zwei

Sie sind ein Goldstück, Irmtraud», murmelte Jörg Albrecht müde.

Die Sekretärin trat zwei Schritte zurück, musterte ihn kritisch und tupfte noch einmal mit dem lippenstiftartigen Gegenstand über seinen Hemdkragen. Ich staunte. Die Blutflecken, die Sabine Hartungs Attacke dort hinterlassen hatte, waren verschwunden.

«Danke», brummte Albrecht.

Irmtraud Wegner neigte den Kopf, zögerte dann.

«Seit dem Fernsehbericht kriegen wir einen Anruf nach dem anderen rein. Sie wissen schon: unsere üblichen Augenzeugen.»

«Hmpf.» Ein unartikulierter Laut. Albrecht kramte in seinen Schreibtischschubladen, vermutlich auf der Suche nach Taschentüchern.

«Ich notiere die Nummern, dann können wir später zurückrufen», schlug Irmtraud vor. «Oh, und Ihre Schwester …»

«Die Nummer hab ich!», knurrte der Hauptkommissar, tauchte mit einer Packung Kleenex wieder auf. «Besprechungszimmer», sagte er knapp. «In fünfzehn Minuten.»

Wir gingen wortlos. Wenn der Chef in dieser Stimmung war, kämpfte man gegen den Impuls, sich unter wiederholten Verneigungen rückwärts aus seinem Büro zu entfernen.

«Sie waren bei den Hartungs?», fragte Irmtraud leise, als wir auf dem Flur standen. Die kugelrunde Sekretärin sah selbst müde aus. Ich fragte mich, ob jemand sie aus dem Bett geholt hatte, wie ich das bei Albrecht gemacht hatte. Wenn ich zur Tagesschicht auf dem Revier eintraf, saß sie regelmäßig schon auf ihrem Platz am Ende des langen Korridors – dem einsamen, windstillen Auge des Sturms, wenn sich die Dienststelle während eines komplizierten Falls in ein Chaos verwandelte. Irmtraud Wegner in ihren zeltartigen Kostümen in immer exakt demselben Schnitt, aber unterschiedlichsten geschmacksfernen Mustern.

Ich schwieg. Das war die deutlichste Antwort. Ich sehnte mich nach einem Kaffee.

Irmtraud bewies ihre Gabe als Gedankenleserin, schob sich hinter die Empfangstheke und goss mir wortlos einen Becher von ihrem einzigartigen, magenzerfetzenden Gebräu ein. Ich führte den Becher an die Lippen, spürte, wie sich mein Körper auf der Stelle mit ein paar Herzschlägen außer der Reihe bedankte, und nickte ihr lächelnd zu.

Doch ihr Blick blieb ernst. «Das wird eine ganz üble Sache», sagte sie leise.

Wieder neigte ich nur schweigend den Kopf. War es das nicht schon? Sie musste Ole Hartung besser gekannt haben als jeder andere von uns. Ich warf einen Blick auf unsere Ahnengalerie, die Gruppenfotos der jeweils aktuellen Mannschaft, die alle fünf Jahre aufgenommen wurden. Die beiden waren schon seit Wolframs Zeiten auf dem Revier.

Auf dem Revier gewesen, korrigierte ich in Gedanken. Was Hartung anbetraf.

Wir sahen uns an. Ich spürte, dass Irmtraud etwas sagen wollte. Ja, sie hatte Ole Hartung gekannt, und was in den nächsten Tagen auf uns zukam, war wirklich eine perverse Situation. Wir, die wir normalerweise die Ermittlungen führten, würden gleichzeitig Zeugen sein. Ich war mir nicht sicher, ob Vorschriften existierten, dass Jörg Albrecht den Fall unter diesen Umständen abgeben müsste. Er würde mit Klauen und Zähnen darum kämpfen, ihn zu behalten.

«Man hat wenig von Ole Hartung gesehen in letzter Zeit», sagte ich schließlich, als mir klar wurde, dass sie von sich aus nicht sprechen würde. «Irgendwo habe ich gehört, dass er zu einem Auftrag abgestellt war, aber dass das dieser Schuppen war …»

Ein Stück den Flur runter wurde eine Tür geöffnet, schloss sich aber sofort wieder. Ich hörte halblaute Stimmen. Und noch immer hatte ich das Gefühl, dass Irmtraud etwas sagen wollte. Doch der Moment würde jeden Augenblick vorbei sein. Die ersten Mitarbeiter kamen von der Bernhard-Nocht-Straße zurück, es waren nur noch ein paar Minuten bis zum Meeting im Besprechungszimmer.

Die Sekretärin sah mich an, zögerte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. «Ein reiner Routineauftrag und von oben abgesegnet», sagte sie. «Alles protokolliert. Da muss sich der Chef keine Sorgen machen, dass ihm jemand einen Strick draus dreht.»

Nein, dachte ich. Das ist auch unnötig. Das macht er schon ganz alleine.

Doch warum war ich mir so sicher, dass ihr etwas völlig anderes auf der Zunge gelegen hatte?

Ich öffnete den Mund, doch im letzten Moment überlegte ich es mir anders. Und fünf Sekunden später ging am Ende des Flurs die Tür auf, Lehmann und Faber kamen herein, und der Augenblick war vorbei. Zeit für das Meeting.

Jeder von uns trägt in seinem Kopf seine Leichen mit sich herum. Bei Jörg Albrecht ist es Ole Hartung und die halbe Welt, bei mir sind es diese fünf Sekunden.

Diese fünf Sekunden Schweigen, die ich mir nicht verzeihen werde, so lange ich lebe.

***

Sieben der vierzehn Stühle im Besprechungszimmer waren besetzt. Kerstin Ebert befand sich im Mutterschutz, und der alte Hansen war seit sechs Wochen krankgeschrieben. Wir rechneten nicht mehr damit, dass er wieder zurückkommen würde. Die übrigen Kollegen hielten entweder die Stellung im Fleurs du Mal oder waren bei ihren aktuellen Einsätzen nicht zu entbehren.

Und Ole Hartung war tot.

«Sie alle arbeiten von nun an bis auf Weiteres am Fleurs du Mal-Fall.» Eine typische Jörg-Albrecht-Begrüßung.

Der Chef sah nicht viel besser aus als vor einer Viertelstunde, aber er hatte wenigstens die Blutspuren aus seinem Gesicht entfernt. Die Wunde war natürlich trotzdem sichtbar, doch niemand am Tisch schien sie zur Kenntnis zu nehmen. Geschichten wie die von seiner Begegnung mit Sabine Hartung machten auf überlichtschnelle Weise die Runde auf dem Revier.

«Faber?»

Der glatzköpfige Beamte neben Nils Lehmann blickte auf.

«Sie waren zuletzt an der Cornelsen-Sache?»

Faber nickte. «Sie hatten eine Rund-um-die-Uhr-Beschattung angeordnet, doch bisher …»

«Wenn in zwei Wochen nichts dabei herausgekommen ist, wird das auch nicht mehr passieren. Ist etwas herausgekommen?»

«Nicht …» Faber räusperte sich. «Nicht direkt.»

«Gut. Dann ist das erledigt.»

Ich sah, wie der Glatzkopf die Schultern sinken ließ. Wir waren alle mitgenommen an diesem Morgen. Keiner von uns hatte das, was mit Ole Hartung geschehen war, auch nur ansatzweise verdaut. Doch bei Faber kam vermutlich noch ein zweites Element hinzu: Beschattungen gehörten zwar zu den langweiligsten Jobs überhaupt. Wenn das Zielobjekt allerdings zu den oberen Zehntausend gehörte und in den feinsten Restaurants verkehrte, gab es sicher unangenehmere Methoden, seine Dienststunden rumzukriegen.

«Lehmann?»

Unser Jüngster sah blinzelnd auf. Irgendwie hatte man bei ihm jedes Mal das Gefühl, er wäre kurz eingenickt.

«Von Ihnen bekomme ich noch die Dokumentation über diese …»

«Die Antonioni-Brüder?»

«… diese Schweden.»

«Die auch.» Lehmann nickte eifrig.

«Stellen Sie das zurück! Wir arbeiten jetzt am Fleurs du Mal-Fall. Dem Ole-Hartung-Fall.»

Er fuhr sich durchs Haar. Albrechts Schopf war grauer geworden, seitdem wir uns kannten, und heute Nacht schienen mehrere helle Strähnen dazugekommen zu sein.

Doch er hatte jede einzelne Ermittlung, an der jeder einzelne Beamte arbeitete, auf dem Schirm, konnte sie jederzeit abrufen. Ausgenommen, dachte ich, Ole Hartungs Untersuchungen in der Bernhard-Nocht-Straße.

Jörg Albrecht trat an das Whiteboard, das fast die gesamte Stirnseite des Besprechungszimmers einnahm, griff sich einen Edding und schrieb in die Mitte der freien Fläche den Namen Ole Hartung.

«Ein Beamter wurde getötet», begann er. «Ob dies in Ausübung seines dienstlichen Auftrags geschehen ist, gehört zu den Fragen, die wir uns vornehmen müssen. Doch es ist nicht die vorrangige Frage. Ein Mensch ist durch Fremdverschulden ums Leben gekommen, und damit stellen sich wie bei jedem Tötungsdelikt zwei Fragen, die wichtiger sind als alle anderen: Wer?» Er notierte das Fragewort oben links in der Ecke. «Und: Warum?» Unmittelbar darunter. «Alle anderen Fragen – Wann genau? Wie, auf welche Weise? – bilden lediglich Schritte auf dem Wege dorthin. Wichtige Schritte allerdings.» Er schloss kurz die Augen. «Die Frage nach dem Wo können wir bereits mit großer Sicherheit beantworten. Nach Eulers Analyse ist der Auffindungsort ohne Zweifel auch der Tatort.»

Sofort kam das Bild von Hartungs fixiertem Leib zu mir zurück. Die Pfütze aus geronnenem Blut, die sich unter seinem Schritt ausgebreitet hatte. Ich nickte. Nein, da gab es nicht die Spur eines Zweifels.

«Wir alle wissen, in was für einer Gegend sich unser Tatort befindet.» Albrecht sah in die Runde. «Und wir alle wissen, dass wir noch vor ein, zwei Jahren zu diesem Zeitpunkt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Bild unserer tatverdächtigen Person auf dem Tisch gehabt hätten. Etwas undeutlich und verschwommen, aber immerhin. Ebenso, wie wir alle wissen, dass die stationären Überwachungskameras auf der Reeperbahn am 15. Juli 2011 nach einem Gerichtsbeschluss abgeschaltet werden mussten.»

Ich räusperte mich. «Soviel ich weiß, war das eine freiwillige Entscheidung des Innensenators, oder? Mit ein paar Einschränkungen hätten die Kameras weiterlaufen dürfen.»

«Exakt», knurrte der Chef. «Mit verpixelten Haus- und Kneipeneingängen! Den Geranien im Planten un Blomen hätten wir weiter beim Wachsen zusehen dürfen. Vergessen Sie’s! – Lehmann?»

Ein Blinzeln.

«Sie haben die Fernsehmenschen erreicht?»

Nils Lehmann nickte. «Sie behaupten, sie hätten das Bildmaterial von einem Informanten, dessen Identität sie nicht aufdecken wollen. Anscheinend haben sie einfach ein Team zur Bernhard-Nocht-Straße geschickt, und als sie unsere Fahrzeuge gesehen haben, wussten sie, dass an der Sache was dran sein muss.»

«Der Täter – die Täterin – schickt ihnen ein Beweisfoto als Trophäe?», meldete sich Faber. «Und sie weigern sich, uns Informationen zu geben? Dürfen die das?»

Ich drehte mich zu ihm um. «Wir haben keinen Beweis, dass die Fotos vom Täter stammen. Um drei Uhr zweiundzwanzig ist der Anruf auf der Dienststelle eingegangen. Danach hat es fast zehn Minuten gedauert, bis die erste Streife vor Ort war. Und wir wissen nicht, wer alles Zugang zu dem Zimmer hatte, bevor sie uns alarmiert haben.»

«Euler wird die Fingerabdrücke sichten», brummte Albrecht. «Wir können sie dann mit denen der Mädchen abgleichen. Doch dann kommen noch die Kunden dazu, vielleicht sogar welche, die wir nicht erfassen konnten, weil sie den Schuppen bereits verlassen hatten. Und irgendwo dazwischen unsere Verdachtsperson.»

Ich schüttelte den Kopf. «Unwahrscheinlich.»

Fragend sah er mich an.

«Catwoman», sagte ich. «Die Maske. Das war eindeutig die Latex-Variante. Jemand sollte noch mal mit Jacqueline reden deswegen, aber wenn sie so eine Montur anhatte, gehörten mit ziemlicher Sicherheit auch Handschuhe dazu.»

Albrecht fluchte unterdrückt und brummte etwas, das ich nicht verstand. Und ich glaubte auch zu wissen, warum.

«Sie dürfen das für uns übersetzen», sagte ich müde.

Sein Lächeln war nicht mehr als ein Schatten, aus dem Erschöpfung sprach. «Altgriechisch», murmelte er. «Sokrates. Wenn wir wissen, dass wir nichts wissen – dann ist schon das beachtlich.»

Was für Aussichten. Mein Gedanke spiegelte sich auf sämtlichen Gesichtern rund um den Tisch.

Wir standen ganz am Anfang.

Und konnten doch nicht ahnen, dass das in jeder Hinsicht zutraf.

Dass der Albtraum gerade erst begonnen hatte.

***

Ole Hartung war tot.

Jörg Albrecht saß an seinem Schreibtisch, den Kugelschreiber in der Hand. Ole Hartung ist tot. Er stand kurz davor, den Satz niederzuschreiben. Als wenn er einen zusätzlichen Beweis brauchte. Einen Beweis, der noch deutlicher war als der entstellte Leib, den er mit eigenen Augen gesehen hatte, oder das dumpfe Pochen in seiner Wange.

Das menschliche Hirn war eine sonderbare Angelegenheit. Es konnte Dinge in Sekundenschnelle erfassen – und gleichzeitig ein halbes Leben brauchen, um sie wirklich zu begreifen.

Warum sonst wachte er noch immer jeden Morgen in dem Bauernhaus in Ohlstedt auf, das Joanna und er mit dem Geld …

Der Kugelschreiber knallte ein paar Zentimeter neben der Tür gegen die Wand und zersplitterte in seine Einzelteile.

«Scheiß auf das Geld!», knurrte Albrecht.

Er wollte einfach nur sein Leben zurück. Joanna, die beiden Mädchen. Diesmal würde er es besser machen, würde seine Toten dort lassen, wo sie hingehörten, würde nicht mehr …

Aber so etwas wie eine zweite Chance gab es nicht. Jörg Albrecht hatte auf ganzer Linie versagt, als Ehemann wie als Leiter des Kommissariats.

«Ich war nie da», murmelte er. «Selbst wenn ich dort war.» In Ohlstedt genauso wie hier auf der Dienststelle. Er hatte nichts, aber auch gar nichts von dem gewusst, was im Fleurs du Mal vorging, nicht einmal, ob es überhaupt einen Fall gab. Er hatte Ole Hartung die Sache aufgedrückt und sie einfach vergessen. Hatte er nur ein einziges Mal nachgefragt, was sich dort entwickelte? Albrecht zermarterte sich das Hirn, versuchte sich an eine einzige Gelegenheit zu erinnern. Ein einziges Wort zwischen Tür und Angel, das die Schuld auf seinen Schultern erträglicher machen würde. Doch da war nichts.

Versagt.

Nein, er hatte Hartung keine Anweisung gegeben, sich an diesen Stuhl fesseln und zu Tode foltern zu lassen.

Doch genau das musste geschehen sein. Die ersten Verletzungen, die er auf dem Stuhl erlitten hatte, die spielerisch zugefügten Verletzungen: Allem Anschein nach hatte Ole Hartung die Kaschemme freiwillig betreten. Was sprach dagegen, dass er sich auch freiwillig auf diesen Stuhl gesetzt hatte?

Was sprach dagegen – mit Ausnahme des Bildes, das die Kollegen auf der Dienststelle bis zur vergangenen Nacht von Ole Hartung gehabt hatten?

Wenn dieses Bild nicht all die Jahre hindurch ein falsches Bild gewesen war, gab es nur eine Möglichkeit: Ole Hartung selbst hatte sich im Laufe der vergangenen Monate verändert.

Und genau das wäre nicht eingetreten, wenn Jörg Albrecht den Mann nicht mit einem völlig ungeklärten Auftrag in diesen Schuppen geschickt hätte. Ole Hartung wäre niemals mit diesem Dreck und dieser Dunkelheit in Berührung gekommen. Er hatte sich im Dunstkreis des Fleurs du Mal umgesehen, und irgendetwas dort musste eine verborgene Ader in seinem Innern angesprochen und ihn auf den Geschmack gebracht haben.

Die dunkle Seite. Sie hätte niemals die Chance bekommen, einen Ehemann, einen Vater zweier Kinder, einen Kriminalbeamten kurz vor der Pensionierung von innen her zu vergiften.

Doch Jörg Albrecht hatte ihm den Schierlingsbecher gereicht.

Er stützte den Kopf in die Hände. Das Pochen in seiner Wange verwandelte sich in einen spitzen Schmerz.

Denken. Versuch nachzudenken!

Hatte Ole Hartung sich in den letzten Wochen ungewöhnlich verhalten?

Hatte er vielleicht beiläufig etwas erwähnt, dem keiner der Kollegen eine besondere Bedeutung beigemessen hatte?

Hatte er abwesend gewirkt?

Der Hauptkommissar konnte es nicht sagen.

Im Anschluss an das Meeting hatte Albrecht die Aufgaben neu verteilt. Hannah Friedrichs war noch einmal auf dem Weg zu Hartungs Witwe. Inzwischen verfluchte sich Albrecht dafür, dass er die Kommissarin heute Morgen mitgenommen hatte. Sabine Hartung würde sofort wieder an die Begegnung erinnert werden. Doch was blieb ihm übrig? Kerstin Ebert befand sich im Mutterschutz und Friedrichs war die einzige Frau im Team. Den Besuch durch einen männlichen Beamten wollte er in Anbetracht der Umstände weder der Witwe noch einem seiner Kollegen zumuten.

Und sie hatten keinen anderen Ansatz, ausgenommen Jacqueline, mit der sich in diesem Moment der junge Lehmann unterhielt. Der Junge hatte eine bestimmte Art, mit Frauen umzugehen, auch wenn Albrecht Zweifel hatte, dass sie bei solchen Frauen unbedingt funktionieren würde.

Sie mussten irgendwo anfangen. Sie mussten …

Das Telefon. Albrecht starrte auf den Apparat, packte den Hörer.

«Was ist los?»

«Sie haben einen Anruf.» Irmtraud Wegner. Er hatte die Durchwahl blockiert. Alle Gespräche liefen über die Sekretärin.

«Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht gestört werden will! Wenn das meine Schwester ist …»

«Aus Winterhude.»

Albrecht verstummte. Das Präsidium.

Er spürte, wie an seinen Schläfen ein Schraubstock ansetzte. Das Opfer war ein Beamter aus seinem Team. Albrecht selbst hatte ihm den Ermittlungsauftrag für das Fleur du Mal erteilt. Ein dienstliches Fehlverhalten würden sie selbst mit bösem Willen nicht konstruieren können. Doch es gab andere Möglichkeiten.

Befangen. Wenn sie es darauf anlegten, konnten sie ihm den Fall und jede Chance irgendetwas wiedergutzumachen, mit drei Worten aus der Hand nehmen.

«Stellen Sie durch!»

Ein kurzes Knacken.

«Lorentz hier.»

Die Polizeipräsidentin selbst. Der Schraubstock zog sich zusammen.

«Ich höre», murmelte Albrecht.

«Verfolgen Sie die Berichterstattung der Medien?»

Der Hauptkommissar holte Luft, doch sie ließ ihm keine Zeit zu einer Antwort.

«Ich verfolge sie. Und mit mir die halbe Stadt. Das halbe Land. Der Innensenator

Was vermutlich das Wichtigste ist, dachte Albrecht. Der Innensenator und der Bürgermeister dazu. Doch er biss die Zähne zusammen.

«Ich muss Ihnen wohl kaum mitteilen, dass diese Angelegenheit oberste Priorität hat», sagte die Polizeipräsidentin. «Wie sehen Ihre ersten Ergebnisse aus?»

Albrecht schluckte. Kein Wort davon, ihm die Sache abzunehmen. Doch diese Frau konnte mehr tun, wenn sie wollte. Ihn die Ermittlung vor die Wand fahren lassen und ihn dann öffentlich ans Kreuz schlagen.

Wieder blitzte das Bild von Hartungs Körper vor seinen Augen auf.

«Gegenwärtig sind wir noch dabei, uns einen Überblick über die Sachlage zu verschaffen», sagte er mit sehr viel mehr Ruhe, als er verspürte. «Der Getötete befand sich in Begleitung einer maskierten Person, die offenbar nach der Tat entkommen konnte. Wir vermuten, dass es sich um eine Frau handelt, doch ohne Zweifel lässt sich das nicht sagen. Überdies trug sie wahrscheinlich Handschuhe.»

Keine Antwort.

«Noch wissen wir nicht mit Sicherheit …»

«Sagen Sie mir, was Sie wissen!»

Albrechts linke Faust ballte sich. Er kannte weder den Innensenator noch den Bürgermeister persönlich, die Millionen von Gaffern vor der Glotze sowieso nicht, doch Isolde Lorentz kam aus dem Polizeidienst. Die Frau am anderen Ende der Leitung wusste, was Ermittlungsarbeit bedeutete.

Er zwang seine Stimme zur Ruhe. «Sokrates sagt …»

«Sokrates’ Tod müssen Sie nicht aufklären!» Die Stimme klirrte. Stahl auf Eis.

«Er wurde hingerichtet», murmelte Albrecht. Noch leiser: «Man reichte ihm den Schierlingsbecher.»

Lorentz schwieg für einen Moment. Vielleicht drang sekundenlang etwas von dem, was er fühlte, zu ihr durch. Doch es waren nicht mehr als zwei, drei Atemzüge.

«Wir sind im Liveticker auf Kanal Neun. Es besteht ein erhöhtes öffentliches Interesse an diesem Fall, und die Menschen haben ein Recht auf Informationen und Ergebnisse. – Ich habe Ihnen für sechzehn Uhr den Mediensaal reserviert. Wir geben eine Pressekonferenz!»

«Ich …»

Ein Knacksen. Das Gespräch war beendet.

***

Diesmal stellte ich den Wagen zwei Straßen vom Haus der Hartungs entfernt ab. Näher dran war alles zugeparkt mit den Fahrzeugen der Presseleute und unseren Einsatzwagen. Die Anwohner würden sich bedanken.

Von hier aus waren es nicht mehr als ein, zwei Kilometer bis zum Präsidium in Winterhude. Entsprechend gehörte die Siedlung an der Wellingsbütteler Landstraße zu den Stadtteilen mit erhöhter Bullendichte, was die Wohnbevölkerung anbetraf. Trotzdem sah man selten so viele Kollegen in Uniform auf der Straße wie heute.

Einer der Beamten vor dem Hartung-Haus erkannte mich wieder und ließ mich mit einem Nicken passieren. In meinem Rücken hörte ich die Fotoapparate klicken. Die Journalisten riefen mir etwas nach, doch ich war bereits durch den Kordon der Einsatzkräfte hindurch.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch drückte ich die Klingel. Ich konnte nachvollziehen, warum unser Herr und Meister gerade mich geschickt hatte, war mir aber unsicher, ob es für Sabine Hartung einen Unterschied machte, ob Männlein oder Weiblein an ihrer Tür klingelte, solange die Gestalt auf der Fußmatte eine Polizeimarke trug.

Jedenfalls war ich darauf gefasst, ganz schnell den Rückzug anzutreten, falls sie Anstalten machte, wieder zum Schlag auszuholen.

Die Tür öffnete sich einen winzigen Spalt. Es war nicht Sabine Hartung. Es war das Mädchen vom Girls’ Day, ein paar Zentimeter größer inzwischen und käseweiß im Gesicht.

«Hi … Melanie.» Es überraschte mich selbst, dass mir der Name einfiel. «Erinnerst du dich an mich? Ich würde gerne mit deiner … Mutter sprechen.» Das Wort Mama vermied ich im letzten Moment. In diesem Alter war Mama ziemlich uncool.

Der Spalt wurde eine Idee weiter geöffnet. Im selben Moment hörte ich Schritte im Flur, und eine größere Gestalt schob sich an dem Mädchen vorbei.

«Hannah.» Mein Name war eine Feststellung. Gleichzeitig fiel mir ein, dass Dennis und ich uns seit dem letzten Betriebsausflug mit beiden Hartungs duzten.

Sabine war nach wie vor blass, doch auf ihren Wangen brannten rote Flecken. Als mir ihr Atem in die Nase stieg, wusste ich, dass sie Trost bei Freund Jägermeister gesucht hatte. Wer konnte es der Frau verübeln?

Doch sie wirkte nicht abweisend, sondern vor allem weit, weit weg.

«Darf ich reinkommen?», fragte ich vorsichtig.

Sie sah mich wortlos an, rührte sich aber nicht. Ihre Tochter war schon geräuschlos verschwunden.

Plötzlich ging ein Ruck durch die Frau. Die Tür wurde vollständig geöffnet, und im nächsten Moment presste Sabine Hartung sich gegen mich, von Weinkrämpfen geschüttelt. Das Unheimlichste war, dass sie dabei keinen Laut von sich gab.

Hinter mir hörte ich wieder das Klicken der Fotoapparate, in gesteigerter Frequenz jetzt. Ich verfluchte die Pressemeute, schob Sabine Hartung zurück in den Flur und drückte die Tür hinter uns zu.

«Es … es tut mir leid», stammelte Sabine. Die Worte waren kaum zu verstehen. Sie löste sich von mir, musste aber auf der Stelle Halt an einer Anrichte suchen. «Das … mit Albrecht. Das wollte ich nicht.»

Ich schüttelte nur den Kopf und legte ihr die Hand auf die Schulter. Nicht schlimm. Sie konnte nicht wissen, wie gut ich unseren Chef kannte. Ich war mir verdammt sicher, dass er für diesen Schlag fast dankbar war.

Ich schaute mich im schummerigen Eingangsflur um. Dunkle Möbel, ein bisschen Nippes, aber nicht übermäßig. Ungefähr so, wie ich mir das Haus der Hartungs vorgestellt hätte.

«Bist du ganz allein hier mit den Kindern?», fragte ich überrascht.

Natürlich gab es ein festes Prozedere, wenn wir Todesnachrichten zu überbringen hatten. Ein Anruf beim Präsidium genügte, und zwanzig Minuten später stand ein Psychologe oder wahlweise ein Seelsorger vor der Tür. Doch jede Regelung war flexibel. Wenn wir damit rechnen mussten, dass der amtliche Beistand mit einer Backpfeife empfangen wurde, ließen wir den Anruf bleiben.

«Allein? – Nein.» Sabine schüttelte den Kopf. «Ich meine: Ja, mit den Kindern. Kerstin wollte kommen, Kerstin Ebert, aber sie hat wohl …»

Ich nickte. Bullenghetto Ohlsdorf. Die Eberts wohnten fast um die Ecke. Doch so leid mir Sabine Hartung tat, war ich doch froh, dass Kerstin es sich anders überlegt hatte. Wir hatten am Wochenende zum letzten Mal telefoniert, und sie hatte mir ganz aufgekratzt erzählt, der Arzt habe gemeint, wie es aussähe, würde das Baby wohl ein, zwei Wochen vor dem errechneten Termin kommen, womöglich schon in den allernächsten Tagen.

Wer weiß, was schon der Schock über Ole Hartungs Tod mit Kerstin angestellt hatte. Sie musste es übers Fernsehen erfahren haben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand vom Revier sie informiert hatte. Jedenfalls war es gut, dass sie jetzt nicht hier war.

«Komm, Sabine!», sagte ich leise. «Wollen wir uns irgendwo hinsetzen?»

Sie nickte und deutete fahrig zu einer halb offenen Glastür. Aus dem oberen Stock hörte ich Geräusche. Melanie und ihr Bruder, ein paar Jahre jünger als das Mädchen. Die Kinder der Hartungs waren sehr spät gekommen, genau wie bei Kerstin, die das zweite jetzt mit dreiundvierzig bekam.

Das Wohnzimmer musste unter normalen Umständen ein freundlicher Raum sein, doch heute wirkte es trostlos. Es ging auf den Garten hinaus, aber die Jalousien waren zur Hälfte geschlossen, obwohl sich die Sonne den ganzen Tag nicht hatte blicken lassen. Zwei Sofakissen lagen am Boden, auf dem Couchtisch ein zersplitterter Bilderrahmen. Das Foto, das er enthalten haben musste, war verschwunden.

Ich ahnte, wer darauf zu sehen gewesen war.

Sabine sank schwer auf das Sofa. Die Likörflasche stand in Griffweite, zu drei Vierteln leer.

Irgendetwas hielt mich zurück, mich zu ihr auf die Couch zu setzen. Ich war nicht hier, um sie zu trösten, musste ich mir in Erinnerung rufen.

Doch spielte es eine Rolle, warum ich ursprünglich gekommen war? Seit heute Morgen hatte die Frau diesen fürchterlichen Tag ganz alleine durchgestanden. Hatte sie keine Eltern, Geschwister, keine anderen Freunde als Kerstin Ebert? Einen Moment lang spürte ich Unruhe. Es sah Kerstin gar nicht ähnlich, erst zu versprechen, dass sie vorbeikommen würde, und dann nicht abzusagen, wenn sie es doch nicht schaffte. Ob es plötzlich losgegangen war mit dem Baby?

Doch ich drängte den Gedanken beiseite und setzte mich auf einen Sessel, so nahe bei Sabine, dass ich ihr zur Not die Hand auf den Arm legen konnte.

Allerdings schien sie im Moment ganz vergessen zu haben, dass ich überhaupt da war. Mit leerem Blick starrte sie gegen die Schrankwand.

Ich suchte nach Worten. Das erste Gespräch mit den Angehörigen ist schlimm genug, selbst wenn man ihnen gerade zum ersten Mal begegnet.

Aber Sabine kam mir zuvor.

«Warum hat er das nur gemacht?» Sie sah mich nicht an. «Kannst du mir sagen, was er sich dabei gedacht hat?»

Ich holte Luft. Was sollte ich nur sagen? Was hatte der Chef sich vorgestellt? Ach, gut dass du von selbst drauf kommst, Sabine. Weißt du zufällig, ob Ole schon länger auf diese Hardcore-Fesselspielchen stand? Habt ihr das auch mal zusammen ausgelebt, oder hat er sich da Nutten suchen müssen? Weil: Das könnte uns eine Hilfe sein, wenn wir herausfinden wollen, ob’s mit dem Job zu tun hatte oder ob es was Persönliches war, warum sie ihm den Schwanz und die Eier abgeschnitten haben.

«Wir …» Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und stellte fest, wie rau sie waren. Plötzlich hatte ich fürchterlichen Durst. «Wir wissen noch gar nichts, Sabine. Wir sind noch ganz am Anfang. Es kann tausend Erklärungen geben, wie er …»

«Ach ja?» Ihre Augen waren wie tot gewesen, doch plötzlich glomm dort ein Funke auf. «Du meinst, jemand hat ihn mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sich auf diesen Stuhl …»

Mit einem keuchenden Laut brach sie ab und begann wieder zu weinen, diesmal von einem hohen Winseln begleitet, das sich nicht menschlich anhörte. Ich drückte meine Hände auf die Sessellehnen, um mir nicht die Ohren zuzuhalten.

«Es ist alles möglich», sagte ich und glaubte mir selbst nicht. «Ich … Wir hatten gehofft, dass … du uns vielleicht …»

Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Es ging einfach nicht.

Ganz langsam veränderte sich ihr Gesichtsausdruck noch einmal. Ganz allmählich wurde ihr klar, wer ich eigentlich war und warum ich wirklich gekommen war.

Ich kam mir vor wie eine Verräterin.

«Wir …» Ich schluckte, schüttelte den Kopf.

Wir müssen herausfinden, was passiert ist, dachte ich. Das ist unsere Aufgabe. Das ist alles, was wir noch für ihn tun können – und für dich.

Ich spürte, wie sich der Knoten in meinem Magen enger und enger schnürte.

Sorry und nichts für ungut, aber das ist halt unser Job.

Sabine Hartung versuchte aufzustehen. Sie schaffte es erst beim zweiten Versuch. Automatisch stand ich ebenfalls auf.

Jetzt schmeißt sie dich raus.

Im selben Moment klingelte das Telefon.

Sabine erstarrte mitten in der Bewegung und sackte aufs Sofa zurück, als habe jede Energie sie verlassen.

«Das geht seit heute Morgen so», murmelte sie. «Das Fernsehen und … Irgendwelche Leute, die ich seit Monaten nicht gesehen habe, und die sich auf einmal …» Sie schüttelte den Kopf, wieder und wieder.

Der Apparat stand auf dem Couchtisch, von ihr genauso weit entfernt wie von mir. Bei ihr war außerdem die Likörflasche im Weg.

Mein Blick fiel eher zufällig auf das Display, und ich brauchte zwei Sekunden, bis ich begriff, dass ich die Nummer kannte.

«Das ist Kerstin», murmelte ich.

Fragend sah ich Sabine an, die Hand schon nach dem Hörer ausgestreckt.

Ihr Blick wies mich zurück. Umständlich beugte sie sich vor und griff nach dem Mobilteil. «Ja … Ja?» Zwei Silben, aus denen die Erschöpfung der ganzen Welt sprach.

Dann Schweigen. Ich glaubte das Flüstern am anderen Ende der Leitung zu hören, spürte, wie mein Herz schneller schlug. Das Baby? War schon alles durchgestanden? Eine gute Nachricht an diesem schwarzen Tag?

Sabines Stirn legte sich in Falten. «Was?»

Nur ein einziges Wort diesmal, doch wie auch immer das sein kann: Ob ich etwas ahnte und was auch immer das war – denn die Wahrheit kann es unmöglich gewesen sein … Mein Herz setzte aus, machte dann plötzlich zwei, drei schmerzhafte Schläge. Die Wände des Zimmers schienen auf mich zuzukommen. Ich starrte auf Sabine Hartungs kalkweißes Gesicht, auf ihre Lippen, die sich bewegten, ohne ein Wort zu sagen.

«Was?» Sie schüttelte den Kopf. «Nein. Nein, sie hat angerufen und gesagt, dass sie … Nein. Hast du versucht, sie …?» Schweigen. Sie lauschte. «Nein», murmelte sie. «Nein, ich habe keine Ahnung, aber ich rufe dich an, sobald sie …»

Sie ließ den Hörer sinken und sah mich an, mit einem Gesichtsausdruck, aus dem Verwirrung sprach, aber auch noch etwas anderes. Unruhe. Eine Kälte, die tief von innen kam.

«Das war Oliver», sagte sie leise. «Kerstins Mann. Er hat gefragt, ob wir irgendwas brauchen, Kerstin und ich, oder ob er sie …» Für einen Moment ließ ihre Stimme sie im Stich. Als sie zurückkam, war sie nicht mehr als ein heiseres Raspeln. «Ob er sie abholen soll. Sie wollte zu mir. Sie ist losgegangen, kurz nachdem sie bei mir angerufen hatte. Vor mehr als drei Stunden. Aber sie ist …»

Ich konnte nicht mehr atmen.

«Sie ist nicht angekommen», flüsterte ich.

***

Du bist unter Feinden.

Tunnelblick. Der Saal der Polizeipressekonferenz war bis auf den letzten Platz gefüllt, doch noch immer quetschten sich Medienvertreter durch die Flügeltüren. Kein natürliches Licht. Die Fenster befanden sich in Albrechts Rücken, unsichtbar für den Hauptkommissar. Der Saal summte in einer unangenehmen Frequenz wie ein gigantischer Wespenstock.

Jörg Albrechts Blick glitt über die Gesichter in den vordersten Reihen. Hin und wieder zuckten erste Kamerablitze auf, doch noch hatte die Veranstaltung nicht begonnen. Die Hyänen nahmen noch kaum Notiz von ihm, sondern plauderten untereinander. In Reihe zwei verdrückte ein junger Schnösel hektisch eine Banane, während er darauf wartete, Details über den Tod Ole Hartungs zu erfahren, den man grausam verstümmelt und verblutet auf einem Gynäkologenstuhl gefunden hatte.

Albrecht war nicht zum ersten Mal hier. Er wusste, wie die Technik funktionierte. Wie zufällig streifte seine Hand einen der Knöpfe vor dem Mikrophon.

«Guten Appetit!»

Wenn die Worte nicht dafür sorgten, dass dem Kerl die Banane im Hals stecken blieb, erledigte das die monströse Rückkopplung.

Mit einem Seufzen lehnte Albrecht sich zurück. Die Augen der Polizeipräsidentin richteten sich auf ihn wie winzige bösartige Stecknadelköpfe.

Du bist unter Feinden.

Mit einer Ausnahme, dachte der Hauptkommissar. Er hatte Martin Euler mitgebracht. Zu seiner eigenen moralischen Unterstützung, vor allem aber, weil Euler die Gabe besaß, seine gerichtsmedizinischen Details in derart komplizierte Formulierungen zu verpacken, dass man am Ende vergessen hatte, wie der Satz eigentlich angefangen hatte. Warum der Meute noch einen Gefallen tun?

Knacken und Pfeifen in den Lautsprechereinheiten. Irgendjemand machte die Anlage bereit.

«Meine Damen und Herren …» Ein letzter, durchdringender Pfeifton, dann drang die Stimme von Isolde Lorentz’ Pressesprecher dumpf, aber deutlich bis in den letzten Winkel des Saals. «Ich begrüße Sie zu unserer Pressekonferenz mit Frau Dr. Lorentz und den ermittelnden Beamten. Ich übergebe das Wort an die Frau Präsidentin, danach sind die Ermittler an der Reihe. Am Ende werden Sie dann Gelegenheit zu Fragen haben.»

Was nicht bedeutet, dass sie auch Antworten kriegen, dachte Albrecht. Unruhig wippte er mit dem Fuß. Er wollte hier raus, noch einmal mit Jacqueline sprechen. Lehmann hatte nichts Neues aus ihr rausbekommen, abgesehen davon, dass die etwa dreißigjährige maskierte Unbekannte ebenso gut eine zwanzig- oder vierzigjährige maskierte Unbekannte gewesen sein konnte. Wenn sie nicht ein Kerl war.

Und selbstredend hatte die Person Handschuhe getragen.

Hannah Friedrichs hatte sich dagegen noch nicht gemeldet, jedenfalls vor zwanzig Minuten noch nicht, als Albrecht beim Betreten des Saals sein Handy abgestellt hatte. Doch so oder so: Er wollte raus, wollte etwas für die Ermittlung und für Ole Hartung tun, anstatt sich hier den Hintern platt zu sitzen und der Journaille …

«Hauptkommissar?», flötete Lorentz.

Ruckartig zog er das Mikrophon zu sich heran.

«Danke», murmelte er und griff sich das Blatt mit der Erklärung, die er mit der Polizeipräsidentin abgestimmt hatte. Sie verriet nichts, was die Presseleute nicht schon wussten. Genauer gesagt verriet sie weniger. Hartung hieß immer noch Ole H., und wenn die Aufnahmewagen tausend Mal das Wohnviertel zwischen Wellingsbütteler Landstraße und Ohlsdorfer Friedhof verstopften. Und über die Verdächtige – offiziell nach wie vor ‹wichtige Zeugin› – konnte er nichts mitteilen, weil es nichts gab, das sie mit Sicherheit wussten. Mit monotoner Stimme begann Albrecht vorzulesen.

Als er zur Hälfte durch war, bekam er aus dem Augenwinkel mit, wie Isolde Lorentz aufstand und im Hintergrund mit einem Beamten tuschelte. Sie setzte sich wieder, bevor der Hauptkommissar fertig war.

«So weit unser Kommuniqué», übernahm der Pressesprecher. «Danke, Hauptkommissar Albers.»

Jörg Albrecht erlaubte sich die stille Hoffnung, dass einige der Journalisten diese Version seines Namens übernehmen würden.

«Sie haben nun die Gelegenheit, Fragen zu stellen.» Der Pressesprecher sah in die Runde.

Dutzende von Armen hoben sich. Der Mann am Mikrophon nickte in die erste Reihe.

«Maren Steinert, Morgenpost.» Eine adrette junge Dame stand auf. «Ich hätte eine Frage an Hauptkommissar Albers. – Ist es richtig, dass Sie verstärkt im persönlichen Umfeld von Kommissar Hartung nach der Täterin suchen?»

Albrecht zögerte. Streng genommen würde er nicht bestätigen, dass der Ermordete Ole Hartung hieß, wenn er den Satz beantwortete. Er schüttelte den Kopf. «Wir ermitteln in alle Richtungen.» Ein Standardsatz.

«Und ist es richtig …»

«Bitte nur eine Frage.» Der Pressesprecher schnitt ihr das Wort ab. «Danke. – Dort vorne in der zweiten Reihe?»

«Marc Hoffmann vom Abendblatt. Ich hätte eine Frage an die Frau Präsidentin.»

Die Frage war ein Klassiker, stellte Albrecht fest: Warum wurden sofort sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, sobald ein Polizeibeamter das Opfer war? War das nicht eine Ungleichbehandlung? Schließlich wurde die Polizei doch aus Steuergeldern finanziert, also müsste man da nicht …

Albrecht hörte nach der Hälfte des Lamentos weg. Exakt dieselben sensationsgeilen Pressegeier, die jetzt solche Fragen stellten, waren es, die Fälle wie den Tod Ole Hartungs zu einer Mediennummer aufpusteten und die Ermittler zwangen, Sonderschichten einzulegen. Natürlich würde der Tod eines Kollegen immer Vorrang haben – das war bei jeder Polizei der Welt so. Aber dem erhöhten öffentlichen Interesse, das die Leute hier in diesem Raum angefacht hatten, verdankte es Irmtraud Wegner, dass sie nicht den Hörer aus der Hand legen konnte. Als Albrecht das Revier verlassen hatte, hatten sich exakt einhundertsiebenundsiebzig Zeugen gemeldet, die gesehen haben wollten, wie ganze Rudel satanistischer Fetischhuren auf Ole Hartungs Rücken über die Reeperbahn geritten waren oder ihn am Nasenring durch die Straßen der Hansestadt geführt hatten.

Das war der Grund, aus dem die Kollegen vom Kommissariat jetzt dutzendweise sinnlosen Spuren nachgehen mussten, anstatt sich auf die wirklich erfolgversprechenden Ermittlungsansätze zu konzentrieren.

Sobald es erfolgversprechende Ansätze gab.

Ermittlungsarbeit war ein ständiges Puzzlespiel, ein Wühlen in Details. Mitunter war sie lebensgefährlich, doch gleichzeitig geprägt von unendlichen Phasen trostloser, ermüdender Analyse. Dazu kam der erstickende Zeitdruck, der notorische Personalmangel.

Und die Dunkelheit in den Seelen der Menschen. Jeder Fall eine Tragödie, der Tod allgegenwärtig, manches Opfer nicht viel besser als der Täter. Es färbte ab. Wie ein Schleier, der sich über die Seele legte, wenn man eine zu lange Zeit seines Lebens damit verbrachte, die Tatbestände so darzustellen, wie sie sich in Wahrheit verhielten: dunkel und hässlich, doch selten so grell und spektakulär, wie die Privatsender und die blutigen Blättchen es ihren Lesern und Zuschauern verkaufen wollten.

Und das Schlimmste war, dass das den Männern und Frauen in den Stuhlreihen klar war. Die Polizeireporter wussten sehr gut, was wirklich Sache war, und es war nicht zu übersehen, dass die meisten von ihnen gar nicht richtig hinhörten, während Isolde Lorentz eine ihrer weitschweifenden Erklärungen abgab. Die meisten waren mit ihren Handys beschäftigt, verschickten SMS oder lasen eingehende Nachrichten.

Wozu überhaupt noch Zeitungen und Fernsehen, dachte Albrecht. Wir sind überall und immer auf Empfang, erfahren tausend Dinge, von denen irgendjemand beschlossen hat, dass sie uns zu interessieren haben. Den Täter, bevor er ermittelt ist, den Mord, bevor er geschieht.

«Vielen Dank, Frau Präsidentin.» Der Pressesprecher nickte der Lorentz zu. «Ich denke, das beantwortet die Frage. Und nun … ah, Frau Stahmke.»

Albrechts Blick schoss nach rechts.

Wie hatte er die Frau übersehen können? Die Kanal-Neun-Journalistin saß in der vordersten Reihe, beinahe am Rand allerdings. Allzeit bereit, im Fall der Fälle zum Schauplatz des nächsten schmutzigen Verbrechens zu eilen, mit dem sie ihre Zuschauer beglücken konnte. Dieselben messerklingenschmalen Lippen, dasselbe blonde Walle-Walle-Haar – aber ein anderes affektiertes Kostüm als am Morgen.

Als der Pressesprecher ihr das Wort erteilte, legte sie in aller Seelenruhe ihr Handy beiseite und stand auf. Weniger aus Höflichkeit, dachte Albrecht, sondern damit der Kameramann sie von der Schokoladenseite einfangen konnte.

«Hauptkommissar Albrecht.» Wenn sie sich lieb Kind machen wollte, indem sie ihn mit dem richtigen Namen ansprach, hatte sie sich geschnitten. «Was mich interessieren würde, wäre, ob Sie eine Verbindung zwischen dem Fall Hartung und Ihrer vermissten Beamtin sehen.»

Albrecht kniff die Augen zusammen, wechselte einen Blick mit Martin Euler rechts neben ihm. Euler erwiderte ihn verständnislos.

«Meine Kollegin wird nicht vermisst», wandte Albrecht sich betont freundlich an die Reporterin. «Mein gesamtes Team arbeitet mit Hochdruck an den Ermittlungen, so auch Kommissarin Friedrichs. Und auch ich selbst muss mich jetzt …»

«Ich fürchte …» Drei Silben, drei Peitschenhiebe. «Ich fürchte, wir verstehen uns hier nicht ganz richtig, Herr Hauptkommissar.»

Mit einem Mal war es totenstill im Saal. Albrecht hörte, wie sich jemand räusperte, vielleicht Isolde Lorentz. Alle Augen waren auf Margit Stahmke gerichtet. Es war nicht das erste Mal, dass Albrecht mit der Frau zu tun hatte. Seitdem er seinen Posten innehatte, kreiste sie wie ein Aasgeier über seinen Fällen. Oder nein, kein Aasgeier: ein Leitwolf, ein Trüffelschwein. Unter ihren Kollegen war die Stahmke eine Legende. Wo Margit Stahmke ihre Nase reinsteckte, fing auch der Rest an zu graben.

Und jetzt hatte sie Witterung aufgenommen. Albrecht sah es an den angespannten Gesichtern.

Aber er begriff nicht. Natürlich, Hannah Friedrichs hatte sich noch nicht gemeldet, doch sie war schließlich nur ein paar Minuten vor ihm aufgebrochen und hatte den weiteren Weg zur Wellingsbütteler Landstraße – und das mitten im Berufsverkehr. Aber vermisst …

«Kerstin Ebert ist eine Beamtin aus Ihrem Team, das ist doch richtig?»

Albrecht starrte die Stahmke an. «Ja …» Er schüttelte den Kopf. «Aber Kommissarin Ebert ist …»

Wieder das Räuspern. Es war tatsächlich die Polizeipräsidentin, die links neben ihm saß und ihm jetzt unauffällig einen Zettel zuschob. Ihre Zähne waren zusammengebissen, und aus ihrer Miene sprach … Albrecht konnte den Ausdruck nicht einordnen, sah auf den Zettel – und erstarrte.

Hastig hingekritzelte Worte. Anruf von Friedrichs: Ebert seit dreizehn Uhr vermisst.

Er las, begriff den Sinn und war doch unfähig, ihn zu erfassen. Seine volle Bedeutung.

«Herr Hauptkommissar?» Stahmke lächelte freundlich wie eine Guillotine. «Können Sie mir sagen, ob Sie eine Verbindung …»

Ein durchdringendes Quietschen, als er ruckartig seinen Stuhl zurückschob. An Euler ein hastiges «Mitkommen!».

«Albrecht, verdammt!» Isolde Lorentz zischte eher, als dass sie sprach. Das Mikrophon übertrug die Worte trotzdem.

Albrecht und Euler waren schon halb an der Tür, die zurück in die Diensträume des Präsidiums führte. Raus hier, dachte der Hauptkommissar. Zum Wagen. Weiter ging sein Denken nicht in diesem Moment.

Die angespannte Stille im Pressesaal hatte ein abruptes Ende gefunden. Tuscheln, Murmeln, laute Fragen, die ersten Journalisten sprangen auf.

«Vielleicht kann ich Ihre Frage beantworten», hörte er, wie die Polizeipräsidentin versuchte, die Initiative zurückzugewinnen.

Von der Tür ein letzter Blick zurück. Margit Stahmke sah in seine Richtung, und mit ihr die Kameras.

«Nein danke.» Stahmkes Geste war beinahe eine Verbeugung. «Ich denke, das ist gar nicht mehr nötig.»

***

Eine Karriere bei der Kripo sucht man sich nicht eigentlich aus. Ich meine, klar, die weiterführenden Schulen sind voll mit pickeligen Nachwuchsermittlern, die mehr C.S.I. und Bones gesehen und Serienkillerkrimis gelesen haben, als gut für sie ist, doch das ist nur einer von mehreren Wegen. Das Studium an der Polizeifachhochschule ist inzwischen vielleicht der gängige Weg in den gehobenen Dienst, doch bei mir war es anders losgegangen, nämlich mit dem kreuzbraven Dienst in Uniform: Betrunkene von der Straße holen, Senioren zur Ruhe bringen, die Zeter und Mordio schreien, weil irgendwo um fünf nach zehn der Ghettoblaster noch nicht auf Zimmerlautstärke läuft.

So was kann man bis an sein Lebensende machen, oder man bekommt mit etwas Glück die Chance, sich zu spezialisieren. Wobei gerade Glück vielleicht am wenigsten damit zu tun hat. Vor allem muss man Wörter wie Freizeit oder Wochenende in ganz, ganz kleinen Buchstaben schreiben, wenn man mit Mitte zwanzig noch immer auf eine Kripo-Laufbahn scharf ist.

Bei mir ist das wohl mehr oder weniger der Fall gewesen. Dennis kannte ich damals noch nicht, und in einer Millionenstadt wie Hamburg läuft es anders als irgendwo in Bad Beelzebub, wo nur alle Jubeljahre mal ein Kapitalverbrechen zu klären ist. Hier bei uns hat man die großen Fälle ständig vor der Nase – und wenn man entsprechend strukturiert ist, wird’s einem irgendwann einfach zu blöd, dass man da nicht richtig mitspielen darf. Es sei denn … Ganz genau.

Man steigt selbst mit ein.

Meinen ersten Tag auf unserem Polizeikommissariat, dem PK Königstraße, dem – quasi als permanenter Sonderkommission – regelmäßig die kniffligsten Fälle im gesamten Stadtgebiet zugeschoben wurden, werde ich wohl nie vergessen. Wahrscheinlich geht das jedem Neuling so. Wir haben alle diese gigantischen Vorstellungen, diesen mörderischen Respekt vor der echten Sherlock-Holmes-mäßigen Detektivarbeit, die bei den großen Jungs und Mädels so abgeht. Es dauert eine ganze Weile, bis einem klar wird, dass bei der Kripo mit demselben Wasser gekocht wird wie in jeder anderen Bullenküche auch. Und die Kollegen, die sich ihre Stühle schon ein paar Jahre warm gesessen haben, sorgen natürlich dafür, dass das möglichst lange so bleibt.

Kerstin Ebert war da anders.

Als ich zu Jörg Albrechts Team stieß, hat sie aufgeatmet, endlich nicht mehr allein zu sein unter den Kerlen, das hat sie mir später mehr als einmal erzählt. Wirklich, es macht einen Unterschied, ob nur eine einzige oder aber zwei Frauen zur Mannschaft gehören. Kerle bleiben Kerle. Das ändert sich nicht, wenn sie eine Marke tragen.

Kerstin selbst war jünger gewesen als ich, als sie auf dem Kommissariat anheuerte. Außerdem muss das zu diesem Zeitpunkt eine ziemliche Ausnahmesituation gewesen sein auf dem Revier: Die ganze Stadt auf der Jagd nach dem Traumfänger, und das PK mittendrin. Heftiger kann man wohl nicht lernen, was es heißt, bei der Kripo zu arbeiten. Kerstin meinte mal, hinterher sei ihr die Arbeit vorgekommen wie der reinste Schulausflug. Hinterher, als Freiligrath endlich in Haft saß und Horst Wolfram im Sanatorium und Albrecht den Laden übernommen hatte.

Wobei auch Schulausflüge ganz schön hart sein können. Ich zumindest musste am Anfang ganz schön die Zähne zusammenbeißen – und ich frage mich bis heute, ob ich nicht ganz schnell das Handtuch geworfen hätte, wäre Kerstin Ebert nicht gewesen.

Kerstin Ebert, die nun, als sich der verregnete Oktobernachmittag in einen verregneten Oktoberabend verwandelte, seit mehr als vier Stunden verschwunden war.

Als Allererstes hatten wir die Pressemeute weggejagt. Platzverweise, serienmäßig. Irgendjemand würde dafür bluten, das war mir klar, und im Zweifelsfall würde ich das sein. Insbesondere, wenn bei der Aktion am Ende nichts herauskam. Aber wie sollten wir eine Suche durchführen in einem Gebiet, in dem sich Kanal Neun und Kanal Sieben gegenseitig auf die Füße traten?

Mit einem Fluch steckte ich das Handy weg. Nachdem ich zwanzig Minuten lang vergeblich versucht hatte, Albrecht zu erreichen, hatte ich die Sachlage schließlich direkt ans Präsidium durchgegeben. Die Pressekonferenz war mir mehr als egal.

Ich wusste, wie Jörg Albrecht reagieren würde.

Und ich hätte ein, zwei nicht unwesentliche Körperteile gegeben, wäre er in diesem Moment schon hier gewesen.

Oliver Ebert stützte sich bei jedem Schritt an einem Jägerzaun ab, während er auf mich zukam. Ich stand an einer Einmündung ungefähr im Zentrum des labyrinthartigen Wohngebiets, in dem die Eberts und die Hartungs wohnten. Die Uniformierten hatten die Strecke, die Kerstin genommen haben musste, bereits abgesucht. Inzwischen waren sie dabei, an den Haustüren zu klingeln und Fragen zu stellen. Wie ich die Gegend einschätzte, waren die Häuser voll mit Müttern, die in Teilzeit arbeiteten. Irgendjemand musste Kerstin gesehen haben, nachdem sie das Haus verlassen hatte.

«Oliver», murmelte ich und ging ihm entgegen.

Oliver Ebert war letztes Jahr vierzig geworden und damit genauso alt wie Dennis. Entsprechend waren Kerstins und mein eigener Göttergatte auch zeitgleich in den zweiten Frühling gekommen und hatten sich zusammen ein in die Jahre gekommenes Segelboot gekauft, das sie seitdem wieder flottzumachen versuchten. Kerstin und ich hatten über die beiden gelächelt – natürlich nur, wenn sie nicht dabei waren. Ansonsten hatten wir andächtig ihren Diskussionen über das Für und Wider unterschiedlicher Flüssigharze gelauscht.

Nach Lächeln war mir jetzt nicht zumute.

Zwei Schritte vor Oliver blieb ich stehen. Er war einen Kopf größer als Kerstin und immer noch ein ganzes Stück größer als ich. Einen Moment lang rechnete ich damit, er würde sich in meine Arme werfen, wie Sabine Hartung das getan hatte, doch er stand einfach da, löste die Hand vom Zaun und starrte mich an.

Die Straßenbeleuchtung sprang an, flackerte drei, vier Mal unschlüssig hin und her und warf tiefe Schatten auf sein Gesicht.

«Oliver?» Die Kälte des Abends kam rasch. Meine Stimme versickerte im Dunst, der sich über dem nassen Asphalt gebildet hatte.

«Ich habe an der Wiege gearbeitet. Alles abgebeizt.» Er sprach langsam, als ob er ein Beruhigungsmittel genommen hätte. Ich hoffte es für ihn. «Raoul hat mir geholfen.»

Raoul war fünf Jahre alt und seit Monaten ganz aus dem Häuschen wegen der bevorstehenden Ankunft eines Brüderchens oder Schwesterchens.

«Die Nachbarin passt jetzt auf ihn auf.»

Ich atmete auf. Offenbar war er fähig, klar zu denken.

«Kerstins Handy liegt auf dem Nachttisch.» Er wischte sich über die Nase. Im Laternenlicht sah ich glitzernde Reflexionen auf seinen Wangen. «Ich habe ihr tausend Mal gesagt, sie soll das Handy mitnehmen, jetzt, wo es fast so weit ist. Und wenn sie nur auf das beschissene Klo geht!» Der letzte Satz kam sehr viel lauter als der Rest.

Ich nickte beherrscht. «Bitte mach dir nicht zu viel Sorgen», sagte ich leise. «Wir sind mitten in der Stadt. Wahrscheinlich ist sie einfach zu einer Freundin …»

«Sie war unterwegs zu einer gottverdammten Freundin!» Noch lauter. «Einer Freundin, deren Mann sie heute Nacht die Eier abgeschnitten und ins Maul gestopft haben!»

Ich zuckte zusammen. War auch dieses Detail inzwischen bekannt?

«Mitten in der Stadt!», fauchte er. «Einem Bullen! Von eurem Revier! Genau wie Kerstin!»

«Oliver …» Ich streckte die Hand nach ihm aus. Er starrte sie an, als wollte er sie beiseiteschlagen, aber meine Augen hielten ihn fest. «Oliver, Kerstin ist meine Freundin. Bitte glaub mir, wir tun, was wir können. Lehmann muss gleich hier sein, und auch der Chef ist schon unterwegs.» Ich betete zu Gott, dass das so war. «Ich habe eine Hundestaffel angefordert.»

Nein, ich würde nicht erwähnen, dass zu einer Hundestaffel selbstverständlich auch Leichensuchhunde gehörten.

Das waren diejenigen, die am häufigsten gebraucht wurden.

***

Das Heck des Dienstwagens brach aus, als Albrecht über die Gegenfahrbahn scherte und in das Wohngebiet an der Wellingsbütteler Landstraße einbog.

Euler kauerte auf dem Beifahrersitz. Er hatte kein Wort gesagt, seitdem sie das Präsidium verlassen hatten.

Wahrscheinlich zerbrach er sich gerade den Kopf, wie er in diese Situation gekommen war. Euler war Rechtsmediziner, der Mann für die Leichen, und damit nicht konkret Albrecht zugeordnet. Er wurde von den unterschiedlichen polizeidienstlichen Stellen hinzugezogen, wenn die Ermittlungen das erforderten.

Wenn es Tote gab, dachte Albrecht.

Tote hatten keine Eile. Vermutlich war Euler in seiner gesamten Laufbahn noch nicht gezwungen gewesen, im Rahmen einer Ermittlung die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit zu brechen.

Ein Schlag traf den Wagen, als der Hauptkommissar mit knapp sechzig Stundenkilometern eine der Bodenwellen überfuhr, die den Verkehrsfluss in der Tempo-dreißig-Zone drosseln sollten.

Geradeaus war Blaulicht zu sehen. Albrecht trat in die Bremsen. Schlingernd kam der Wagen zum Stehen.

Uniformierte Beamte, Anwohner, die im Zwielicht über den Gartenzaun gafften. Verdammt, wenn die Leute was zu erzählen hatten, sollten sie ihre Aussagen machen. Alles andere war eine Behinderung der Ermittlungen.

«Wo ist Friedrichs?», knurrte er den ersten Kollegen an, den er zu fassen kriegte. Nie gesehen den Mann, doch der Beamte machte gar keinen Versuch, nach Albrechts Ausweis zu fragen, sondern deutete wortlos die Straße hinab.

Der Hauptkommissar stapfte los.

«Chef!» Der junge Lehmann löste sich aus dem Schatten einer Gartenpforte und ließ das schmiedeeiserne Gatter dabei offen stehen.

«Bericht!»

«Wir sind selbst erst ein paar Minuten hier. Faber ist im Tabakladen. Der ist direkt um die Ecke.»

«Was zur Hölle …»

«Der Laden liegt fast auf dem Weg von den Eberts zu den Hartungs», erklärte Lehmann. «Wenn sie einen Abstecher …»

«Ebert raucht nicht! Ebert ist schwanger!»

Ein Blinzeln. «Ihr Mann vielleicht?»

«Was weiß ich!» Albrecht presste Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel. Er hatte Kopfschmerzen seit dem Gesumme im Pressesaal.

Fabers glatzköpfige Gestalt bog um die Straßenecke. Schon von weitem sah der Hauptkommissar sein Kopfschütteln.

«Bisher haben wir niemanden gefunden, der sie gesehen hat», berichtete Lehmann. «Ausgenommen die Oma, die direkt gegenüber wohnt. Offenbar war sie allein. – Also Kerstin Ebert», fügte er hinzu.

Albrecht nickte stumm.

«Das war um dreizehn Uhr sechzehn. Die Oma hat die Zeit notiert.»

Albrecht kniff die Augen zusammen. «Warum …»

Lehmann hob die Schultern. «Was weiß ich. Sie sagt, das macht sie immer. – Kerstins … ich meine: Kommissarin Eberts Handy lag zu Hause. Ihr Mann hat sich schon durchgeklickt. Keine Anrufe, die erklären würden, dass sie noch woanders hingegangen wäre. Von den Eberts bis zu den Hartungs sind es auf dem kürzesten Weg ungefähr vierhundert Meter. Allerdings gibt’s noch ein paar andere – führen alle durch das Wohngebiet. Einer ist noch etwas länger, aber der geht über einen Teil vom Friedhof.»

«Kenne ich», murmelte Albrecht. Ein Stück entfernt auf der anderen Seite des Friedhofs lag die Siedlung, in der er mit Joanna und den Mädchen gewohnt hatte, bevor sie ein gewisses sanierungsbedürftiges Bauernhaus erworben hatten, an das er in diesem Moment um nichts in der Welt denken wollte.

Nur dass sein Hirn das anders sah.

Was hätte ich getan, wenn das bei Joanna passiert wäre? Was für ein Mensch vergreift sich an einer Schwangeren?

Spielte es überhaupt eine Rolle, dass Kerstin Ebert schwanger war? Für den Täter? Konnten sie davon ausgehen, dass es derselbe Täter war wie bei Ole Hartung – oder dieselbe Täterin? Angenommen, es war so: Wo lag dann der Zusammenhang? In der persönlichen Bekanntschaft der beiden Familien? In der Tatsache, dass beide Opfer Polizisten waren und zum selben Team gehörten?

Albrecht schüttelte den Kopf. Er dachte zu schnell. Noch gab es keinen Beweis, dass überhaupt ein Verbrechen vorlag.

Und doch war er unfähig, an einen Zufall zu glauben.

«Hatte sie ihre Papiere dabei?», fragte er. «Haben Sie die Krankenhäuser in der Umgebung abtelefoniert? Das Alsterdorfer Klinikum …»

Lehmann nickte. «Da haben sie heute Nachmittag eine unbekannte Frau aufgenommen, bei der plötzlich die Wehen eingesetzt haben.»

«Was …» Albrechts Herz machte einen Sprung.

Nils Lehmann verzog das Gesicht. «Schwarzafrika. Sie meinen, wahrscheinlich hatte sie keine Papiere, weil sie sich illegal …»

Der Rufton von Albrechts Mobiltelefon. Die Nummer des Reviers.

«Ja?»

«Chef?»

«Ja, Kriminalhauptmeister Winterfeldt?», brummte der Hauptkommissar.

Winterfeldt war einer ihrer Neuzugänge, hatte kurz vor Lehmann angefangen.

«Chef, wir haben hier nebenbei Kanal Neun laufen, und da kommt eben ein Schriftband durch, dass sie sich gleich zu einer dramatischen Wende in unseren Ermittlungen melden werden.»

Einen Moment lang war Jörg Albrechts Kopf vollständig leer.

«Chef? Haben wir denn neue Entwicklungen?»

«Haben wir nicht. Danke.» Ohne weiteren Kommentar beendete er das Gespräch.

Lehmann und Faber sahen ihn fragend an. Albrecht schüttelte den Kopf.

«Haben Sie jemanden auf den Friedhof geschickt?»

«Haben wir.» Hannah Friedrichs kam langsam auf die Gruppe zu. Albrecht sah, warum sie sich nicht schneller bewegte. Kerstin Eberts Mann war ein Riese, auch als Schattenriss deutlich zu erkennen.

«Die Beamten haben sämtliche Friedhofsbesucher befragt, die sie in der Ecke angetroffen haben», sagte Friedrichs. «Es waren exakt drei. Kein Friedhofswetter heute.»

Albrecht nickte düster. Nein, kein Friedhofswetter, es sei denn, man hat ganz eigene Gründe, die Parkanlagen zwischen den Grabstätten aufzusuchen. Dunkle Gründe.

Aber warum hätte Kerstin Ebert dorthin gehen sollen?

Was, wenn sie einfach Abstand gebraucht hatte, bevor sie Ole Hartungs Witwe gegenübertreten konnte?

«Spekulationen», murmelte er. Der Nieselregen schien mit jeder Sekunde dichter zu werden, das Zwielicht undurchdringlicher.

Eine Wende in den Ermittlungen? Wo, bitte schön?

Sokrates, dachte er. Denk an Sokrates! Wenn du nichts weißt …

Standing on a beach with a gun in my hand

Staring at the sea, staring at the sand

Ein blechernes Rumpeln und Scheppern. Friedrichs’ Handy. Ihr Klingelton: Gruftgesänge einer der Düsterkapellen aus ihrer Jungmädchenzeit.

Sie machte eine entschuldigende Handbewegung, griff in ihre Jacke. «Ja? Habt ihr was?» Sie lauschte. Albrecht glaubte zu erkennen, wie ihre Augen sich weiteten. «Wo?»

Ihre Hand zitterte, als sie das Telefon sinken ließ.

«Ein Aufnahmewagen von Kanal Neun ist gerade auf das Friedhofsgelände eingebogen. Außerhalb des Bereichs, für den wir Platzverweise ausgesprochen haben.» Sie holte Luft. «Der Beamte vor Ort ist sich nicht ganz sicher, doch er glaubt, auf dem Beifahrersitz saß Margit Stahmke.»

***

«Wo fahren wir hin?» Unser Herr und Meister klammerte sich an den Haltegriff, als hinge sein Leben davon ab. Er hasste es, wenn ich am Steuer saß, doch in diesem Moment war ich nicht fähig, die Situation zu genießen.

Mit einer hektischen Bewegung hatte ich das Blaulicht auf das Wagendach gesetzt, das Martinshorn machte uns den Weg frei.

Oliver Ebert saß schweigend auf der Rückbank. Lehmann, Faber und Euler folgten im Fahrzeug hinter uns, im Schlepptau zwei Einsatzwagen mit Uniformierten.

«Cordesallee», murmelte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. «Hauptzufahrt.»

«Was zur Hölle will sie da? Das ist fast das entgegengesetzte Ende des Friedhofs!» Albrechts Worte kamen nur aus weiter Ferne bei mir an. Reflexionen des Verkehrs auf dem nassen Asphalt. Die Schattenseite des Daseins als Großstadtbulle: Die Autofahrer sind eilige Einsätze gewohnt und weichen selbst bei Blaulicht und Martinshorn erst im letzten Moment aus.

Mit überhöhter Geschwindigkeit raste ich über eine rote Ampel, scherte auf die Fuhlsbüttler ein, die Kolonne folgte. Bremsen quietschten. Keine Zeit für den Rückspiegel.

Über uns die Eisenbahnbrücke, dann links der Klotz des neuen Krematoriums, jetzt die Friedhofsverwaltung. Albrecht fluchte, als ich mit sechzig Sachen die Abzweigung nahm und die Hinterräder der Zivilstreife wegrutschten. Um Haaresbreite verfehlte ich die schmiedeeisernen Torpfosten und fuhr auf das Gelände des Friedhofs.

«Sie könnten höchstens auf die Mittelallee biegen», überlegte der Chef. «Dann kommen sie wieder näher ans Wohngebiet.»

Ich hämmerte auf den Fernlichthebel. Die Hauptachse des Ohlsdorfer Friedhofs war wie eine schnurgerade Schneise durch einen dichten Wald. Ein, zwei Fahrzeuge kamen uns entgegen, fuhren eilig rechts ran. Ein Stück vor uns …

«Der Aufnahmewagen!» Ich ging in die Bremsen.

Das Fahrzeug sah verlassen aus, parkte an einer Art Spukschloss, das urplötzlich zwischen den hohen Bäumen aufragte.

«Der alte Wasserturm an der Cordesallee», hörte ich Albrecht murmeln. Irgendwie klang er überrascht, dann fiel mir ein, dass es von hier aus nicht weit zu der Wohnung sein konnte, in der er mit seiner Ex gewohnt hatte, bevor sie den Kasten in Ohlstedt gekauft hatte.

Ich wendete in einem halsbrecherischen Manöver, setzte den Wagen direkt an die hintere Stoßstange des Kanal-Neun-Busses. Wenn Lehmann an der Vorderseite dasselbe machte, würden Stahmke und ihr Team heute Abend nirgendwo mehr hinfahren – jedenfalls nicht, bevor sie uns nicht haarklein erzählt hatten, was sie hier im Dunkeln zu suchen hatten.

Unser Jüngster war auf Draht. Ich glaubte sogar ein metallisches Schaben zu hören, als er die vordere Stoßstange touchierte.

«Wo sind sie?» Max Faber kam um den Wagen herum, die anderen Männer waren wie Schatten in seinem Rücken.

Es war nicht völlig dunkel. Matte Laternen säumten die Straße, und unmittelbar am Wasserturm gab es eine Bushaltestelle, an der allerdings kein Mensch zu sehen war. Der Friedhof hatte zwar bis neun Uhr abends geöffnet, doch bei diesem Wetter war anscheinend niemandem nach einem Abendspaziergang zumute – die Presseleute ausgenommen.

Der Regen hatte jetzt aufgehört. Im Westen – der Richtung, aus der wir gekommen waren – stand ein blutiges Abendrot. Der Himmel sah aus wie ausgeweidet.

Blut. Wo kam die Gänsehaut auf meinen Armen her?

«Da drüben!» Lehmann wies in Richtung Turm, nein, weiter links. Nach einem Moment sah ich es auch. Lichter zwischen den Bäumen. Lichter, die sich bewegten.

«Das sind sie!» Albrecht stürmte los, doch er kam nur ein paar Schritte weit. Ein Dickicht wie im tiefsten Sachsenwald, die Lichter kaum noch zu erkennen.

Eine Taschenlampe flammte auf. Faber leuchtete einmal in die Runde. Ein Stück rechts von uns gab es einen Weg.

Inzwischen waren auch die beiden Einsatzwagen eingetroffen. Die uniformierten Beamten schlossen sich an, als wir eilig in das dunkle Gelände abseits der Allee vordrangen.

Die Nacht war nicht still. Der letzte Regen tröpfelte von den Bäumen, überall raschelte es. Vögel, vielleicht auch größere Tiere. Dennis hatte mal behauptet, auf dem Ohlsdorfer Friedhof gäbe es sogar Wildschweine. Ich war mir bis heute nicht sicher, ob er mich nur auf den Arm genommen hatte.

«Das ist unmöglich!», brummte der Chef. «Das sind mehrere Kilometer von hier – zu beiden Häusern. Ebert ist schwanger! Was im Leben soll sie hier draußen …»

Eine gute Frage, dachte ich. Und mir wollte keine Antwort einfallen. Jedenfalls keine, die mir gefiel.

Was hätte eine hochschwangere Frau am entgegengesetzten Ende des Friedhofs verloren gehabt? Ihre Eltern waren auf der Anlage beigesetzt, aber in einer völlig anderen Ecke. Ich war auf der Beerdigung des Vaters gewesen. Und Kerstin war nicht zum Friedhof unterwegs gewesen, sondern zu Sabine Hartung, zwei Häuserblocks von ihrem Haus!

Vor viereinhalb Stunden.

Was, wenn Margit Stahmkes Abendausflug gar nichts mit Kerstin zu tun hatte? Irgendeine andere nachtfinstere Story, die sie vor ihren Zuschauern auspacken wollte?

Doch das schien eher unwahrscheinlich. Wenn unser Herr und Meister in der rechten Stimmung war, hieß die Stahmke bei ihm nur die Zecke. Wo diese Frau sich mal festgebissen hatte, ließ sie so schnell nicht wieder los.

Und so oder so: Eine Geschichte, für die ein Team von Kanal Neun nach Einbruch der Dunkelheit den Friedhof heimsuchte, ging mit Sicherheit auch uns was an.

Schließlich waren wir die Kripo.

«Da drüben!»

Wer hatte gesprochen? Oliver jedenfalls nicht. Kerstins Mann hielt sich eng an meiner Seite, sagte kein Wort. Doch ich spürte, dass er meine Nähe suchte, wie ein kleines Kind, das in diesem Moment eine vertraute Person brauchte. Ein kleines Kind – Raoul. Meine Kehle war rau, als ich schlucken musste.

Woher kam diese Ahnung, dass wir im Begriff waren, etwas Schreckliches zu entdecken?

Die Lichter waren nun direkt vor uns. Sie bewegten sich nicht mehr. Ein Spot schnitt einen Streifen Helligkeit aus der Nacht, beleuchtete mehrere Reihen eher durchschnittlicher – und nicht sonderlich gepflegter – Grabsteine. Und Margit Stahmke, die mit ihrem Mikrophon zwischen den Marmormonumenten balancierte. Über ihrem Edelkostüm trug sie einen Trenchcoat.

«Eine schlimme Ahnung ist zur Gewissheit geworden.» Ihre Stimme tönte über die Lichtung. «Hamburg befindet sich heute Abend im Schockzustand.»

Du wiederholst dich, altes Mädchen, dachte ich, doch gleichzeitig wurden meine Schritte schneller. Oliver keuchte plötzlich auf und stolperte vorwärts.

Stahmke sah konzentriert in das Licht. Sie hatte keine Chance: Von uns bekam sie nichts mit.

«Nachdem am Morgen in einem zwielichtigen Club nahe der Reeperbahn bereits der grausam geschändete Körper eines einundsechzigjährigen Kripobeamten aufgefunden wurde, stehen wir heute Abend nun hier, auf dem altehrwürdigen Ohlsdorfer Friedhof …»

Weiter kam sie nicht. Oliver hechtete zwischen den Steinen hindurch, Albrecht versuchte ihm zu folgen. Ich selbst konnte nichts erkennen, sie waren im Weg. Lehmann, Faber … Irgendjemand stieß gegen den Kameramann. Der Lichtkegel kippte, veränderte sich und fiel auf ein Lumpenbündel, das ein paar Schritte neben Stahmke auf dem Boden …

Mein Herz blieb stehen. Ich selbst blieb stehen, festgefroren auf einer Lichtung mitten auf dem Ohlsdorfer Friedhof.

Ich stierte auf das Gewirr von Lumpen, das der Scheinwerfer jetzt mitleidlos erhellte. Lumpen und … rohes, blutiges offenes Fleisch. Der Geruch, der Gestank, warum hatte ich ihn bis zu diesem Moment nicht wahrgenommen?

Das kann sie nicht sein! Ein irrsinniger Gedanke. Das kann sie unmöglich sein! Was so stinkt, muss schon seit Tagen tot sein!

Und doch wusste ich, wie auch immer das möglich sein sollte, dass diese Ansammlung unförmig schwärenden, toten Fleisches Kerstin war. Meine Freundin Kerstin. Kripokommissarin Kerstin Ebert.

Um Margit Stahmke war eine Art Ringkampf ausgebrochen. Oliver versuchte zu der Leiche vorzudringen, Lehmann und Faber hielten ihn fest. Albrecht versuchte, der Journalistin das Mikrophon abzunehmen.

Und der Kameramann hatte sich wieder berappelt und das Aufnahmegerät auf seine Schulter gesetzt.

Er schneidet das alles mit. Die Erkenntnis jagte durch meinen Kopf. Und mit Sicherheit sind sie live auf Sendung. Das gibt die Quote des Jahres.

Albrecht musste das im selben Moment erkannt haben. Plötzlich ließ er von der Pressefrau ab, trat einen Schritt zurück.

Und plötzlich war alles anders.

Es gab eine Sache an diesem mittelgroßen Mann mit seinen edlen Anzügen, den eisgrauen Haaren, den tiefen Falten um die Augen, der Nase und dem Kinn, die beide irgendwie eine Nummer zu groß waren … eine Sache, bei der man einfach sprachlos war, wenn man sie zum ersten Mal erlebte.

Jörg Albrecht konnte zaubern.

Wenn er nur wollte, konnte er für ein paar Sekunden die Welt anhalten. Womöglich war ihm das gar nicht bewusst, aber wenn er sich in einer bestimmten Weise hinstellte, auf eine bestimmte Weise sprach, hatte dieser Mann eine derartige Ausstrahlung, eine natürliche Autorität – man konnte einfach nicht anders. Sekundenlang vergaß man, was man gerade hatte tun wollen. Man stand einfach da und musste ihm zuhören.

«Frau Stahmke, ich fordere Sie auf, diese Übertragung auf der Stelle abzubrechen und uns aufs Revier zu begleiten.»

Auf die Journalistin schien der Zauberbann nur bedingt zu wirken. Sie musterte ihn spöttisch. «Ich bin verhaftet?» Sie sah über die Schulter. «Paul auch?»

«Sie beide sind hiermit vorläufig festgenommen wegen dringenden Tatverdachts des Mordes an Frau Kerstin Ebert.» Er sprach vollkommen ruhig. «Sie sind verpflichtet, mir Ihre Personalien bekanntzugeben. Darüber hinaus haben Sie das Recht, zu schweigen. Wenn Sie dennoch eine Aussage machen, kann diese von nun an gegen Sie verwandt werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. – Haben Sie das verstanden?»

«Sie machen sich lächerlich!»

Ein wenig lauter, eine Nuance nur: «Haben Sie das verstanden?»

«Ja, ich habe verstanden.» Stahmkes Stimme zitterte, doch ich sah auch das siegesgewisse Blitzen in ihren Augen. «Damit kommen Sie im Leben nicht durch.»

Natürlich hatte sie recht, und Jörg Albrecht musste das wissen. Und wenn Isolde Lorentz persönlich in die Bresche sprang, um ihm den Hintern zu retten – was sie nicht tun würde. Für diese Aktion zur besten Sendezeit würde er sich verantworten müssen.

Doch Albrecht zuckte nur die Schultern, und damit endete der Bann.

Einer der uniformierten Beamten legte die Hand vor das Objektiv der Kamera. Der Mann, der sie bediente – Paul –, ließ sich ohne Gegenwehr festnehmen. Auch Margit Stahmke räumte nun widerstandslos die Stellung, als Jörg Albrecht sie mit einer einladenden Geste aufforderte, das Gräberfeld zu verlassen.

Endlich konnte auch ich mich wieder bewegen – und gegen meinen Willen richteten sich meine Augen auf das Bündel, das Kerstin gewesen war.

Unmöglich zu sagen, an welcher Verletzung sie gestorben war. Sie war ja kaum noch als Mensch zu erkennen. Dass es Kerstin war, wusste ich nur, weil ich es einfach wusste.

Rohes Fleisch, übersät mit Wunden, und doch … Es war völlig anders als bei Ole Hartung. Ihrer Haltung nach war sie zu Füßen eines der Grabsteine zusammengesunken, den Rücken halb gegen den dunklen Marmor gelehnt. Wären nicht diese schrecklichen Entstellungen gewesen, hätte man glauben können, sie würde einfach nur schlafen. Soweit ich erkennen konnte, war sie vollständig bekleidet. Doch diese Wunden: Beulen, Schwären, aufgeplatztes, vereitertes Fleisch. Als hätte ihr Körper von innen her gekocht, Blasen geworfen.

Oliver Ebert wand sich in Lehmanns und Fabers Umklammerung, doch auf mich wirkten seine Bewegungen nur noch wie schwache Reflexe. Er war kaum mehr bei Besinnung. Kerstin … und sein Kind, sein ungeborenes Kind …

Jetzt wurden meine Kollegen durch die uniformierten Beamten abgelöst. Schwankend machte ich einen Schritt auf Kerstins Überreste zu. Ich musste vorsichtig sein, wir alle. Im Fleurs du Mal, wo alles voll gewesen war mit Finger-, Fuß- und Sonstwas-Abdrücken ungeklärter Herkunft, hatte die Spurensicherung keine Chance gehabt; hier konnte das ganz anders aussehen. Die Auffindungssituation. Deshalb vor allem mussten wir verhindern, dass Oliver zu der Leiche vordrang. Doch ich musste zumindest …

«Bleibt stehen! Alle!»

Ich zuckte zusammen.

Martin Euler hatte ich fast vergessen. Er hatte sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten, noch ein ganzes Stück hinter mir.

Erst jetzt kam er zögernd näher. «Nils», murmelte er. «Leuchte das mal an!» Der Leichenexperte deutete auf das Bündel, nein – ich kniff die Augen zusammen –, auf den Grabstein, kaum mehr als eine schlichte Tafel, an der die Tote lehnte.

Nils Lehmann ließ den Lichtkegel seiner Lampe über die Inschrift wandern:

Gustav Hertz

Professor der Physik

Nobelpreisträger

Darunter die Lebensdaten.

Für einen Nobelpreisträger sah die gesamte Umgebung ziemlich schäbig aus.

Euler machte noch einen Schritt, dann blieb er stehen und blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Seine Augen waren auf Kerstins Leichnam gerichtet.

«Das ist kein Zufall.» Er flüsterte; es klang fast andächtig. «Das ist … unglaublich. – Ole Hartung ist in diesem Fetischclub gestorben – auf genau die Weise, wie man das in so einem Laden erwarten könnte. Oder eher … befürchten. Wie ein präpariertes Objekt in einer Versuchsanordnung. Und das hier, das … Es ist genau dasselbe! Es gibt einen Grund, warum sie gerade hier liegt!»

«Sie ist tot, Martin.» Faber strich sich über die Glatze. Seine Stimme kippte. «Verdammt, auf dem Friedhof sind alle Leute tot.»

«Nein», murmelte Euler. «Das meine ich nicht. Diese Verletzungen … Ihr Zustand … Vor ein paar Stunden war sie noch kerngesund! Es gibt nur eine Handvoll physiologischer Prozesse, die derartige Veränderungen in einer solchen Geschwindigkeit bewirken können. Ein anaphylaktischer Schock oder … Aber …» Heftig schüttelte er den Kopf. «Seht ihr nicht, wie alles zusammenpasst? Der Grabstein! Gustav Hertz’ Elektronenstoßversuche zählen zu den wichtigsten Grundlagen der Bohr’schen Atomtheorie!»

Noch immer begriff ich nicht, doch Martin Euler verdrehte die Augen.

«Ausschläge, großflächige Läsionen der Haut, und das in so kurzer Zeit – das sind Symptome der atomaren Strahlenkrankheit! – Hauptkommissar? Bitte, Sie müssen sofort den Zivilschutz informieren! Wir müssen das gesamte Gelände hermetisch abriegeln!»

***

Drei Stunden später.

Drei Stunden, die anmuteten wie ein bizarrer Traum.

Mit dem Unterschied, dachte Jörg Albrecht, während er seinen Privatwagen der Reihenhaussiedlung nahe der Landesgrenze zu Schleswig-Holstein entgegenlenkte, mit dem Unterschied, dass Träume vorbei waren, sobald man erwachte, und im schlimmsten Fall einen unangenehmen Geschmack weit hinten auf der Zunge hinterließen, der einen hartnäckig durch den Tag begleitete.

Dieser Traum war nicht vorbei.

Albrecht schüttelte den Kopf, rief sich die Bilder dieses Abends ein letztes Mal ins Gedächtnis zurück. Eine Notwendigkeit, wenn er sie einordnen, sie ablegen wollte bis zum nächsten Morgen.

Der Strahlenschutztrupp in ABC-Kluft, astronautenhafte Wesen, die sich langsam und vorsichtig bewegten, als könnte jeder Fehltritt sie schnurstracks in die unendlichen Weiten des Alls befördern.

Where no man has gone before.

Mit bedächtigen Schritten hatten sie die Überreste Kerstin Eberts und ihres ungeborenen Kindes umkreist und mit ihren sciencefictionhaften Instrumenten die Strahlenintensität gemessen. Hätten sie noch kleine weiße Puschelschwänzchen getragen, wäre der surreale Albtraum vollkommen gewesen.

Doch nach einer halben Stunde hatten sie ihre Raumanzüge abgelegt, und der Chef des Kommandos hatte sich bemüht, dem Hauptkommissar die Details zu erklären: Alpha-, Beta- und Gammastrahlen, Äquivalentdosen, radioaktive Zerfallsprozesse und Halbwertzeiten – und warum vom Leichnam einer Frau, die einer immensen Dosis radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen war, wenige Stunden später keine Gefahr mehr ausging.

Einem Menschen, der frisch aus dem Röntgenlabor kommt, gehen Sie ja auch nicht aus dem Weg.

Dieser eine Satz war Jörg Albrecht gut im Gedächtnis geblieben. Er hatte sich höflich bedankt und beschlossen, den Rest des Gehörten auf der Stelle zu vergessen.

Eine Strahlungstote mitten in Hamburg. Gefährlich oder nicht: Ihm war klar gewesen, dass das ausreichen würde, um in der Stadt eine Hysterie auszulösen.

Die Nachrichten im Autoradio waren Beweis genug, dass dieser Prozess bereits im Gange war.

Und der Umstand, dass seine Schwester in den vergangenen beiden Stunden vier Mal versucht hatte, ihn mobil zu erreichen.

Morgen musst du sie zurückrufen, dachte er und veränderte den Griff ums Lenkrad. Leta war evangelische Pastorin und eine Seele von Mensch, doch seit seiner Scheidung nahmen die beständigen Versuche, ihn fernmündlich zu beglucken, bizarre Formen an.

Wenn aber der Atomtod ins Spiel kam …

Nein, es machte keinen Unterschied, dass die Leute jahrzehntelang mit den Kraftwerken in Krümmel, Brokdorf und Brunsbüttel direkt vor der Tür gelebt hatten.

Nukleare Strahlung.

Der Täter hatte ein Zeichen setzen wollen, so viel stand fest. Klar, präzise und überlegt.

Diese Erkenntnis war wichtig.

Natürlich war Jörg Albrecht erleichtert, dass von Eberts strahlenzerfressenem Leichnam keine Gefahr für die Millionenstadt ausging.

Erleichtert – aber nicht überrascht.

Er war im Begriff, sich ein Bild vom Täter – oder der Täterin – zu machen, und eine großräumige nukleare Verseuchung hätte nicht in das Schema gepasst, das er verschwommen zu erkennen begann.

Eine Taktik der langsamen, klammheimlichen Eskalation. Und dies war erst der zweite Schritt auf dem Wege … Auf dem Wege, ja, wohin?

Nirgendwohin, dachte Albrecht, als er auf die Langenhorner Chaussee einbog. Nicht mehr heute Abend jedenfalls.

Heute Abend hatte er eine Verabredung.

Alles andere musste Zeit haben bis morgen. Morgen – wenn es weitergehen würde.

Was im Fleurs du Mal und auf dem Friedhof geschehen war, war nichts als eine misstönende Ouvertüre gewesen, ein Präludium in Zwölftonmusik, dargeboten von einem tollwütigen Schimpansen.

Warum dachte er in musikalischen Begriffen?

Es musste daran liegen, dass er zu Heiner Schultz unterwegs war.

Der letzte Dienstag im Monat. Eine der wenigen Konstanten, die in Jörg Albrechts sogenanntem Leben noch existierten, die Anrufe seiner Schwester einmal ausgenommen.

Der Abend des letzten Dienstags im Monat war heilig. In einem Vierteljahrhundert waren Heiner Schultz und Jörg Albrecht ganze drei Mal von dieser Gewohnheit abgewichen: zwei Mal war Schultz auf Vortragsreise im Ausland gewesen, und ein Mal hatten Albrechts Mädchen gleichzeitig die Masern bekommen. Ansonsten aber, seit sechsundzwanzig Jahren …

Es hatte damit begonnen, dass Albrecht ein Bagatelldelikt in der Nachbarschaft untersucht hatte, kurz nachdem Schultz sein Amt als Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt nach nahezu zwei Jahrzehnten aufgegeben hatte. Sie waren ins Gespräch gekommen – und irgendwie hatte es sich ergeben.

Jörg Albrecht war sich bis heute nicht sicher, warum der alte Mann gerade an ihm einen Narren gefressen hatte, wie Joanna es einmal ausgedrückt hatte. Sicher war er sich lediglich, dass er selbst es anders ausdrücken würde.

Monat für Monat, dachte er. Und er hätte nicht einmal beantworten können, ob er im eigentlichen Sinne mit dem alten Mann befreundet war.

Diese Frage stellt sich nicht. Das würde vermutlich Heiner Schultz anworten.

Jörg Albrecht nickte dem einzelnen Wachmann zu, als er sein Fahrzeug vor dem unscheinbaren Reihenhaus in einer Seitenstraße abstellte.

Die Begrüßung durch die Hausangestellte war freundlich wie immer. Maria stammte aus einem Land im ehemaligen Ostblock und lebte seit dem Tod von Schultz’ Ehefrau mit dem ehemaligen Bürgermeister unter einem Dach.

Heiner Schultz selbst saß an seinem Platz in der Bibliothek, an dem er jedes Mal auf Albrecht wartete, im Rollstuhl inzwischen, und zog an einer Zigarette.

«Herr Bürgermeister?»

«Der Name ist Schultz!»

Die Begrüßung war ein Ritual. Sie reichten einander die Hand.

Albrecht hatte den Eindruck, dass die hellwachen Augen unter den schneeweißen Brauen ihn noch eine Spur aufmerksamer betrachteten als gewöhnlich. Ob der alte Mann die Pressekonferenz …

Doch Heiner Schultz verfolgte keine Fernseh- oder Radionachrichten mehr. Was wirklich wichtig sei, sei schließlich ebenso gut am folgenden Morgen in der Zeitung nachzulesen.

Albrecht zögerte.

Aus einer unsichtbaren Quelle plätscherte ein Klavierkonzert, kaum mehr als ein Hintergrundrauschen. Das Schachspiel stand zwischen ihnen auf dem Tisch, ein Geschenk von Schultz’ altem Freund, dem ehemaligen französischen Präsidenten, die weißen Figuren heute dem Hauptkommissar zugewandt. Monat für Monat wurde es einmal um die eigene Achse gedreht, doch es musste irgendwann im vergangenen Jahrtausend gewesen sein, dass sie zuletzt eine Partie miteinander gespielt hatten.

Sie sprachen über tausend Dinge an diesen Abenden. Fast nie über die konkrete Weltlage – Schultz’ Geschäft – oder über konkrete Ermittlungsarbeit – Albrechts Geschäft. Sokrates und Marc Aurel saßen mit am Tisch, wenn sie beisammensaßen. Kant und Thomas von Aquin. Seneca wurde hin und wieder hinzugebeten, Friedrich II. von Hohenstaufen – jeder große Geist, der jemals gefragt hatte: Wie verhalte ich mich richtig? Wie ist es möglich, die wahre Natur der Dinge zu erkennen?

Albrecht nickte, als er sich in seinen Stammsessel sinken ließ. Ja, es kam selten vor, dass er unmittelbar von seiner Arbeit berichtete.

Heute würde er berichten.

Schultz hörte ihm aufmerksam zu, zündete sich hin und wieder eine neue Zigarette an, paffte Rauchkringel in die Luft und klopfte ein oder zwei Mal gegen sein Hörgerät, wenn er einen Satz nicht verstanden hatte, woraufhin Albrecht ihn noch einmal wiederholte.

«Und dort stehen wir am heutigen Abend», schloss Jörg Albrecht seinen Bericht und strich über die Tischfläche, als hätte er die letzte Seite eines Dossiers dort abgelegt. «Dort stehen wir», murmelte er. «Am Rande des Grabes. Weniger als vierundzwanzig Stunden, und zwei meiner Mitarbeiter sind tot, ohne dass ich es verhindern konnte.»

Ein Glas trockenen Rotweins stand vor ihm auf dem Tisch, das Gegenstück vor Heiner Schultz, der es nachdenklich zu betrachten schien.

«Nun», sagte der alte Mann. «Wenn ich um einen Rat gebeten würde …»

«Ich bitte darum.» Albrecht nickte ihm auffordernd zu und führte sein Glas an die Lippen.

Schultz räusperte sich. «Wie ich das sehe, haben Sie bisher keinen wirklich entscheidenden Fehler gemacht, Jörg. Sie haben nämlich recht, wenn Sie sagen, dass Sie den Tod dieser beiden Menschen nicht verhindern konnten. Sie hatten schlicht keine Gelegenheit dazu. – Sie deuten an, dass Sie diese Todesfälle für den Beginn einer Serie halten. Das mag sein oder auch nicht sein, aber auf keinen Fall gab es einen früheren Zeitpunkt, eine solche Vermutung anzustellen, als diesen, nun, da es ein zweites Opfer gibt.»

Eine knappe Handbewegung, die die Aussage unterstrich. Ein tiefer Zug, der die Spitze der Zigarette rot aufglimmen ließ.

«Entscheidend ist, dass Sie jetzt die richtigen Schlüsse ziehen.»

Albrecht nickte und stellte das Glas zurück auf den Tisch.

«Welche Schlüsse würden Sie …»

Der Blick des alten Mannes verhärtete sich. «Diese Frage stellt sich nicht.»

Der Hauptkommissar biss die Zähne zusammen. Warum kam das nicht überraschend?

«Dabei kann ich Ihnen nicht helfen», erklärte Schultz. «Wenn Ihnen jemand helfen kann, dann ist es Sokrates.»

Jörg Albrecht hob die Augenbrauen.

«Die richtige Frage …» Der alte Mann hob die Stimme, um deutlich zu machen, dass er einen Lehrsatz zitierte. «… trägt die richtige Antwort in sich. – Und hier sind viele Fragen denkbar: Stellen Ihre Morde eine Serie dar? Wenn das der Fall ist, was verbindet sie? Wo befindet sich der Ausgangspunkt?»

«Beide Opfer …», begann Albrecht, doch Schultz hob Einhalt gebietend die Hand – nur Zentimeter über die Tischplatte, doch die bloße Geste genügte, den Hauptkommissar auf der Stelle verstummen zu lassen.

«Das könnten Ihre Fragen sein», betonte Schultz. «Doch Sie haben keinerlei Garantie, dass es tatsächlich die richtigen Fragen sind. Ich rate dringend, sie lediglich als Beispiele zu betrachten. Ebenso gut könnten Sie fragen, ob es sich um einen zweiten Täter handelt, der nach dem Muster der ersten Tat … Wie nennen Sie das?»

«Einen Nachahmungstäter?»

«Genau.» Ein tiefer Zug. «Das wäre ebenfalls eine Möglichkeit. Und mit Sicherheit wären noch eine ganze Reihe weiterer Möglichkeiten denkbar.»

«Aber unwahrscheinlich», murmelte Albrecht.

«Einen regierenden Senat kann man nicht auf der Basis von Wahrscheinlichkeiten führen», bemerkte Schultz. «Ob das bei einer Ermittlung möglich ist, weiß ich nicht.»

Albrecht gab sich Mühe, nicht zusammenzuzucken. Seine Rüffel dosierte Heiner Schultz bedeutend großzügiger als sein sorgsam verklausuliertes Lob.

Der Hauptkommissar biss die Zähne zusammen.

«Beide Opfer waren Polizisten», sagte er. «Beide Opfer waren Angehörige einer Abteilung, die Kapitalverbrechen nachgeht. Meiner Abteilung.»

Die Antwort war ein Rauchkringel. Ein verformtes, geheimnisvolles Schriftzeichen.

«Mene, mene tekel», murmelte Jörg Albrecht. «Gewogen und für zu leicht befunden.» Sein Blick fixierte den alten Mann. «Diesen Fehler mache ich nicht. Die Bilanz unserer Arbeit kann sich sehen lassen. Seitdem ich das Kommissariat leite, haben wir eine dreistellige Zahl schwer krimineller Menschen hinter Schloss und Riegel gebracht.»

Und da hätten die meisten von ihnen noch immer schmachten sollen, wenn es nach ihm gegangen wäre.

Ihm war klar, dass Heiner Schultz hier andere Positionen vertrat, doch Kontroversen dieser Art trugen sie nicht miteinander aus. Albrecht hatte seine Auffassung, der Bürgermeister außer Dienst eine andere, und sie waren erwachsen genug, einander gewähren zu lassen.

Auch wenn es in diesem Fall schwerfiel.

«Sie wissen, wie die Dinge liegen», stellte der Hauptkommissar lediglich fest. «Selbstredend haben alle diese Menschen eine fürchterliche Kindheit hinter sich, und entsprechend befindet sich die Hälfte von ihnen inzwischen wieder in Freiheit. – Die andere Hälfte hat mich noch im Gerichtssaal auf ihre hervorragenden Verbindungen hingewiesen, die sie nach draußen besitzt.»

Ein Rauchkringel. Sonst nichts.

Jörg Albrecht schwieg für einige Sekunden. Es gab Dinge, die sich von selbst verstanden. Dinge, die er nicht ausbreiten konnte vor diesem nüchternen alten Mann.

Joanna, die Kinder: Er hatte immer gewusst, dass er in einem zerbrechlichen Glück lebte. Er sollte froh sein, dass es Dr. Hannes Jork gewesen war, der Wunderdentist, der dieses Glück beendet hatte.

Besser als Henrik Mørckel, auf dessen Konto drei zerstückelte Frauen gingen, oder der Assafi-Clan, der ein halbes Jahrzehnt lang das Heroingeschäft in der Stadt kontrolliert hatte.

Nein, Joanna konnte ihm niemand mehr wegnehmen. Trotzdem hatte er bereits veranlasst, dass eine Zivilstreife vor dem restaurierten Bauernhaus nach dem Rechten sehen würde.

Joanna war geschützt, doch …

Albrecht griff nach dem Weinglas, nahm den letzten Schluck und schenkte sich nach, nachdem Schultz auf seinen fragenden Blick hin den Kopf geschüttelt hatte.

«Herr Bürgermeister, Sie wissen, was es heißt, Verantwortung zu tragen», sagte Jörg Albrecht. «Sie haben diese Situation zu Ihrer Zeit im Amt selbst erlebt. Der Bus. Die Kinder.»

Heiner Schultz nickte, und seine Gestalt schien noch ein Stück in sich zusammenzusinken.

«Wir wussten, dass diese Männer den Bus in ihrer Hand hatten.» Seine Stimme war jetzt kaum mehr als ein Nuscheln, die sonst so wachen Augen getrübt. Weit entfernt, dachte Jörg Albrecht. Weit in der Vergangenheit. «Oben, auf der Köhlbrandbrücke, mit siebenunddreißig Kindern an Bord. Ihre Forderung war, dass wir ihre in Fuhlsbüttel inhaftierten Gesinnungsgenossen freigeben sollten. Falls ich mich weigerte, drohten sie damit, das Fahrzeug mitsamt den Insassen in die Tiefe zu stürzen. Wir mussten davon ausgehen, dass sie diese Drohung wahrmachen würden.»

«Sie …»

«Die Frage, ob ich ein Held bin, ist abwegig!» Die alten Augen funkelten ungehalten.

Die habe ich auch nicht stellen wollen, dachte Jörg Albrecht. Doch er verstand den Reflex des alten Mannes. Schließlich war der ehemalige Bürgermeister oft genug mit ihr konfrontiert worden.

«Ich entschied, den Bus stürmen zu lassen», murmelte Schultz. «Nach Abwägung sämtlicher Möglichkeiten war ich zu der Überzeugung gelangt, dass mir keine andere Wahl blieb. Den Forderungen der Entführer nachzugeben, kam nicht in Frage, und der Zustand wurde unhaltbar.»

«Sie mussten damit rechnen, dass es Opfer geben würde.»

«Die hat es auch gegeben!» Ein Schnauben. «Unter den Entführern! – Doch wäre eines der Kinder getötet worden oder einer der Beamten …» Eine Handbewegung in den Raum. «Ich wäre am nächsten Tag zurückgetreten.»

Und das sollte etwas heißen, dachte Albrecht. So wichtig wie Schultz sein Amt genommen hatte.

Die Hand voller Altersflecken zitterte, als der ehemalige Bürgermeister sich eine neue Zigarette anzündete und das Feuerzeug neben das Schachbrett legte.

Der Blick des Hauptkommissars fiel auf die in Startposition aufgereihten Figuren, weiß auf seiner Seite, schwarz bei Schultz. Nächsten Monat würde es umgekehrt sein.

Seine Augen blieben am schwarzen König hängen.

«Sehen Sie diese Figur, Herr Bürgermeister?», fragte er. «Das sind wir. Sie und ich. – Sie damals, ich heute. Wir sind es, die die Entscheidungen treffen, unsere Männer da rausschicken. Wir müssen damit leben, dass es Opfer gibt – und die Verantwortung dafür tragen.»

Aufmerksam betrachtete Schultz die Phalanx der holzgeschnitzten Figuren. Kein Nicken, lediglich ein neuer Rauchkringel.

Dann: «Ihr Vergleich hinkt», murmelte der alte Mann. «Eine Spielfigur ist eine Spielfigur. Nicht sie trifft die Entscheidungen, sondern der Spieler. Andererseits sind Sie und ich dem König des Schachspiels insofern ähnlich, als wir – anders als der Spieler – während der Partie ebenfalls in Gefahr geraten. Wobei die Regeln es streng genommen verbieten, den König zu schlagen. Wenn der Spieler matt gesetzt ist, ergibt sich der König.» Ein tiefer Zug, der die Zigarette bis zum Filter aufglühen ließ. «Mein Senat hatte Anweisung, auf keinen Fall nachzugeben, falls ich selbst diesen Leuten in die Hände fallen sollte.»

Jörg Albrecht hatte zugehört, doch seine Augen waren schon wieder bei der geschnitzten schwarzen Figur.

«Aber genau das ist es», sagte er leise. «Der Gegner schlägt die einzelnen Figuren, schlägt Bauern, schlägt Türme und Läufer, schlägt den Springer, selbst die Dame. Jedes Opfer hat eine Bedeutung: für unseren Gegner, weil sie Mittel zum Zweck sind, aber mehr noch für uns. Denn mit jedem von ihnen …» Er suchte den Blick des alten Mannes, verschwommen hinter einer Qualmwolke, als Schultz sich übergangslos die nächste Zigarette anzündete. «Mit jedem von ihnen stirbt ein Stück von uns», erklärte Albrecht. «Von mir. Denn das ist das eine, das wahre Ziel, Herr Bürgermeister: der König. Ich bin das Ziel.»

«Dazu kann ich nichts sagen.» Lungenzug.

Doch je länger Albrecht die Aufstellung der Figuren betrachtete, desto deutlicher wurde es.

«Selbst Stahmke passt ins Bild», murmelte der Hauptkommissar. «Seit mehr als zwanzig Jahren rückt die Frau mir nicht von der Pelle. Und ausgerechnet sie ist es, die die entscheidenden Informationen jedes Mal eine Winzigkeit vor mir erhält. Und mit den Informationen die Gelegenheit, die Toten vor ihrer Kamera zur Schau zu stellen. Diese Stahmke …»

«Kenn ich nicht.» Schultz aschte ab. «Die Presselandschaft hat sich seit meiner Amtszeit verändert. Und nicht zum Guten.»

«Ich habe sie festsetzen lassen.» Jörg Albrecht war seit drei Jahren Nichtraucher. Die Abende mit Schultz waren eine immerwährende Versuchung, dieser Abend mehr denn je. «Vierundzwanzig Stunden kann ich sie festhalten», murmelte der Hauptkommissar. «Sie wird damit gerechnet haben, dass ich jede Sekunde nutzen werde, um sie auszuquetschen. Ein Grund mehr, das exakte Gegenteil zu tun.»

«Ich sage Ihnen nicht, dass Sie unnötige Rücksicht auf die Presse nehmen sollen.» Die Augen des alten Mannes verengten sich. «Das habe ich zu meiner Zeit auch nicht getan. Was in der konkreten Situation geboten erscheint, steht immer an erster Stelle. Doch es führt zu nichts, diese Leute unnötig zu reizen.»

Albrecht schüttelte stumm den Kopf. Stahmke war der einzige Ansatzpunkt, den er im Augenblick hatte, und sein Gefühl sagte ihm, dass er am ehesten Auskünfte erhalten würde, wenn er sie schmoren ließ.

Das ist es, was uns unterscheidet, dachte er, während er beobachtete, wie Schultz den Qualm genießerisch durch die Nasenlöcher ausblies.

Intuition. Heiner Schultz war ein Mensch, der eine Sache sorgfältig von allen Seiten durchdachte, das Für und Wider abwog, bevor er eine Entscheidung traf. Eine Taktik, die seltsamerweise selbst unter Zeitdruck funktionierte.

Und genau hier war Jörg Albrecht anders. Es gab Momente in einer Ermittlung, in denen er die Richtung, in der die Fäden des Falles verliefen, zu spüren glaubte.

Und dies war einer dieser Momente.

Er selbst war das eigentliche Ziel des Täters. Der Gedanke verfestigte sich von Sekunde zu Sekunde, ließ zum ersten Mal Perspektiven deutlich werden, Erklärungsansätze und Möglichkeiten.

Jörg Albrecht als Ziel, seine Mitarbeiter als potenzielle Opfer.

Was sagte das über den Täter aus? Oder die Täterin?

Konnte Albrecht wirklich noch glauben, dass diese Taten auf das Konto einer Frau gingen?

«Wer?», murmelte er. «Und warum?»

Heiner Schultz betrachtete ihn.

Der Hauptkommissar wusste, dass der alte Mann keine Antwort für ihn hatte.

Die Antwort, die sich wie von selbst aus der richtigen Frage ergab.

Jörg Albrecht hatte das Gefühl, dass er ihr einen wichtigen Schritt näher gekommen war.