch immer für Kerstins und Hartungs Tod verantwortlich war: Er hatte genau das gewollt. Aufmerksamkeit.
Die Sache war der große Aufmacher in allen Nachrichtensendungen. Sogar bei der Talkshow hatten sie noch schnell genug geschaltet und einen Autor von Serienmörder-Thrillern sowie die üblichen Atomkritiker eingeladen.
Halb besinnungslos hatte ich neben Dennis auf dem Sofa gelegen, an seine Brust gekuschelt, und schon halb damit gerechnet, dass sie auch noch Wolfram und den Traumfänger-Fall auspacken würden.
Im Nachhinein ist das wohl einer der Momente gewesen, in denen ich hätte schalten sollen. Nur war ich leider Gottes in ebendiesem Moment bereits im Begriff davonzudämmern, eingelullt von den sonoren Stimmen aus der Glotze und dem schwachen Hauch von Dennis’ Aftershave.
Die Frage ist, ob es überhaupt einen Unterschied gemacht hätte. Zu diesem Zeitpunkt waren wir uns bereits sicher, dass uns der Täter einen entscheidenden Schritt voraus war.
Hätten wir ahnen können, dass es zwei Schritte waren oder drei?
Irgendwann, als ich mit Hilfe von anderthalb Gläsern Rotwein die notwendige Bettschwere erreicht hatte und Dennis mich mehr oder weniger ins Schlafzimmer trug, mich fragte, ob er noch irgendwas für mich tun konnte …
Klar doch, nimm mich ran, bis ich ohnmächtig werde und alles vergesse.
Nichts davon geschah. Falls doch, ist mir was entgangen.
Ich schlief wie ein Stein.
Und dann dämmerte der zweite Tag.
Wir mussten damit rechnen, dass dies der entscheidende Tag werden würde. Das Verhör mit Stahmke stand an, und Albrecht hatte mir am Abend noch verraten, dass er mich unbedingt dabeihaben wollte. Irgendwie musste ich Eindruck auf ihn gemacht haben, was ich mir nicht recht erklären konnte. Ole Hartung war tot. Kerstin war tot.
Doch ich war mindestens so scharf drauf wie Albrecht selbst, den Täter … die Täterin … die Kreatur in die Finger zu kriegen, die diese Morde zu verantworten hatte. Kerstin war meine Freundin gewesen, ihr Kind … Ich mochte nicht daran denken.
Ein düsterer Schleier lag über diesem Morgen.
Der Verkehr über die Neuen Elbbrücken war noch ekelhafter als üblich. Ich war bereits kurz davor, zu bedauern, dass ich nicht den Tunnel genommen hatte und anschließend die Strecke quer durch Altona. Einen deutlicheren Hinweis auf meinen Geisteszustand hätte es kaum geben können.
Doch wie von Zauberhand: Sobald ich die Brücke hinter mir hatte, war die Strecke auf wundersame Weise frei. Ich musste mich nur noch durch das Labyrinth der Einbahnstraßen schlagen, und schon bog ich zum Revier ab, kaum zehn Minuten später, als ich Max Faber versprochen hatte.
Der Glatzkopf hatte zwar eine natürliche Gabe, überall ein Haar in der Suppe zu finden – bei seiner Frisur erstaunlich –, doch wenn man ihn besser kannte, wurde einem klar, dass er ein Herz aus Gold hatte.
Nachdem ich bereits die vorangegangene Nachtschicht übernommen hatte und die Tagesschicht dazu, hatte Faber mir angeboten, spontan zu tauschen. Obwohl er selbst einigermaßen mitgenommen aussah nach der Sache auf dem Friedhof.
Ich überlegte schon, ob ich ihm noch ein Dankeschön besorgen sollte – doch in diesem Moment kam das Revier in Sicht.
Besser gesagt kam es nicht in Sicht. Die Straße war dicht, zugeparkt mit Pressefahrzeugen: die Privaten, die Öffentlich-Rechtlichen und Fahrzeuge, die ich einzelnen Zeitungskorrespondenten zuordnen konnte. Sogar aus dem Ausland war was dabei.
Das Herz rutschte mir in die Hose. Natürlich. Die Atomnummer.
«Jörg Albrecht», murmelte ich. «Ich will nicht in deiner Haut stecken.»
Nachdem ich das Auto auf dem Parkplatz des Reviers abgestellt hatte, gelang es mir mit Mühe, mich durch den Pulk zu schieben. Ich spitzte die Ohren, erfuhr aber lediglich, dass das, worauf all diese Leute warteten, noch nicht begonnen hatte.
Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte ich mich bis zur Tür durch, warf mich dagegen – und stolperte ins Leere.
«Oha! Guten Morgen!»
Schwankend blieb ich auf den Beinen und sah nach oben.
Markante, gebräunte Züge, ein Designeranzug, der eins meiner Monatsgehälter verschlungen hätte. Und die Zähne, die mit einem breiten Lächeln zum Vorschein kamen, als der Mann mich erkannte, hätten noch mal das Doppelte gekostet.
Joachim Merz.
Es ist natürlich überflüssig, viel über Merz zu erzählen. Joachim Merz, der Staranwalt, Joachim Merz, der Stammgast in jeder Talkshow, die auch nur entfernt mit juristischen Themen zu tun hat. Joachim Merz, der diesen Fernsehmenschen rausgepaukt hatte, dem Vergewaltigung seiner Exfrau vorgeworfen worden war, oder den Staatssekretär, dem plötzlich nicht mehr nachgewiesen werden konnte, dass er stockbesoffen gewesen war, als sich das Rentnerehepaar irgendwie unter seinen BMW verirrt hatte.
Joachim Merz eben.
Man kennt ihn.
Was mich nun anbelangt …
Es war zwei oder drei Jahre her, das Ende eines seiner legendären, spektakulären Prozesse. Ich war mehrfach in den Zeugenstand gerufen worden, und er war hart, aber trotzdem gentlemanlike mit mir umgegangen. Ganz sicher war ich mir nicht gewesen, aber ein paar Mal hatte ich das Gefühl gehabt, als versuchte er, im Angesicht von Richtern und Schöffen mit mir zu flirten.
Jedenfalls hatte ich bei der Urteilsverkündung dabei sein wollen, und im Anschluss hatte er mich mit der Frage überrascht, ob wir den Erfolg nicht mit einem Gläschen Wein feiern wollten. Nun, nach meinem Gefühl war sein Mandant diesmal tatsächlich im Recht gewesen, und irgendwie …
Eins kam zum anderen. Zwei Stunden später rief ich Dennis an, dass ich leider die Nachtschicht übernehmen müsse. Ich erinnere mich, dass er sehr verständnisvoll klang – überzeugt klang er nicht.
Kleine Geheimnisse. Auch Dennis hatte welche. Das wusste ich, seitdem ich im zweiten Jahr unserer Ehe einmal zufällig an einer Ampel neben einem unbekannten Wagen gehalten hatte, in dem ich zu meiner Überraschung meinen eigenen Ehemann entdeckte – in Gesellschaft einer schon unappetitlich üppigen Blondine.
Und ich hatte beschlossen gleichzuziehen.
Wahrscheinlich sagte es einiges über mich aus, dass Dennis nach wie vor haushoch in Führung lag. Mein einziger Punktgewinn stand mir in genau diesem Moment im Eingang des Kommissariats gegenüber und bedachte mich mit seinem Hollywoodlächeln und einem tiefen Blick seiner braunen Augen.
«Hallo, Hannah.»
Er hatte eine Stimme von dieser Sorte, die eigentlich in die Kategorie «frei ab achtzehn» fällt. Und natürlich war ihm jeder Skrupel fremd, sie auch vor Gericht einzusetzen.
«Hall…» Ich räusperte mich. «Hallo.»
Eine Bewegung in seinem Rücken. «Joachim! Worauf warten Sie noch!»
Ich erstarrte. Diese Stimme kannte ich.
Joachim Merz trat einen halben Schritt zur Seite – ich las das Bedauern in seinen Augen –, und Margit Stahmke schob sich an ihm vorbei. Ihr Blick loderte auf, als sie mich erkannte, doch sie warf nur den Kopf in den Nacken und stolzierte an mir vorbei durch die Tür.
In die Freiheit.
Raus auf die Straße, wo auf der Stelle ein Stimmengewirr losbrach und die Luft sich von den Blitzen der Fotoapparate verfärbte.
«Jo-achim!» Ungeduldig, durch die Tür.
«Was …», murmelte ich.
Mein Sündenfall schenkte mir ein letztes Augenzwinkern. «Bitte entschuldige. Ich habe den Eindruck, wir geben gerade eine Pressekonferenz.» Dann, ganz nah an meinem Ohr: «Ich hoffe, wir sehen uns bald mal wieder.»
Und weg war er.
Ich blieb stehen, wie im Fliesenboden festgewachsen, sekundenlang.
Dann löste ich mich ruckartig und stürmte die Treppe zum Revier hoch. «Albrecht! Was zur Hölle ist hier los?»
Bis zu diesem Moment war mir nicht klar gewesen, dass selbst die Glatze eines Mannes blass werden kann.
Max Faber saß an Jörg Albrechts Schreibtisch. Das Büro des Chefs war das einzige, das groß genug war, um dort Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft und den Verteidigern zu führen.
In diesem Moment sah es viel zu groß aus mit Faber als dem letzten, einsamen – und offenbar bereits skalpierten – Mohikaner.
Er sah mir entgegen, ein Häuflein Elend.
«Wo ist Albrecht?»
Ich klappte den Mund wieder zu. Das war die Frage, die ich ihm hatte stellen wollen.
Es war neun Uhr durch. In zwanzig Minuten hätte das Verhör mit Margit Stahmke beginnen sollen. Was Jörg Albrecht betraf, machte das kaum einen Unterschied. Seitdem er seine Junggesellenbude in Altona bezogen hatte, hatte ich noch kein einziges Mal erlebt, dass er nicht um Punkt acht an diesem Schreibtisch gesessen hatte, diesem dunklen Ungetüm aus Mahagoni, hinter dem Faber aus einem unerfindlichen Grund beinahe zu verschwinden schien.
«Hast du ihn angerufen?»
Ich kam halb um den Tisch herum und sah, dass die rote Lampe am Telefon hektisch blinkte.
«Das ist er nicht», murmelte Faber. «Das ist Kanal Sieben oder die Zeitung, oder …» Er stützte den Kopf in die Hände. «Was soll ich ihnen sagen? Mir fällt nichts mehr ein!»
Ich beugte mich vor und drückte zwei Tasten gleichzeitig. Das Blinken erlosch.
«Gar nichts», sagte ich. «Jetzt kommen die Anrufe bei Irmtraud an. Sie wird nicht durchstellen.»
Und zuerst einmal mussten die Presseleute eine freie Leitung kriegen. Unsere Sekretärin hatte mir nur wortlos zugewinkt, als ich durch den Flur gestürmt war. Auch der Zentralanschluss lief heiß.
«Hast du ihn angerufen?», wiederholte ich.
Faber nickte. «Auf dem Festnetz und mobil. Er geht nicht ran.»
Ich biss mir auf die Unterlippe. «Die Nacht vorher hat er mit ziemlicher Sicherheit kein Auge zugekriegt. Er war viel zu schnell am Hörer. Er muss verschlafen haben, zum ersten Mal in seinem Leben.»
Wahrscheinlich hatte er sich die Kante gegeben und war ohnmächtig, dachte ich und beneidete ihn für einen Augenblick. Doch das böse Erwachen würde kommen, ganz schnell.
«Was hat das mit der Stahmke zu bedeuten?»
Max Faber verzog das Gesicht. «Hast du den Lackaffen nicht gesehen? Der Staatsanwalt war hier, aber der ist nach fünf Minuten eingeknickt. Kein dringender Tatverdacht. Der Chef hätte garantiert irgendwas gedreht, aber wie sollte ich …»
Das Lämpchen begann wieder zu blinken.
Nachdrücklich betätigte ich noch einmal die beiden Wundertasten. Nichts geschah.
Die Tür wurde aufgerissen. Nils Lehmann. Seine Frisur, deren Konstruktion ich bis heute nicht durchschaute, hatte sich in ein Vogelnest verwandelt.
«Chef, da draußen …» Er sah sich um. «Wo ist Albrecht? Da draußen …»
«Zu Hause», sagte ich knapp. «Du holst ihn ab.»
«Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, einen Parkplatz zu finden? Unserer ist völlig überfüllt.»
«Du holst ihn ab!», versetzte ich scharf und warf ihm meinen Autoschlüssel zu. «Nimm meinen Wagen! Brich die Tür auf, wenn’s sein muss, aber bring ihn her! – Die Tür von Albrechts Wohnung», fügte ich vorsichtshalber hinzu. Ich sprach mit Lehmann, da war Vorsicht angesagt.
Irmtraud Wegner steckte den Kopf durch den Türrahmen. «Die Polizeipräsidentin ist in der Leitung!»
Ich schluckte und starrte auf das Telefon.
«Und beeil dich!», murmelte ich.
Doch Lehmann war schon verschwunden.
Sie waren gefürchtet.
Niemand im Dorf legte sich ohne Not mit ihnen an.
Sie nannten sich die Spinnenbande, nach Boris the Spider, einem Song von The Who, einer der Musikgruppen, die Svens älterer Bruder hörte.
Ein Spider, das war eine Spinne.
Warum die Spinne in diesem speziellen Song Boris hieß, blieb ungeklärt. Spinnenbande klang eindrucksvoll genug.
Sie waren zu fünft, und sie waren neun Jahre alt. Jörg Albrecht würde zehn werden, noch bevor die großen Ferien zu Ende waren, und damit war er fast selbstverständlich der Boss.
Es war kein leichter Job als Boss. Man musste immer den Durchblick haben, oder zumindest mussten Sven, Uwe, Jens und David das Gefühl haben, dass man den hatte. Doch meistens war das gar nicht so kompliziert. Wenn man keinen Plan hatte, reichte es aus, halb wissend, halb gelangweilt zu nicken und die Rede auf ein anderes Thema zu bringen, das ja nun wirklich praller war.
Jörg war sich nicht sicher, wer von ihnen das mit dem prall aufgebracht hatte. Als Boss musste er das eigentlich selbst gewesen sein. Prall war jedenfalls alles, was spannend war und möglicherweise gefährlich. Sachen, die einem von den Eltern verboten wurden. Von Davids Eltern sowieso. Aber die waren auch denkbar unprall.
Richtig prall, und da waren sich alle eilig, war hingegen das Revier.
Das Gelände hinter dem Teich war mit meterhohen Maschendrahtzäunen gesichert, und überall gab es warnende Schilder: Vorsicht, Schleusenanlage! Lebensgefahr!
Die Mitglieder der Spinnenbande waren die Einzigen, die die Lücke in diesem Zaun kannten, unsichtbar hinter einer Reihe mächtiger Kiefern.
Das Revier war ihr Hauptquartier. Hier planten sie ihre Einsätze und Expeditionen. Aus Brettern und Wellblechwänden hatten sie sich eine Höhle gebaut, in der man auch bei Regenwetter im Trockenen sitzen oder Donald-Duck-Hefte tauschen konnte oder was sonst so anstand. Die Höhle war dabei noch mal zusätzlich gesichert, weil man erst mal über den umgestürzten Baumstamm balancieren musste. Der lag quer über dem Bach, wo die Strömung noch nicht so unheimlich war wie direkt an der Schleuse.
Das Revier war der Mittelpunkt ihres Lebens in diesem Sommer, dessen Ende einer von ihnen nicht erleben sollte.
Der Juli war brütend heiß. Die Nachmittage waren nur zu ertragen, wenn man vom Baumstamm aus die Füße ins Wasser baumeln ließ. Ab und zu in den Bach spucken oder Steine reinwerfen, das war schon das Höchste der Gefühle. Abwarten, dass der Sog das Treibgut erfasste, es plötzlich mit sich riss, auf die Staumauer aus Beton zu, wo das Wasser gurgelnd, brüllend in die Tiefe stürzte.
Die Schleuse selbst war nicht schön, eher ziemlich unheimlich. Von der Schleuse hielten sie sich fern.
Dann kam der August. Noch zwei Wochen bis zum Ende der Ferien und elf Tage bis zu Jörgs Geburtstag.
Und mit dem August kam der Sturm.
Er ging mit einem Gewitter los. Jörgs Vater wurde zu einem Einsatz der Feuerwehr gerufen. Der Blitz war in eine der alten Eichen vor Bauer Lambrechts Hof eingeschlagen, und die war in die Scheune gestürzt. Noch tagelang, auch nachdem alles vorbei war und die Spinnenbande nicht mehr existierte, sollte das ganze Dorf nach Rauch und Asche stinken.
Dann kam der Regen. Zwei Tage lang schüttete es, und es schüttete dermaßen heftig, dass niemand von ihnen Lust hatte, raus ins Revier zu gehen. Sie trafen sich bei Jörg zu Hause und lasen Donald-Hefte, versuchten die Stimme von Jörgs großer Schwester auszublenden, die mit ihrer besten Freundin stundenlange Dauertelefonate führte.
Zwei Tage später hatte jeder von ihnen jedes einzelne Heft mindestens drei Mal durch. Doch als Jörg in der dritten Nacht aufs Klo musste, hörte er schon, dass der Regen sich in ein unentschlossenes Tröpfeln verwandelt hatte.
Und als er am nächsten Morgen aufstand und zum Fenster ging, war er einen Moment lang einfach nur baff. Der Himmel war unglaublich blau, wie frisch gewaschen.
«Prall», flüsterte er andächtig.
Eine halbe Stunde später waren die Angehörigen der Spinnenbande vollzählig versammelt. Jörgs Mutter schärfte ihnen ein letztes Mal ein, nicht am Teich zu spielen, was sie im Brustton der Überzeugung versicherten. Am Teich? I wo!
Nicht im Traum wäre irgendwelchen Eltern eingefallen, dass ihre Sprösslinge an der Schleuse unterwegs sein könnten. Nicht mal Svens großer Bruder wusste von ihrer Höhle – und das sollte was heißen.
Aufgeregt machten sie sich auf den Weg. Das Gras unter ihren Sandalen war feucht, und durch den Regen der letzten Tage war es mächtig gewachsen. Und das betraf nicht das Gras allein. Jörg schluckte, als er das Dickicht aus Brennnesseln sah, das sich fast über Nacht unter den Kiefern ausgebreitet hatte. Aber als Boss musste man Opfer bringen. Ohne zu zögern, stapfte er hindurch, schob die Zweige beiseite und schlüpfte durch die Lücke im Zaun. Die Jungs folgten ihm über den entstandenen Trampelpfad, David wie immer als Letzter. Jörg beobachtete, wie die andern sich Arme und Beine rieben. Er selbst biss die Zähne zusammen. Ein Boss ertrug die Juckerei ohne Klagen.
«Hey! Das gibt’s doch nicht!»
Mit offenem Mund zeigte Sven in Richtung Höhle. Jörg drehte sich um und spähte in das Halbdunkel unter dem dichten Sommerlaub der Eichen und Erlen.
Die Höhle war noch da, doch ihre Brücke, der Baumstamm: verschwunden.
«Verdammt!», zischte David. Ein Wort, das er mindestens so häufig einsetzte wie sie alle das prall. Bei David zu Hause gehörte verdammt zu den Wörtern, die man nicht aussprechen durfte.
«Ziemlich unprall», murmelte Jörg.
Zögernd bahnten sie sich den Weg zum Bachufer. Der Boden gab schmatzende Geräusche von sich, wo sie die Füße hinsetzten.
Der Bach war breiter, als sie ihn je erlebt hatten. Trüb und bräunlich wälzten sich die Fluten dahin, Mücken summten über dem Wasser.
Ein ganzes Stück bachabwärts, schon fast an der Schleusenmauer, hatte sich der Baumstamm am gegenüberliegenden Ufer zwischen den Wurzeln verkeilt.
Mit einem gut gezielten Sprung hätte man ihn vielleicht erreichen können. Aber eben nur vielleicht. Es gab praktisch keinen Platz für einen Anlauf.
«Ganz ausgesprochen unprall», bestätigte Sven. Er war auf einen vermoderten Baumstumpf geklettert, sodass er Jörg überragte. Sven war nur ein paar Zentimeter kleiner als der Boss – jetzt war er größer. Jörg sah sich rasch nach einem eigenen Baumstumpf um.
«Wenn wir …»
Beide drehten sich um.
David zog die Schultern ein. Er schien schon zu bereuen, dass er den Mund aufgemacht hatte. Doch jetzt sahen ihn alle an, auch Jens und Uwe.
«Wenn wir’s wie Tarzan machen könnten», murmelte er. «Mit den Lianen von Baum zu Baum. Aber geht ja nicht. Verdammt!»
Jörg kniff die Augen zusammen. Das Wurzelgeflecht, in dem sich der Baumstamm verklemmt hatte, gehörte zu einer Erle, und einer ihrer Äste streckte sich weit über das Wasser.
Doch der Baum war keine zehn Meter von der Schleuse entfernt.
Das Brausen und Tosen der stürzenden Flut war viel lauter als gewöhnlich. Schon hier vorn, wo das Wasser sonst noch entschlusslos dahindümpelte, war der Sog deutlich zu erkennen.
Jörg spürte, wie sich die Härchen an seinen Armen ganz langsam aufrichteten. Reflexartig rieb er mit den Handflächen darüber.
Uwe sah ihn fragend an.
«Brennnesseln», murmelte er. «Unprall.»
Ein unbehagliches Gefühl begann sich in seinem Magen auszubreiten, während sie mit vorsichtigen Schritten Richtung Schleuse gingen.
«Hmmm.» Unter der Erle legte Jörg den Kopf in den Nacken. «Wirklich richtig unprall. Zu weit oben. An die untersten Zweige kommt man ran, aber die sind zu dünn.»
«Na ja.» Sven reckte sich und bekam beim zweiten Versuch das Ende eines Zweiges gepackt. «Wenn wir sie ein Stück runterziehen und einer greift sich dann den dickeren da oben …»
«Könnte klappen.» Uwe klang nicht voll überzeugt, aber so nahe an der Stelle, an der das Wasser gegen die Staumauer traf, mussten sie sowieso fast brüllen.
Wenigstens übertönte es die Geräusche, die Jörgs Magen von sich gab.
Und die wurden stärker: Sven schien bereits die Entfernung abzuschätzen.
In diesem Moment begriff Jörg, dass das seine letzte Chance war. Wenn Sven da rüberkam, dann war es vorbei. In der Höhle lagen jede Menge lose Bretter. Wenn Sven die holte, konnten sie bestimmt eine Art Brücke basteln, sogar ein Stück bachaufwärts, von der gurgelnden Tiefe weg. Aber was das bedeuten würde, war klar: Eine Woche vor seinem zehnten Geburtstag würde Jörgs Karriere an der Spitze der Spinnenbande ein abruptes Ende finden.
«Na gut.» Gelangweilt zuckte er die Schultern. «Spring ich eben rüber.»
«Das schaffst du nie!» Davids Stimme zitterte. «Boss, echt. Lass das!»
Jörg nahm ihn nicht zur Kenntnis.
«Los!», gab er Anweisung. «Zieht die Zweige runter!»
Ihm war schwindlig. Das Brausen des Wassers hatte auf seinen Kopf übergegriffen.
Vielleicht einen Meter vom Ufer entfernt ragte ein Teil des Baumstamms aus dem Wasser. Jörg wusste, dass er so weit springen konnte, auch ohne Anlauf und ohne Tarzan-Lianen. Doch der Stamm sah glitschig aus, und wie fest er zwischen den Wurzeln hing, ließ sich unmöglich sagen.
Das Wasser brüllte.
Aber wenn er sich nach vorn warf, sobald sein Fuß die Rinde berührte? Da gab es den Stumpf eines abgebrochenen Asts. Wenn er den zu packen kriegte … Er musste es einfach probieren.
Die anderen Jungen streckten sich und zogen die Erlenzweige zentimeterweise nach unten.
Jörg holte Luft. Er sprang. Seine Finger schlossen sich um die Liane.
Der Schwung trug ihn über das Wasser. Weiter, weiter, als er gehofft hatte! Er spürte, wie sein Herz einen Sprung machte. Seine Füße, die Rinde!
Er rutschte weg.
Ein Ruck.
Was genau in den nächsten Sekunden geschah, sollte Jörg sich erst wesentlich später zusammenreimen können. In diesem Moment ging alles zu schnell.
Plötzlich hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen. Kälte schloss sich um ihn und nahm ihm den Atem. Er schrie, doch im nächsten Moment füllte das Wasser seinen Mund.
Tatsache war, dass der Stamm sich aus seiner Verankerung gelöst hatte. Das Ende, das unter Wasser gelegen hatte, trieb plötzlich nach oben, wobei der abgestorbene Baum gleichzeitig eine Drehung um die eigene Achse beschrieb. Unmöglich, sich festzuhalten.
«Boss!»
Unsichtbar für Jörg war der Stamm mit dem hinteren Ende zurück gegen das Ufer getrieben, an dem die anderen Mitglieder der Spinnenbande entsetzt ihre Zweige losgelassen hatten.
Jetzt bildete er plötzlich wieder eine Brücke. Doch sie war viel, viel unsicherer als vorher. Und zehn Meter entfernt toste die Flut über die Schleusenmauer.
«Boss!»
In genau diesem Moment geschah, womit niemand hatte rechnen können.
David machte einen großen Schritt nach vorn und schob sich an Sven, Jens, Uwe vorbei. Seine Füße platschten durchs Wasser, erreichten den Stamm.
«Boss!»
Gurgelnde Schwärze in Jörgs Ohren. Etwas drückte ihn unter Wasser. Keine Luft. Ein undeutlicher weißer Schatten griff nach ihm, zog ihn … zog ihn nach oben …
«Boss, ich hab dich!»
Keuchend klammerte er sich fest. Nur noch ein winziges Stück.
«Du schaffst es!»
Jörg sollte nie erfahren, was der letzte Auslöser war.
Vielleicht war es neues Treibgut, das gegen den Stamm stieß. Vielleicht kam einer der anderen Jungs zu nah ans Ufer, sodass das Wurzelgeflecht plötzlich nachgab.
Die Hand ließ ihn los. Jörg sackte zurück, packte blindlings zu, ins Nichts, in Zweige, Wurzeln, die zum jenseitigen Ufer gehörten.
Die Hand, die Stimme.
David.
«Verdammt!»
Ein schemenhafter, heller Gegenstand schoss durch Jörgs Blickfeld, auf die Staumauer, die brüllende, schäumende Tiefe zu.
Traf hart gegen die Mauer, konnte sie nicht überwinden.
Und versank in der brodelnden Flut.
Sven, Jens und Uwe riefen Davids Namen. Und Jörgs eigenen. Und …
«Boss! Boss!»
Die Schwärze griff nach ihm, doch er durfte die Wurzeln nicht loslassen.
Das Tosen und Brüllen, ein Klopfen und Poltern und ein anderes Geräusch. Eine gedämpfte Stimme.
«Chef!»
Jörg Albrecht fuhr in die Höhe.
Die Türklingel.
«Chef, hören Sie mich?»
Lehmann.
Sein Puls jagte.
Auf Hauptkommissar Jörg Albrechts Zunge lag der Geschmack von Tod und braunem Wasser.
Der Traum, die Erinnerung war seit Jahren nicht so deutlich gewesen.
«Und können Sie noch richtig schlafen?»
Achtung, dachte ich, Fangfrage.
Wir saßen in der Teeküche des Reviers. Faber, ich selbst und ein halbes Dutzend Kollegen, die sich durch die Traube von Journalisten hatten kämpfen können, die das Gebäude nach Margit Stahmkes effektvollem Abgang weiterhin belagerte. Irmtraud Wegner hatte auf meine Anweisung hin den Hörer danebengelegt und lehnte an der Anrichte.
Vor uns flimmerte der altersschwache Fernseher, den wir kurz nach meinem Einstieg beim PK von den Steuermillionen der braven Bürger angeschafft hatten.
Die gestresst wirkende Frau, der das Mikrophon – Kanal Sieben diesmal – unter die Nase gehalten wurde, schüttelte heftig den Kopf. «Als Mutter ist man ja ständig in Sorge.» Sie nickte zu ihrer kleinen Tochter, die versuchte, sich vor der Kamera zu verstecken. «Dschamilia weiß, dass sie nicht mit Fremden mitgehen darf. Aber wenn einer einfach so rumläuft und die Leute mit Atom vergiftet?»
Der Reporter nickte mit ernster Miene. «Wobei sich der Täter bisher auf Polizeibeamte zu konzentrieren scheint», merkte er an. «Aber fragen wir weiter. – Haben Sie sich schon einen Geigerzähler besorgt?»
Mir genügte der Gesichtsausdruck des Rentners, dem das Mikrophon nun vor den Mund gehalten wurde. Ich schaltete den Ton ab.
«Mit Ole Hartung hat er ihren Voyeurismus bedient», sagte ich leise. «Jetzt sät er Panik.»
«Oder sie», murmelte Faber. «Aber du hast schon recht: Erschlag mich, aber diese ganze Planung und Berechnung, das sieht nach einem Mann aus.»
Ich nickte, war selbst aber keineswegs überzeugt. Nach meiner Erfahrung konnten Frauen mindestens ebenso berechnend sein. Seitdem ich auf dem Kommissariat war, hatten wir zwei Fälle von Pflegerinnen gehabt, die über einen langen, langen Zeitraum ihre bettlägerigen Patienten über den Jordan befördert hatten. Aus Geldgier in einem der Fälle, aus schierer Arbeitsüberlastung im zweiten. Ich war mir nicht sicher, welcher von beiden mir unheimlicher war.
Aber ich hätte darauf wetten können, dass wir wie so oft nur die Spitze des Eisbergs kannten.
Und letztendlich: Was brachte es uns, wenn wir das Täterfeld von hundert auf fünfzig Prozent der Bevölkerung eingrenzen konnten?
Was wir brauchten …
«Bericht!»
Jörg Albrecht rauschte in den Raum. Anzug und Mantel saßen perfekt wie immer, doch seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Der Anblick jagte mir einen Schreck ein.
«Isolde Lorentz hat angerufen.» Irmtraud Wegner hielt ihm einen ihrer tödlichen Koffeincocktails hin. «Sie will Sie dringend sprechen.»
Er griff nach dem Kaffee, während er mit der anderen Hand seine Nasenwurzel massierte.
«Kann mir vorstellen, warum», sagte er, nachdem er einen Schluck genommen hatte. «Bitte erzählen Sie mir etwas Erfreuliches! Irgendwas. Faber?»
Der Glatzkopf wurde bleich. «Ich konnte nichts machen! Merz ist einfach reinmarschiert, und der Staatsanwalt …»
Der Hauptkommissar hob die Hand, nahm noch einen Schluck.
«Das ist ärgerlich.»
Nur dieser eine Satz, und ein winziges Aufflackern in seinen Augen. Mehr nicht.
Wahrscheinlich war ich die Einzige im Raum, die ansatzweise eine Vorstellung davon hatte, wie verärgert und, ja, bestürzt er über das Verschwinden der Frau war, die unsere wichtigste, womöglich sogar einzige Spur dargestellt hatte.
Und es gab niemanden, dem er die Schuld dafür geben konnte als sich selbst. Wieder einmal. Und ich hatte keinen Zweifel, dass er das auch voll perverser Wollust tun würde.
Allerdings war er viel zu klug, das hier und jetzt und obendrein vor dem ganzen Team zum Thema zu machen.
Albrecht winkte ab. «Der Staatsanwalt kann auch nur die Fakten prüfen, und in diesem Fall waren die Fakten gegen uns. Wir mussten die Zecke vom Tatort wegkriegen. Das war das Wichtigste. Es ist schlimm genug, wenn ein Mensch stirbt, und alle stehen drum rum und keiner kann was tun …»
Sein Blick ging an mir vorbei zum Fenster. Was sieht er wirklich, dachte ich. Etwas an ihm war anders heute Morgen. Etwas wie ein Zweifel, ein Selbstzweifel, der vorher nicht da gewesen war.
Oder den er zumindest gut versteckt hatte.
Er schüttelte den Kopf. «Es ist nicht auch noch notwendig, dass jemand mit unseren Toten Geld verdient.»
Unsere Toten. Meine Kehle wurde eng. Unsere Toten, in mehr als einer Beziehung.
Es war so unvorstellbar, dass Ole Hartung und Kerstin jetzt nicht hier mit uns im Raum saßen. Dass sie nie wieder hier sitzen würden. Dass Kerstin nicht in ein paar Monaten von dem neuen Baby schwärmen würde, wie sie das bei Raoul getan hatte.
Dennis war heute zu Hause geblieben und hatte versprochen, zu Oliver Ebert zu fahren, damit er einen Menschen zum Reden hatte. Doch ob Oliver heute an ihr Segelboot … Mary. So hatten sie das Boot getauft. Oliver war für Sophie gewesen, doch da hatte sich Kerstin auf die Hinterbeine gestellt. Falls das Baby nämlich ein Mädchen …
Plötzlich war mir schrecklich übel.
«Wir kriegen dieses Schwein!»
Einen Moment lang konnte ich die Stimme nicht einordnen.
Dann begriff ich, dass es meine eigene war.
Albrecht sah mich an. Eine Sekunde lang glomm etwas in seinen Augen auf, ein geheimes Einverständnis. Doch im nächsten Moment wirkte er einfach nur müde.
«Das werden wir», sagte er. «Doch zuerst einmal müssen wir feststellen, an welchem Punkt wir stehen. Stahmke wäre eine vage Hoffnung gewesen, doch wahrscheinlich hätte sie sich auf dieselbe Weise rausgeredet wie beim letzten Mal: anonymer Hinweis, Informantenschutz. Über Eberts Leiche kann jeder gestolpert sein. Das ist nicht zwingend Täterwissen.»
«Aber wenn sie den Mund aufgemacht hätte, hätte sie sich sofort entlasten können», gab ich zu bedenken.
Albrecht verzog das Gesicht. «Hatte sie das nötig, wenn dieser Schnösel für sie arbeitet?»
Ich biss die Zähne zusammen.
«Im Grunde kennen wir sämtliche Antworten.» Er sah zum Fenster. Dasselbe Grau in Grau wie gestern, heute ohne Regen bisher.
«Dann müssen sie mir gerade entfallen sein», murmelte Faber.
Unser Herr und Meister nickte. «Nach Sokrates sind Frage und Antwort untrennbar miteinander verbunden. In dem Moment, in dem wir eine Frage formulieren können, kennen wir auch die Antwort. – Möglich, dass wir sie vergessen haben, aber viel wahrscheinlicher ist, dass wir schlicht die falschen Fragen stellen. Wenn wir lernen, die richtigen Fragen zu stellen, klären wir den Fall. Wer ist der Täter und warum handelt er? Wer und was ist in Wahrheit sein Ziel?»
Er brach ab, als wäre ihm plötzlich klar geworden, dass er mehr gesagt hatte, als er eigentlich hatte sagen wollen.
«Haben wir von Euler einen Bericht über den Friedhof?», fragte er stattdessen.
Faber schüttelte den Kopf. «Er hat sich noch nicht gemeldet.»
Albrecht nickte. «Euler arbeitet sorgfältig.»
So konnte man es auch ausdrücken. Aber Albrechts Zweckoptimismus in allen Ehren: Hatte der Mann keinen Fernseher? Selbst wenn er keinen hatte, konnte ihm der Presseauftrieb unter dem Bürofenster wohl kaum entgangen sein.
«Was machen Sie mit der Polizeipräsidentin?», fragte ich.
«Wegen der Atomgeschichte?» Er winkte ab. «Gehen Sie einem Menschen aus dem Weg, der frisch aus dem Röntgenlabor kommt? Isolde Lorentz ist nicht dumm. Wenn sie ein, zwei Experten auftut, die den Leuten einigermaßen einleuchtend erklären, dass wir zwar mit einem grauenhaften Verbrechen konfrontiert sind, die Strahlung aber für die Allgemeinheit ungefährlich ist, ist die Sache morgen aus den Nachrichten raus.»
Damit sollte er recht behalten, was allerdings zu diesem Zeitpunkt niemand von uns ahnen konnte. Und selbst ein Jörg Albrecht hätte wohl kaum Wert darauf gelegt, unter solchen Umständen recht zu behalten.
«Und wegen der Stahmke-Geschichte?», hakte ich nach.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. «Keine Sorge», brummte er. «Ich bleibe Ihnen erhalten. Zumindest bis dieser Fall abgeschlossen ist. Isolde Lorentz ist wirklich nicht dumm.»
Ich schluckte. Den letzten Gedanken brauchte er nicht auszusprechen. Falls in den kommenden Tagen noch der eine oder andere von uns das Zeitliche segnen sollte, würde unsere verehrte Dienstherrin der Öffentlichkeit einen Schuldigen präsentieren müssen.
Das konnte entweder der Täter sein – oder der Mann, der gerade vor uns stand.
Er sah von einem zum anderen. «Unsere Aufgabe besteht darin, diesen Fall aufzuklären. Alles andere ist unwichtig. Niemand wird mich von etwas anderem überzeugen. Und wir werden …»
«Wir haben was!»
Ich zuckte zusammen. Nils Lehmann stand im Türrahmen. «Ein Anruf, aber nicht von der Presse! Eine Zeugin! Eine Frau, die Kerstin auf dem Friedhof gesehen hat!»
Zeit, dachte Jörg Albrecht. Ich brauche Zeit.
Ein wenig davon hatte er sich erkauft, indem er Faber auf dem Präsidium hatte anrufen lassen. Der Hauptkommissar werde gegen Mittag persönlich vorbeikommen, um Isolde Lorentz über spektakuläre neue Erkenntnisse zu informieren, die sich gerade aus einem Verhör ergeben hätten.
Ein frommer Wunsch.
Die Frau, die ihm und Friedrichs gegenübersaß, trug Schwarz. Sie war Anfang vierzig, ungefähr so alt wie David Martenbergs Mutter gewesen war, als ihr Sohn in der Schleuse ertrank. Frau Martenberg, die Nachbarin von Albrechts Eltern, an die er sich von diesem Tag an nur noch in Schwarz erinnern konnte, bis die Familie weggezogen war.
Die Mitglieder der Spinnenbande tanzten in seinem Kopf Ringelreihen, und in ihrem Zentrum thronte Heiner Schultz und stieß eine unheilverkündende Nikotinwolke aus:
Die Frage ob Sie ein Held sind, Jörg, ist in der Tat abwegig.
Der Hauptkommissar biss die Zähne zusammen.
Er durfte nicht zulassen, dass die Vergangenheit in diesem Moment wieder Macht über ihn gewann. Er war der Boss. Schon wieder. Das Revier und seine Menschen: Das war seine Verantwortung.
Und deshalb musste die Vergangenheit ruhen.
«Danke, dass wir sofort kommen durften», sagte er.
Die dunkel gekleidete Frau neigte nur den Kopf. Martha Müller, gebürtige Rumänin mit deutschen Vorfahren. Die Personalien hatten sie bereits aufgenommen.
Hannah Friedrichs’ Notizblock lag einsatzbereit auf dem Küchentisch der Dreizimmerwohnung in einem Wohnsilo in Eppendorf. Während sie der Frau in die Küche gefolgt waren, hatte Albrecht einen ersten Eindruck gewonnen. Alles sehr aufgeräumt, aber auch eine Menge Kitsch. Eine Spätaussiedlerfamilie, nein, eine Spätaussiedlerwitwe. In jedem Zimmer das Schwarzweißfoto eines Mannes in Albrechts Alter, mit Trauerflor. Selbst über der Spülmaschine.
«Valentin hat im Hafen gearbeitet.» Martha Müller hatte seinen Blick bemerkt. «Am sechzehnten Mai hatte er einen … Unfall. Sie haben ihn noch ins Krankenhaus gebracht, aber in der Nacht ist er dann …» Sie holte Luft.
Albrecht nickte und sah auf die blank geputzte Tischfläche.
Wie oft brechen wir in den Alltag von Menschen ein, dachte er. Wir stehen vor der Tür, und wenn sie uns sehen, verändern sich ihre Gesichter. Manchmal sind nicht einmal unsere Ausweise notwendig. Als wenn sie etwas ahnten. Doch selbst wenn wir es offen aussprechen: Ihr Mann, Ihre Tochter, Ihr Vater, Bruder, bester Freund ist tot. Begreifen können sie es nicht in diesem Moment.
Wir können sie nur ein kleines Stück begleiten, ihnen Genugtuung bieten, indem wir einen unnatürlichen Todesfall aufklären.
Doch von dem, was danach geschieht, wissen wir nichts. Die Trauer müssen sie ein Leben lang tragen, ganz alleine. Wie jeder Mensch. Auch die, die keinen anderen Schuldigen ausmachen können als eine Krankheit oder einen Unfall.
«Ich bin jeden Tag bei ihm», sagte Martha Müller und strich das Synthetikgewebe ihres Rocks glatt. «In Ohlsdorf.»
«Auch gestern also.» Albrechts Worte waren eine Feststellung.
Die Frau steckte mitten in ihrer eigenen Trauerarbeit. Wie er sie einschätzte, legte sie keinen Wert darauf, Dinge zu erklären, die für sie selbstverständlich waren.
«Auch gestern», bestätigte sie. «Ich komme bei jedem Wetter. Gestern war ich die Einzige dort.»
Er kniff die Augen zusammen. «Zu meinem Kollegen sagten Sie …»
«Die Frau, die sie im Fernsehen gezeigt haben.» Sie unterbrach ihn, ohne die Stimme zu heben. Noch immer derselbe erloschene Blick, doch er konnte sehen, dass dort etwas vorging. «Ihre Kollegin?»
«Kerstin Ebert», erklärte Friedrichs. Nur Albrecht hörte ihre Ungeduld. «Sie wohnte ganz in der Nähe des Friedhofs.»
«Sie war fast jeden Tag dort. Im Sommer hatte sie oft einen kleinen Jungen dabei.»
«Raoul.» Die Kommissarin klang heiser.
«Ihr Sohn», übernahm der Hauptkommissar. «Aber gestern muss sie allein dort gewesen sein.»
Martha Müller schüttelte den Kopf. «Gestern habe ich sie nicht gesehen.»
Albrecht antwortete nicht, sondern sah sie abwartend an. Die Jahre als Ermittler hatten ihre Spuren hinterlassen. Er spürte, ob ein Zeuge noch etwas zu sagen hatte oder ob die Aussage an dieser Stelle beendet war.
Vorausgesetzt, der Zeuge war gewillt zu reden. Manche Menschen warteten trotzdem noch auf ein Stichwort, doch er war sich sicher, dass Müller nicht zu ihnen gehörte.
«Ich weiß nicht, ob das für Sie wichtig ist …», begann die Frau.
Albrecht merkte, wie Friedrichs an seiner Seite Luft holte, und unterdrückte ein Lächeln. Gerade die wichtigsten Aussagen begannen regelmäßig mit diesen Worten.
Müllers Schultern strafften sich. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.
«Ich muss gleich sagen, dass ich mich nie mit einem von den beiden unterhalten habe.» Sie sah zwischen Albrecht und Friedrichs hin und her. «Weder mit Ihrer Kollegin – noch mit dem Mann.»
«Ein Mann?»
Sprach Überraschung aus Friedrichs’ Tonfall oder genau das Gegenteil?
«Ein alter Mann.» Martha Müller nickte. Wieder der unbewusste Griff nach ihrem faltenlosen Synthetikrock. «Auch einer von denen, die jeden Tag da sind. Ich weiß nicht, ob er zu einem bestimmten Grab gehört … also, ob er jemanden besucht. Ich hatte immer das Gefühl, er fährt einfach nur spazieren.»
«Er fährt?»
«In einem Rollstuhl. So einem einfachen, ohne Motor.»
Albrecht wechselte einen Blick mit der Kommissarin. Ein alter Mann in einem Rollstuhl.
«Können Sie ihn genauer beschreiben?», fragte er.
Müller legte die Hände im Schoß ineinander. «Ein alter Mann eben. Weiße Haare. Er hatte ein Tuch um den Hals, selbst als es richtig heiß war. Über den Knien eine Decke.» Sie betrachtete ihren Rock.
«Wie alt ungefähr?»
Müller hob die Schultern. «So alt, dass er im Rollstuhl fahren muss. Er hat … ja, er hat eine Brille. Zumindest beim Lesen. Wenn er ihr vorgelesen hat.»
«Er hat Kerstin vorgelesen?»
Der Hauptkommissar warf Friedrichs einen Blick zu. Das hätte man als Unglaube interpretieren können. Zur Schau getragener Unglaube machte Zeugen manchmal gesprächiger.
Dabei allerdings nicht zuverlässiger.
Die Frau im schwarzen Kostüm zögerte. «So sah es für mich aus, ja. Nicht jedes Mal natürlich. Manchmal haben sie sich einfach nur unterhalten, oder sie sind spazieren gegangen. Also, sie hat ihn geschoben.»
«Sie hat ihn geschoben», murmelte Friedrichs. Diesmal war der Unglaube unüberhörbar.
«Die beiden kannten sich also?», fragte Albrecht rasch.
Müller nickte. «Ja, auf jeden Fall. Aber sie sind nie zusammen gekommen. Ich bin mir sicher, dass sie sich erst auf dem Friedhof getroffen haben. Ich habe mir immer vorgestellt …»
«Ja?» Der Hauptkommissar betrachtete sie aufmerksam.
Die Frau seufzte. «Wissen Sie, es ist irgendwie seltsam auf dem Friedhof. Ich meine, wenn das Wetter schön ist, sind eine Menge Leute da. Manche joggen einfach nur oder fahren Fahrrad, weil der Park und alles so schön ist, aber … Ich meine jetzt diejenigen, die jemanden besuchen. Die sind fast immer allein. Die sind immer einsam.» Ihre Stimme wurde leiser, ihre Hände bewegten sich unruhig. «Manchmal ist es so, dass ich mir Geschichten ausdenke zu den Leuten, die ich immer wieder treffe. Und bei den beiden habe ich mir irgendwie vorgestellt, dass sie sich dort kennengelernt haben. Beide einsam. Seine Familie ist vielleicht tot, und sie … Vielleicht gibt es keinen Vater mehr zu dem Kind, mit dem sie schwanger war. Das sah man ja deutlich. Also keinen, mit dem sie noch zusammen ist.» Sie schüttelte plötzlich den Kopf. «Zusammen war.»
«Bitte sprechen Sie weiter!»
Albrecht spürte ein Prickeln im Hinterkopf. Ein Warnzeichen, auf das zu achten er gelernt hatte. Er war lange genug in seinem Beruf, um zu wissen, wie wichtig Eingebungen waren. Und eine innere Stimme sagte ihm, dass Martha Müller ein Mensch war, der über ganz außergewöhnliche Instinkte verfügte.
Hannah Friedrichs’ Blick dagegen sagte ihm, was die Kommissarin von der ganzen Sache hielt.
Nicht sonderlich viel.
Martha Müller breitete die Hände aus. «Ich habe mir vorgestellt, dass sie sich irgendwie gefunden haben. Vielleicht hat er sich immer eine Enkeltochter gewünscht, und sie … Sie brauchte einen Menschen, mit dem sie reden konnte. Jemanden, der so gar nichts mit ihrem Leben zu tun hatte, das sie sonst führte. Dem sie Dinge anvertrauen konnte, weil er die Menschen in ihrem Leben einfach nicht kennt. Und den hat sie gefunden.»
«Das war Ihr Eindruck?»
Müller zögerte und schüttelte dann den Kopf. «Kein Eindruck», sagte sie. «Ein Gefühl.»
«Danke.» Albrecht nickte und sah fragend zu Friedrichs.
Die Kommissarin betrachtete ihren Schreibblock. Unübersehbar, was sie von diesen Notizen hielt.
Doch das hatte keinen Einfluss auf ihr dienstliches Verhalten.
«Wir werden Ihnen jemanden vorbeischicken, der mit Ihrer Hilfe versuchen wird, ein Bild zu gestalten», erklärte sie kühl.
«Ein … Phantombild?»
«Genau», bestätigte Albrecht. Das war das gängige Prozedere.
Doch zumindest in diesem Punkt war er sich sicher, dass Friedrichs und er die Sache ähnlich sahen. Das Bild des alten Mannes im Rollstuhl würde genauso wenig erkennbare Konturen annehmen wie die Frau mit der Catwoman-Maske im Fleurs du Mal.
Er bedankte sich noch einmal und stand auf. Auf dem Weg zur Tür fiel sein Blick auf ein kleines gerahmtes Bild direkt neben dem Durchgang, das er beim Eintreten nicht hatte sehen können. Eine gezeichnete Gestalt: ein Mann mit einem roten Mantel über den Schultern, der mit der rechten Hand einen Stab in die Höhe streckte. Vor ihm stand ein Kelch, über seinem Kopf schwebte eine liegende Acht.
«Der Magier», sagte die Frau in seinem Rücken leise. «Die Karte eins des Tarot.»
«Tarot.» Der Hauptkommissar betrachtete das Bild.
Außergewöhnliche Instinkte, dachte er. Interessant, wozu sie sich nutzen ließen.
«Ich habe lange nicht …» Müller schüttelte den Kopf. «Aber ich mag diese Karte. Sie zeigt, dass alle Wege offen sind. Alles ist möglich.»
Er nickte langsam. «Ich verstehe. Ja, Sie haben recht. – Vielen Dank, Frau Müller, Sie haben uns sehr geholfen.»
Wer eine Weile mit unserem Herrn und Meister gearbeitet hatte, gewöhnte sich eigentlich recht schnell ab, sich über ihn zu wundern.
Mit ist klar, dass das etwas sonderbar klingt, nachdem ich so viel über ihn erzähle.
Tatsache ist jedenfalls, dass man sich bei Jörg Albrecht felsenfest darauf verlassen konnte, dass man sich bei ihm auf nichts verlassen konnte.
Die Begegnung mit der Kartenlegerin hatte mir das wieder gezeigt.
Albrecht war der akribischste, analytischste Mensch, den ich in meinem Leben kennengelernt hatte. Dieser Blick für Details, für winzigste Spuren, die kein normaler Mensch überhaupt als Spuren wahrgenommen hätte, das war schon beinahe unheimlich.
Doch in Wahrheit war dieses Vorgehen eben etwas völlig anderes: Es war eine Wissenschaft. Dimensionen der Kriminalistik, bei denen ich mir im Nachhinein vielleicht manchmal dachte: Hey, da hättest du jetzt auch hintersteigen können, wenn deine kleinen grauen Zellen mal ein bisschen schneller gearbeitet hätten. Aber wenn ich ehrlich zu mir war, musste mir klar sein, dass mein Kommissarinnensachverstand eben einfach seine Grenzen hatte.
Und was soll’s: Ein Ermittlergenie pro Abteilung reichte schließlich aus.
Trotzdem war diese Sache mit der Hokuspokus-Tante selbst für Jörg Albrechts Verhältnisse einigermaßen gruselig gewesen.
Während ich neben ihm auf diesem Sofa gesessen hatte, hatte ich mich zeitweise ernsthaft gefragt, ob er da womöglich gerade irgendwelche magischen Schwingungen empfing.
Jedenfalls hatte er in dieser Müller irgendwas gesehen, das ich ganz eindeutig nicht sehen konnte. Und was ihre rührselige Geschichte mit der schwangeren Frau und dem einsamen Opi anbetraf …
Standing on a beach with a gun in my hand
Staring at the sea, staring at the sand
Diesmal saß Albrecht am Steuer. Bevor er eine Bemerkung zu meinem Klingelton loslassen konnte, hatte ich die Rufannahme gedrückt.
«Ja?»
«Halten Sie sich fest!» Martin Euler.
Natürlich hielt ich mich fest. Schließlich saß Albrecht auf dem Fahrersitz.
«Kerstin Ebert ist nicht am Grab von Gustav Hertz gestorben», kam es aus dem Handy.
Überrascht hob ich die Augenbrauen. Sie hatte grausam entstellt ausgesehen, aber gleichzeitig auf eine schwer zu beschreibende Weise friedlich … Ich hatte darum gekämpft, mir vorzustellen, wie sie nach all der Angst und Panik, die sie gespürt haben musste, als sie erkannte, was mit ihr und dem Kind passierte, am Ende einfach aufgegeben hatte. Dass sie trotz allem friedlich eingeschlafen war.
«Wir glauben, dass wir die Stelle sogar schon gefunden haben, an der er sie getötet hat.»
Wieder er. Dabei konnte Martin Euler noch gar nichts wissen von dem Opa.
Per Bluetooth war das Handy mit der Freisprechanlage verbunden. Albrecht hatte die Augen geradeaus, doch er hörte sehr genau zu.
«Ein Mausoleum», erklärte Euler. «Gar nicht weit von dem Eingang, durch den man von Kerstin Eberts Wohnviertel aus auf den Friedhof kommt. Die Toten sind in Bleisärgen beigesetzt worden. Blei ist nach wie vor der zuverlässigste Schutz gegen nukleare Strahlung. Wenn wir uns vorstellen, dass der Täter dieses Mausoleum kannte … Die Schlussfolgerungen sind natürlich Ihre Sache, doch …»
«Es hat geregnet», murmelte ich. «Er könnte ihr vorgeschlagen haben, sich unterzustellen. Und als er sie genau an dem Punkt hatte, an dem er sie haben wollte, hat er seine Höllenmaschine abgefeuert. Wie auch immer die ausgesehen hat.»
«Da haben die Kollegen vom Strahlenschutz noch unterschiedliche Theorien – aber genau so könnte es gewesen sein.»
Ich nickte. Simpel. Grauenhaft simpel. Doch dann stutzte ich.
«Wie weit ist es von diesem Mausoleum zum Fundort der Leiche?», fragte ich.
«Etwa anderthalb Kilometer.»
Ich schüttelte den Kopf. Wie sollte er Kerstins Körper über eine so weite Strecke …
«Euler?»
«Hauptkommissar?»
Albrecht sah weiter geradeaus, aber lächelte er?
«Euler, sind die Spuren des Rollstuhls deutlich genug, dass Sie das Fabrikat bestimmen können?»
Ein Japsen vom anderen Ende, dann: «Ja. Vermutlich.»
«Danke.» Albrecht setzte den Blinker zum Revier. «Sie haben uns sehr geholfen.»
Für den Moment sah er ausgesprochen zufrieden aus.
Ole Hartung.
Kerstin Ebert.
Zwei Namen auf dem Whiteboard.
Und darunter eine Menge freier Platz. Mehr als mir lieb war.
Bei allem Verständnis für die rationelle Arbeitsweise unseres Herrn und Meisters: Hätte er nicht einfach irgendwas da hinschreiben können?
Solange es nicht gerade Max Faber, Nils Lehmann oder – ich schluckte – oder Hannah Friedrichs war. Oder, oder, oder …
Bis vorgestern waren wir vierzehn Beamte auf dem Kommissariat gewesen, plus Irmtraud Wegner. Wenn unser Täter in der bisherigen Frequenz weitermachte – zwei Tote am Tag –, würde es im Besprechungsraum bald ziemlich einsam werden.
Und ziemlich voll auf der Tafel.
«Wer?» Jörg Albrecht deutete auf das Wort ganz oben links. Direkt darunter hatte er zwei Begriffe vermerkt:
-
Maskenfrau
-
Alter Mann
«Bezüglich des Täters ist es gegenwärtig schwierig, klare Aussagen zu treffen», erklärte er. «Nach Lage der Dinge müssen wir davon ausgehen, dass die beiden Mordfälle zusammenhängen. Doch ergibt sich daraus zwingend, dass beide Taten von derselben Person begangen wurden?»
«Serienmörder arbeiten meistens allein», meldete sich Lehmann.
«Richtig.» Der Hauptkommissar nickte. «Doch wenn wir als Hypothese davon ausgehen, dass die Morde mit einer unserer zurückliegenden Ermittlungen zusammenhängen, dürfen wir die organisierte Kriminalität nicht außer Acht lassen.»
Ich nickte. «Also möglicherweise mehrere Beteiligte.»
«Was ich persönlich für eher unwahrscheinlich halte», fuhr Albrecht fort. «Doch selbstredend können wir eine Ermittlung unmöglich auf der Basis von Wahrscheinlichkeiten führen.»
Seltsam, dachte ich. Der letzte Satz klang irgendwie wie auswendig gelernt.
«Bisher fehlt uns streng genommen sogar ein konkreter Beweis, dass überhaupt ein Zusammenhang mit unserer Arbeit besteht», erklärte er.
«Aber Ole und Kerstin waren Beamte auf diesem Revier.» Das war Max Faber, ganz hinten am Tisch. «Was sollte es sonst sein?»
«Sie waren Polizisten», bestätigte der Chef. «Und sie gehörten zu einer Ermittlungsgruppe, die im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht. Wenn wir eines mit Sicherheit sagen können, dann ist es das: Der Täter gibt sich keinerlei Mühe, seine Taten zu verschleiern. Im Gegenteil: Er sucht die Öffentlichkeit. Und die kann er auf diese Weise erreichen. Spektakuläre Morde an Polizisten sind ein sicherer Weg in die Medien. Aufmerksamkeit, das ist im Augenblick sein Ziel.»
«Und dass die Leute durchdrehen», ergänzte Faber.
«Exakt. Eine gesteigerte Form von Aufmerksamkeit. Darüber hinaus können wir angesichts seines technischen und medizinischen Wissens davon ausgehen, dass unser Täter über eine bemerkenswerte Intelligenz, einen bemerkenswerten Bildungsgrad verfügt. Sowohl die Tatsache, dass Kommissar Hartung Skrotum und Penis mit klinischer Präzision entfernt wurden, als auch die ungewöhnliche Methode, mit der Kommissarin Ebert getötet wurde, sprechen für eine sorgfältige, ja, ich möchte sagen: wissenschaftliche Arbeitsweise. – Widerspruch hierzu?»
Kopfschütteln ringsum.
Albrecht nickte und hob den Stift. «Und, schließlich, falls wir der Ein-Täter-Hypothese folgen, versteht er sich außerdem auf Verkleidungen.»
-
sucht die Öffentlichkeit
-
intelligent
-
wandlungsfähig (?)
Drei Notizen neben der Maskenfrau und dem alten Mann.
«Das sind die Dinge, die wir mit mehr oder weniger großer Sicherheit über den Täter wissen. Alles andere fällt in den Bereich der Spekulation. Oder hat noch jemand weitere Vorschläge?»
«Er muss die Sache seit langer Zeit geplant haben», warf ich ein. «Martha Müller hat Kerstin und den Opa seit dem Sommer beobachtet. Und was Ole Hartung betrifft …» Ich zögerte, sah mich zu den Kollegen um. «Könnt ihr euch vorstellen, dass sie ihn an dem Abend einfach auf der Straße angesprochen hat?»
Max Faber schüttelte den Kopf. «So war Ole nicht. Wie auch immer er auf diesen Stuhl gekommen ist: Er war vorsichtig. Er muss diese Frau gekannt haben. Wenn sie eine Frau …»
Albrecht winkte ab, nickte und fügte einen vierten Punkt an:
-
plant lange im Voraus
«Das war es?» Fragend sah er uns an.
Zögernd nickten wir.
«Das», betonte er, «sind die Dinge, die wir über den Täter wissen. Doch das Wer hat eine zweite Dimension. Wer sind die Opfer? Was verbindet sie?»
«Hatten wir das nicht schon?», fragte ich. «Sie waren unsere Kollegen.»
«Richtig. Deshalb werden wir unsere zurückliegenden Fälle systematisch durchgehen. Faber.» Er zögerte. «Seydlbacher. Matthiesen. Sie drei machen das.»
Ein dreistimmiges, mühsam unterdrücktes Stöhnen. Nein, sonderlich attraktiv klang diese Aufgabe nicht.
Ob sie in Fabers Fall vielleicht doch eine subversive kleine Rache darstellte, dass Stahmke entwischt war? Alois Seydlbacher war unser Quotenbayer, während einen bei Matthiesen das beklemmende Gefühl überfiel, in einem Schwarzweißfilm gefangen zu sein, so farblos war der Mann. Zumindest waren in diesem Team eine Menge unterschiedlicher Ansätze versammelt. Vielleicht war das von Vorteil.
«Diese Aufgabe ist wichtig.» Albrecht hob den Folienschreiber. «Aber wir müssen sie im Zusammenhang mit einer zweiten Frage betrachten: Warum Hartung und Ebert? Warum nicht Sie?» Die Spitze des Eddings stach nach Lehmann. «Oder Sie? Oder Sie?» Ich schluckte. «Oder Sie?»
Ein halblautes «Joa, hammas denn noch?» aus Richtung Seydlbacher.
«Was zeichnete sowohl Kerstin Ebert als auch Ole Hartung aus, abgesehen davon, dass sie unsere Kollegen waren? Eine Frau von Anfang vierzig, ein Mann kurz vor der Pensionierung. Wo sind die Gemeinsamkeiten?»
«Sie waren verheiratet.» Das war Lehmann.
«Beide hatten Kinder.» Matthiesen.
«Sie waren beide schon ein halbes Leben dabei», meldete sich Faber. «Schon bei Horst Wolfram.»
Albrecht notierte.
-
verheiratet
-
Kinder
-
lange Dienstzeit in der Abteilung
«Was noch?»
«Die Familien waren befreundet», sagte ich zögernd.
Das war ein Gedanke, der mir ganz und gar nicht gefiel. Bis gestern, bis zu meinem Besuch bei Sabine Hartung, war mir nicht klar gewesen, dass die Eberts und die Hartungs so dicke miteinander waren. Aber natürlich wohnten sie nah beieinander, und die Kinder waren sicherlich auch eine Verbindung, obwohl sie altersmäßig ein ganzes Stück auseinander waren.
Doch vor allem war Kerstin meine Freundin gewesen! Nicht mit Ole Hartung, sondern mit Dennis hatte Oliver Ebert das Segelboot gekauft.
Unser Chef betrachtete mich. Mit den Albrechts war keiner von uns wirklich befreundet gewesen, auch nicht bevor seine Joanna mit ihrem Zahnarzt durchgebrannt war. Doch ich war mir sicher, dass in diesem Kriminalistenhirn Fächer und Registraturen für so ziemlich alles vorhanden waren. Eingeschlossen das Privatleben der Kollegen.
Meine eigensten, finstersten Ahnungen: Ich glaubte förmlich zu spüren, wie er sie mir aus der Nase zog wie lange, haarige Würmer.
-
befreundet (?)
Albrecht schrieb das Wort an das Whiteboard. Mit einem unübersehbaren Fragezeichen.
Das ließ sich ja auswischen, falls Hannah Friedrichs die Namen im Zentrum der Grafik zu einem Dreigestirn ergänzte.
«Weitere Gemeinsamkeiten?»
Er sah auf die Uhr. Automatisch tat ich dasselbe. Für zwölf Uhr mittags hatte ihm Isolde Lorentz einen Audienztermin zugesichert. Auch Jörg Albrecht kannte seine Grenzen. Er würde sie nicht warten lassen.
«Gut.» Er nickte und betrachtete noch einmal das Schaubild.
Diese Visualisierung gehörte zum Standardwerkzeug der Ermittlungsarbeit und lief anderswo längst über Powerpoint und Excel-Tabellen. Doch irgendwie hatte diese analoge Form etwas Behagliches.
Normalerweise zumindest. Solange man sich nicht zum Kreis der potenziellen Opfer zählen musste.
«Dann verteilen wir die Aufgaben. – Friedrichs?»
Fragend sah ich ihn an.
«Sie waren bei Frau Müller dabei – und Sie kennen die Familie Ebert am besten.» Klar, dass er das gewusst hatte. «Wir haben Martha Müller nicht ausdrücklich danach gefragt, aber sie hat uns berichtet, dass sie Kerstin Ebert sowohl mit ihrem Sohn als auch mit dem alten Mann im Rollstuhl gesehen hat. Falls der Junge den Täter ebenfalls gesehen hat, war er mit Sicherheit sehr viel näher dran. Fahren Sie bitte noch einmal zur Wellingsbütteler Landstraße und schauen Sie, ob Sie mit dem Kind sprechen können.»
«Mit Raoul?» Meine Stimme überschlug sich. Alles in mir wehrte sich gegen diesen Gedanken. Der Junge war fünf! Er hatte heute Nacht seine Mutter verloren! Hatte er das überhaupt schon erfahren? Konnte er es begreifen, wenn er es erfahren hatte?
«Das Kind ist ein Zeuge.» Ich sah die Entschlossenheit auf Jörg Albrechts Gesicht. Auch, dass ihm nicht wohl war bei der Sache, sah ich, doch er würde nicht nachgeben. «Wenn Sie wollen, sprechen Sie zuerst mit dem Witwer, doch ich sage Ihnen voraus: Weder hat er diesen alten Mann jemals zu Gesicht bekommen, noch weiß er überhaupt etwas von dessen Existenz. Unser Täter konzentriert sich auf seine Zielperson. Für alle anderen, gerade die Menschen in ihrer Umgebung, bleibt er ein Phantom. Der Junge könnte die eine entscheidende Ausnahme sein. Gerade weil es unwahrscheinlich erscheint, dass wir mit ihm ein Gespräch führen. – Bitte, Hannah! Sie können das. Es ist wichtig.»
Ich nickte, so abgehackt, dass mir der Nacken wehtat.
Der Hauptkommissar holte Luft. «Lehmann?»
«Ja?» Ein Blinzeln. «Ich hab mir gedacht, ich spreche noch mal mit Jacqueline.»
Diesmal blinzelte Albrecht überrascht zurück.
«Was willst du sie fragen?», knurrte Max Faber. «Ob Catwoman auch ein Rentner im Rollstuhl gewesen sein kann?»
«Er saß nicht im Rollstuhl», widersprach Nils Lehmann. «Ich meine: Er saß schon im Rollstuhl, aber das war ein Teil seiner Tarnung. Den Rollstuhl brauchte er für Kerstin.»
Ich nickte. Das stimmte mit Sicherheit.
«Das könnte durchaus noch was bringen mit Jacqueline», erklärte Lehmann. «Vielleicht fallen ihr ja sogar noch Namen von Kunden ein, die an dem Abend da waren, und einer von denen kennt womöglich den Täter. Ich habe das Gefühl, ich bekomme langsam Zugang zu ihr.»
«Aha.» Albrecht musterte ihn. Ein einziges Wort konnte Bände sprechen.
Doch dann sah er auf die Uhr. Jeder von uns wusste, dass die Fahrt nach Winterhude um diese Uhrzeit kein Vergnügen war. Wenn der Anlass eine Besprechung mit Isolde Lorentz war, war sie das eigentlich nie.
«Gut», sagte der Chef. «Dann machen Sie das. Und wenn Sie dort fertig sind …» Kunstpause, die nächsten Worte besonders betont: «… also spätestens gegen sechzehn Uhr, setzen Sie sich mit Winterfeldt zusammen.»
Ein Nicken in die letzte Reihe. Hinter einem Laptopbildschirm hob sich eine bleiche Hand und winkte in die Runde, als bestände sie komplett aus Gummi. Der Rest der Gestalt blieb verborgen. Marco Winterfeldt war unser Fachmann für die Computerarbeit. Besonderes Kennzeichen: Heavy-Metal-Mähne. Sah man aber nur in dem seltenen Fall, dass er hinter seinem Computer zum Vorschein kam.
«Sie beide werden sich Hartungs Rechner vornehmen», erklärte Albrecht. «Hartung hat den Auftrag für das Fleurs du Mal vor mehreren Monaten bekommen. Madame Beatrice und Jacqueline sagen aber übereinstimmend aus, dass er vorgestern Abend zum ersten Mal persönlich dort war. Die Frage ist: Was hat er bis zu diesem Zeitpunkt gemacht? Wenn er die Person, die ihn getötet hat, nicht aus dem Club kannte, woher kannte er sie dann? Ich befürchte zwar, dass diese Person zu vorsichtig ist, nachvollziehbare Spuren zu hinterlassen, doch es ist zumindest eine Chance. Alle übrigen Anwesenden widmen sich bitte den neuen Hinweisen, die seit heute Morgen eingegangen sind. Irmtraud bereitet Ihnen gerade eine Liste vor.»
Ich sah die Begeisterung auf den Gesichtern.
Albrecht war schon an der Tür, blieb aber noch einmal stehen.
«Eins noch, und das gilt für Sie alle, ganz gleich, mit welcher Aufgabe Sie sich befassen: Ich möchte, dass Sie sich überlegen, ob es irgendjemanden gibt, mit dem Sie in der letzten Zeit näher bekannt geworden sind. Auf eine Weise, die eigentlich eher ungewöhnlich ist für Sie persönlich. Jemand, der die Bekanntschaft vielleicht von sich aus gesucht hat und der zum Rest Ihres Lebens keine rechte Beziehung hat. Jemand, von dessen Existenz – aus welchen Gründen auch immer – selbst die Menschen, die Ihnen am nächsten stehen, nichts ahnen. Versuchen Sie einen längeren Zeitraum zu überblicken. Die letzten Monate. Die letzten ein oder zwei Jahre. – Das war’s. Danke.»
Und weg war er.
Der Raum leerte sich. Lehmann war gleich hinter dem Chef durch die Tür verschwunden. Faber, Seydlbacher und Matthiesen fanden sich zu einem wenig begeisterten Grüppchen zusammen, gingen dann gemeinsam.
Ich blieb sitzen. Ich musste bei Oliver Ebert anrufen, und mir war jetzt schon schlecht, wenn ich an das Gespräch mit dem kleinen Raoul dachte.
Doch das stand für diesen Moment im Hintergrund.
Es waren Albrechts letzte Worte, sein letzter Arbeitsauftrag.
Jemand, mit dem ich mich auf eine Bekanntschaft eingelassen hatte, auf eine Weise, die untypisch für mich war. Jemand, von dem meine engste Umgebung nichts ahnte – selbst Dennis nicht. Jemand, der von sich aus diese Bekanntschaft gesucht hatte.
Teure Anzüge und noch teurere Schuhe.
Und noch teurere Zähne.
Ich hoffe, wir sehen uns bald mal wieder.