vier

Die Polizeipräsidentin schlug die Mappe zu. Der Knall hallte durch ihr Büro, als hätte sie dem Hauptkommissar eine Ohrfeige verpasst.

Wenn sie wütend wurde, sah sie durchaus anziehend aus, stellte Jörg Albrecht nicht zum ersten Mal fest. Die roten Haare waren mit ziemlicher Sicherheit gefärbt, aber der intensive, rosige Teint auf ihren Wangen …

«Das ist Ihre spektakuläre neue Spur? Eine Kartenlegerin

Albrecht nickte verbindlich. «Ich habe mich nicht erkundigt, ob sie diese Tätigkeit professionell ausübt, doch das lässt sich nachholen.»

«Und diese Frau hatte also den Eindruck, dass sich Kerstin Ebert und der Täter gefunden hätten?»

«Nicht den Eindruck», korrigierte Albrecht. «Das Gefühl.»

«Warum habe ich das Gefühl, dass Sie diese Ermittlung nicht ernst nehmen?», giftete Isolde Lorentz. «Wenn ich von einem Beamten geglaubt hätte, dass er begreift, was hier auf dem Spiel steht, dann wären Sie das gewesen! Die Dimensionen einer Ermittlung im Blickpunkt der Öffentlichkeit!»

Er schlug den Blick nicht nieder. «Doch, darüber bin ich mir vollkommen im Klaren.»

Jörg Albrecht hatte gelogen, als er gegenüber Friedrichs betont hatte, sie müsse sich keine Sorgen machen. Die Polizeipräsidentin könne es sich nicht leisten, ihn vorzeitig von dem Fall abzuziehen.

In Wahrheit spürte er eine tiefe innere Unruhe, und er unterschätzte die Instinkte der Frau, die ihm jetzt gegenübersaß, nicht. Doch selbst sie konnte ihm nichts anmerken.

Eine kupferrote Haarsträhne hatte sich aus Isolde Lorentz’ Frisur gelöst und fiel ihr in die Stirn. Jörg Albrecht hatte diese Strähne aufmerksam im Blick. Es war ein uralter Trick. Für die Polizeipräsidentin musste es aussehen, als schaue er ihr unentwegt in die Augen.

Die wenigsten Menschen konnten das lange ertragen. Wenn sie gerade dabei waren, ihr Gegenüber fachmännisch zusammenzufalten, galt das verstärkt.

Doch so sehr dieser besondere Teint ihm auch gefiel: Er wusste, dass er es nicht übertreiben durfte.

«Ich könnte mir vorstellen, dass Kerstin Ebert selbst bei ihrer Bekanntschaft mit dem Täter ein ganz ähnliches Gefühl hatte», erklärte er. «Zwei Menschen, die sich gefunden haben. Und Kriminalkommissar Hartung war dreiundzwanzig Jahre lang für mich tätig. Ich denke, ich darf mit Recht behaupten, dass ich diesen Mann einschätzen kann. Er war ein misstrauischer Mensch, wie geschaffen für die verdeckte Ermittlungsarbeit.

Was ansonsten in ihm geschlummert hat, kann ich nicht beurteilen. Die sexuellen Vorlieben meiner Mitarbeiter gehen mich nichts an. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: In die Lage, in der er aufgefunden wurde, hat er sich nicht leichtfertig gebracht. Er hatte Gründe, warum er dieser Person sein Vertrauen geschenkt hat. Gründe, die stärker waren als seine Skepsis.»

Lorentz öffnete den Mund, zögerte jedoch. «Sie glauben, er war der Meinung, da hätten sich zwei Menschen gefunden?»

Albrecht hob die Schultern. «Ich glaube nicht, dass er es auf diese Weise ausgedrückt hätte. Doch ich habe keinen Zweifel daran, dass diese Person etwas Besonderes für ihn war. Warum sonst hätte er alle seine Prinzipien über Bord werfen sollen?»

Die Polizeipräsidentin nickte widerwillig, tastete unter ihren Schreibtisch und brachte eine Schachtel Zigaretten zum Vorschein. Sie holte eine heraus, schob sie in einen Zigarettenhalter und nahm einen tiefen Zug.

Ganz anders als Heiner Schultz, dachte Albrecht.

Sündig.

Verboten geradezu.

Wie in allen öffentlichen Gebäuden.

«Und wie stellt diese Person das an?», fragte sie. «Woher ist sie dermaßen gut über Ihre Mitarbeiter informiert, dass sie ihnen die geheimsten Wünsche von den Augen ablesen kann?»

«Sie ist intelligent», erklärte Albrecht. «Sie beobachtet sehr aufmerksam. Und sobald sie zu einem ihrer zukünftigen Opfer ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte, wird sie ihre Chance genutzt haben, auf diesem Wege an Informationen über die Kollegen zu kommen.»

Lorentz stieß einen Rauchkringel aus.

«Was wir jetzt tun müssen …», begann Albrecht.

Lorentz hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen. Ein neuer, tiefer Zug folgte.

«Können Sie mir garantieren, dass diese Person nicht noch weitere Ihrer Kollegen gefunden hat?»

Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. «Nein, das kann ich nicht. Doch ich habe in unserem Meeting heute Vormittag genau dieses Problem angesprochen: eine neue, ungewöhnliche Bekanntschaft aus der letzten Zeit, die nicht recht ins persönliche Lebensmuster passt. Die Kollegen sind gewarnt. Sie machen sich ihre Gedanken.»

«Sie auch?»

Zwei Worte.

Albrecht stutzte. Er hasste es, auf dem falschen Fuß erwischt zu werden, und er wusste, dass er einer Frau gegenübersaß, die die Lücke in seiner Deckung auf der Stelle erkannte.

«Es gibt keine neuen Menschen in meinem Leben», erklärte er schließlich. Doch ihm war klar, dass diese Aussage zwei Sekunden zu spät kam. «Abgesehen von zwei neuen Mitarbeitern in den letzten Monaten, Lehmann und Winterfeldt. Beide unverdächtig. In meinem Leben tauchen keine neuen Menschen auf. Aus meinem Leben verschwinden Menschen.»

Lorentz nickte. «Das mit Ihrer Frau tut mir leid.»

«Sie ist nicht mehr meine Frau.»

Die Polizeipräsidentin holte Luft, zog einen Aschenbecher aus ihrer Schublade und drückte die halb gerauchte Zigarette aus.

«Wir haben es hier mit einer Mordserie zu tun, die zum Beunruhigendsten gehört, was die Stadt in den letzten Jahren erlebt hat», stellte sie in verändertem Tonfall fest. «Dass wir noch keine Massenpanik haben, verdanken wir einzig dem Umstand, dass sich die Opfer auf Angehörige derjenigen Abteilung beschränken, die exakt diese Verbrechen aufklären soll.»

Also doch. Albrecht wahrte seinen neutralen Gesichtsausdruck, doch er spürte, dass er blass wurde. Lorentz würde ihm den Fall abnehmen. Das war von Anfang an ihre Absicht gewesen. Sie hätte es eleganter gemacht, wenn er ihr die Chance gegeben hätte, doch am Ergebnis hatte es nie einen Zweifel gegeben.

«Die Identität des Täters ist noch immer unbekannt», fuhr sie fort. «Und wir müssen jederzeit damit rechnen, dass weitere Taten geschehen.» Sie sah ihn an. «Es tut mir leid. Gut möglich, dass Sie tatsächlich auf der richtigen Spur sind, aber ich kann Sie so nicht weitermachen lassen.»

Ein Griff in ihre unergründliche Schreibtischschublade.

«Hier.»

Ein kleines beschriftetes Kärtchen.

Albrecht blinzelte und streckte die Hand aus. Er stellte fest, dass sie zitterte.

Prof. Dr. Hartmut Möllhaus

Institut für Rechtspsychologie

Technische Universität Braunschweig

Darunter Adresse und Telefonnummer.

Verwirrt sah der Hauptkommissar auf.

«Wie Sie wissen, verfügen wir über eine eigene forensische Psychologie», erklärte Lorentz. «Das gesamte Spektrum. Schuldfähigkeit, Umgang mit Zeugen, Burnout im Polizeidienst.» Eine kleine, strategische Pause, die Albrecht nicht gefiel. «Was Sie nur wollen. Doch kein Betrachter kann einen unvoreingenommenen Blick auf ein Bild werfen, wenn er selbst ein Teil des Dargestellten ist. Und meiner Meinung nach sind in diesem Fall alle unsere Beamten ein Teil des Dargestellten. Professor Möllhaus geht die Sache sozusagen von der anderen, der wissenschaftlichen Seite an. Von der theoretischen Seite, wenn Sie so wollen. Einige Ihrer Kollegen haben bereits erfolgreich mit ihm zusammengearbeitet. Sagen wir: Er wird Sie bei Ihrer Arbeit unterstützen, wenn Sie damit besser klarkommen.»

«Sie nehmen mir den Fall nicht aus der Hand?» Er verfluchte sich, dass seine Erleichterung so deutlich zu hören war.

Die rothaarige Frau fixierte ihn aus schmalen Augenschlitzen. «Sie sind befangen, Albrecht. Daran habe ich nicht die Spur eines Zweifels. Befangener als irgendjemand sonst. Der Mensch, der das getan hat, hat zwei Ihrer Mitarbeiter auf dem Gewissen. Wenn es jemanden gibt, der den Kerl stellen kann, dann sind Sie das.»

Der Hauptkommissar schluckte und betrachtete noch einmal die Karte.

Vor Gericht wäre das wohl ein Schuldspruch, dachte er.

Aber einer auf Bewährung.

«Das …» Er strich sich über die Hose. «Das war es dann?»

Sie antwortete nicht. Albrecht glaubte das als Zeichen interpretieren zu können, dass das Gespräch beendet war. Er stand auf.

«Sokrates», sagte sie.

Der Hauptkommissar war schon fast an der Tür.

«Ja?»

«Sokrates ist der Meinung, dass wir eine Frage nur dann formulieren können, wenn wir die Antwort schon kennen, richtig?»

Das war außerordentlich verkürzt ausgedrückt, doch Albrecht nickte.

«Noch so ein Zusammenstoß mit der Stahmke: Haben Sie sich schon mal gefragt, was dann mit Ihrem Dienstausweis passiert?»

Ihr Blick ging in die unergründlichen Tiefen ihrer Schreibtischschublade.

***

Es war das dritte Mal innerhalb von sechsunddreißig Stunden, dass ich in das Wohngebiet an der Wellingsbütteler Landstraße einbog.

Beim ersten Mal hatte ich einen Knoten im Magen gehabt, und für Sabine Hartung eine Todesnachricht, die sie bereits aus dem Frühstücksfernsehen kannte.

Beim zweiten Mal war mir geradezu übel gewesen. Völlig unvorhersehbar, wie sie reagieren würde, wenn ich schon wieder vor der Tür stand.

Diesmal hätte ich kotzen können.

Ich hatte diese Fahrt so lange wie möglich vor mir hergeschoben, hatte dafür aber auch durchaus meine Gründe gehabt: Eine Besorgung, die sich jetzt in dem aktenkoffergroßen Lederding befand, das regelmäßig für große Augen sorgte, wenn ich es als meine Handtasche vorstellte.

Eine vertretbare Verzögerung? Das würde sich zeigen. Wenn ich ehrlich war: Wirklich verantworten konnte ich nicht eine Minute Verzögerung.

In genau diesem Augenblick konnte im Fleurs du Mal ein nachtschwarzer Schatten hinter Nils Lehmann aufwachsen. Oder Marco Winterfeldt bekam 20000 Volt verpasst, sobald er einen seiner Rechner hochfuhr. Oder der alte Hansen, noch immer im Krankenhaus, kriegte mit der nächsten Infusion statt Blutplasma Batteriesäure verabreicht.

Jeder von uns war in Gefahr, jede einzelne Sekunde.

Auch ich selbst. Auf der Fahrt hierher hatte ich die Augen mehr im Rückspiegel gehabt als auf der Straße vor mir.

Er hat schon gewonnen, dachte ich. Wir sind eingeschüchtert. Im Rudel fühlen wir uns vielleicht noch sicher, aber sobald wir allein sind, kommt die Angst.

Und wer Angst hat, macht Fehler.

Automatisch bog ich zunächst zwei Straßen früher ab und fuhr langsam am Haus der Hartungs vorbei. Eines unserer Einsatzfahrzeuge parkte mit zwei Reifen auf dem Bürgersteig. Ich nickte den beiden Beamten zu, war mir aber nicht sicher, ob sie mich erkannten.

Die Presse war nirgends zu sehen. Sollte der Medienhype etwa schon vorbei sein?

Kein Stück. Das wurde mir zwei Ecken weiter klar.

Die Logos von sechs, nein, sieben unterschiedlichen Sendeanstalten. Einige von ihnen grüßten nur von ihren Kombis und Sendewagen, doch Kanal Sieben hatte einen halben Jahrmarktstand aufgebaut. Wahrscheinlich verteilten sie auch noch billige Kulis und Luftballons; jedenfalls drängelte sich die Jugend des Viertels vor den Tischen, und einer der Journalisten hatte offenbar keine Skrupel, diese Kinder zu interviewen.

Ich brachte den Wagen zum Stehen und warf die Tür so hart ins Schloss, dass es klang wie ein Pistolenschuss. Die Pressemenschen nahmen nicht mal Notiz davon.

Das taten sie erst, als einer von ihnen mich erkannte, aber da war ich schon außer Reichweite.

Ein halbes Dutzend meiner uniformierten Kollegen hielt die Stellung vor dem Grundstück der Eberts.

«Seit wann sind die wieder hier?», brummte ich und nickte zu den Aufnahmewagen, während ich den Beamten meinen Ausweis hinhielt.

«Seit heute früh.» Der Kollege hob die Schultern. «Was sollen wir machen? Die Leiche ist gefunden. Für Platzverweise gibt’s keinen Grund mehr.»

Von dem Gesicht des Mannes war nicht viel zu sehen hinter Uniformmütze, Schnauzbart und Brille. Eine Tarnung, auf die noch nicht mal unser schemenhafter Gegner gekommen war. Oder vielleicht doch? Bei wem konnte ich mir noch wirklich sicher sein?

Luftholen, Friedrichs! Bring das Gespräch in dem Haus da vorne hinter dich und fahr dann ganz locker zum Revier zurück. Mehr verlangt kein Mensch von dir.

Doch das war schon schlimm genug.

Ich schob das Gartentor auf, ging den mit unsymmetrischen Granitsteinen gepflasterten Weg entlang.

Wamm! – Wamm!

Ich blieb stehen. Ein warnendes Prickeln lief durch meinen Rücken. Kein Mensch war zu sehen.

«Was ist das für ein Geräusch?», murmelte ich unruhig.

«Oliver macht Holz.»

Ich keuchte und schlug die Hand vor den Mund.

«Liebling?»

Dennis hatte an dem Gartentisch unter der efeuumrankten Laube gesessen, an dem Kerstin und ich immer unseren Kaffee getrunken hatten. Ein schattiges Plätzchen, und man war nahezu unsichtbar, hatte aber fast den ganzen Garten im Blick – was mehr als sinnvoll war mit einem Fünfjährigen im Haus.

Seit heute Morgen war schon wieder dermaßen viel passiert, dass ich schlicht vergessen hatte, wer versprochen hatte, den Tag mit Oliver Ebert zu verbringen.

«Tut …» Ich stellte fest, dass meine Finger von meinem Mund an mein Herz gewandert waren. «Tut mir leid», murmelte ich. «Ich bin einfach …»

Dennis kam zu mir, breitete einladend einen Arm aus, und ich ließ mich an seine Brust sinken. Eine Sekunde lang gönnte ich mir dieses Gefühl, das wie ein Stück Zuhause war.

Dennis hatte seine Fehler. Die dralle Blondine war ein verdammt großer Fehler gewesen, und mit ziemlicher Sicherheit nicht der einzige in dieser Richtung.

Doch gleichzeitig war dieser Mann mein persönlicher Fels in der Brandung.

Ich weiß sehr gut, dass die meisten Leute mich für ziemlich tough halten. Man steht es nicht durch bei der Kripo, wenn man nicht zumindest nach außen so rüberkommt. Nicht wenn man eine Frau ist.

Dennis hatte gelernt, damit umzugehen. Er kannte meine andere Seite. Er war einer von einer Handvoll Menschen, denen ich sie zeigte. Vielleicht war er deshalb damals auf die Idee mit den Handschellen gekommen.

«Alles okay?», fragte er. Kritisch gehobene Augenbrauen, die unter seiner Piratenfrisur verschwanden. Er war kein durchtrainierter Schönling wie Joachim Merz, hatte sich im Gegenteil in den letzten Jahren das eine oder andere Pfund zu viel angefuttert. Doch ich spürte die Muskeln durch sein offenes Hemd, selbst wenn sie ganz gut gepolstert waren.

Da fiel mein Blick auf den Gartentisch.

«Was ist das?», fragte ich.

Dennis sah über die Schulter. Mit Sicherheit hatte er mitgekriegt, dass mein Ton sich verändert hatte.

«Ich hab mir Arbeit mitgebracht.» Er fuhr sich durch die Haare. «Wir sitzen immer noch auf diesem Objekt in Bergedorf, aber am Wochenende steht ein Termin an, bei dem …»

«Du wolltest dich um Oliver kümmern!»

«Oliver macht Holz», sagte er ruhig. Seine Augen wurden eine Winzigkeit schmaler. «Ich habe ihm angeboten, zusammen irgendwas zu unternehmen. Oder zu reden von mir aus. Aber er will nicht. Vielleicht braucht er einfach …»

«Wo ist Raoul?», fragte ich scharf.

«Im Haus.» Er hob die Schultern. «Die Nachbarin ist da.»

«Das nennst du kümmern

«Soll ich Olli die Axt aus der Hand reißen?» Jetzt wurde er etwas lauter. «Und mit dem Kind? Was soll ich deiner Meinung nach mit einem Fünfjährigen anstellen, was die Nachbarin nicht besser kann?»

Ich holte Luft. «Kannst du dir wirklich nicht vorstellen, wie sich Oliver gerade fühlt?»

«Beschissen.» Dennis nickte. «Würde ich auch. Aber er weiß, dass ich hier bin. Wenn er will …»

«Verdammt!», zischte ich und spürte, dass an meiner Schläfe eine Ader zu pochen begann. Diese Ader war ein Warnzeichen, für mich selbst. Komm runter! Das nimmt gerade eine Richtung, die nicht gut ist. «Hättest du dir nicht ein bisschen mehr Mühe geben können, auf ihn einzugehen?», knurrte ich.

Er schloss die Augen. Ich sah, dass er ebenfalls Luft holte.

«Es tut mir leid», sagte er leise – aber nicht auf eine angenehme Weise leise. «Es tut mir leid, dass ich gewagt habe, etwas von meiner Arbeit mitzubringen, wo ich dir doch versprochen habe, mich um deine Freunde zu kümmern. Es tut mir leid, dass bei meiner Arbeit keine Menschenleben auf dem Spiel stehen und ich nichts Dramatischeres mache, als Altbauten zu verkaufen. Es tut mir leid, wenn ich bis zu diesem Moment der Meinung war, wir könnten das Geld trotzdem ganz gut gebrauchen, um unser eigenes Haus abzuzahlen!»

Deine Freunde.

Natürlich hörte ich auch den Rest, doch nach Deine Freunde war es eigentlich vorbei. Er hatte zusammen mit Oliver dieses verfluchte Boot gekauft. Kerstin und Oliver waren unsere Freunde, selbst wenn ich sie schon gekannt hatte, bevor ich Dennis kennenlernte. Und, ja, verflucht, ich wusste auch, dass er recht hatte mit seinem Job und dem Geld und dem Haus, aber …

Kerstin war tot. Ole Hartung war tot. Ein unfassbarer Täter war im Begriff, mein Revier auszulöschen! Ich hatte mir gerade fast in die Hosen gemacht, als mein eigener Mann mich angesprochen hatte!

Dennis biss sich auf die Unterlippe und streckte die Hand nach mir aus. «Entschuldige», murmelte er. «Das war dumm.»

Ich sah ihn an. «Du zynisches Arschloch!», zischte ich und ließ ihn stehen.

***

Ein meckerndes Lachen.

Mir war klar, dass es nur in meinem Kopf existierte, aber dort war es deutlich genug, hallte von meiner Schädeldecke wider.

Ich konnte unmöglich sagen, ob es zu einer maskierten Dame oder zu einem alten Herrn im Rollstuhl gehörte.

Angst, dachte ich. Wer Angst hat, macht Fehler.

Ich spürte, dass Dennis mir hinterhersah. Ich wusste, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. Genauer gesagt hatte er das offen ausgesprochen: Er hatte sich entschuldigt.

Ja, er hatte Schwachsinn geredet. Und das wusste er ganz genau. Und ich für meinen Teil wusste ganz genau, dass ich solche Aktionen exakt auf diese Weise zu betrachten hatte: als Schwachsinn. Mehr nicht.

Oder noch kürzer, noch einfacher: Es war einfach eine Aktion von einem Mann. Keine weiteren Diskussionen. Unter normalen Umständen hätte ich die Augen verdreht und ihm zu seiner letzten Bemerkung vollumfänglich recht gegeben: Ja, Dennis, das war dumm.

Doch die Umstände waren nicht normal.

Ich hatte Angst.

Ich spürte meinen Puls in der Ader an der Schläfe. Er raste. Zumindest hatte ich das Gefühl, dass er raste. Das Entscheidende war, dass ich überhaupt einen Gedanken daran verschwendete.

Angst.

Ich fühlte mich wackelig auf den Beinen, als ich um die Hausecke bog. Natürlich war ich gekommen, um mit Raoul zu reden, und der Junge war im Haus, doch ich musste zumindest nach Oliver sehen. Und vielleicht, mit einer Riesenportion Glück, wusste Oliver ja doch etwas und mir und dem Jungen blieb das Gespräch erspart.

Doch daran glaubte ich selbst nicht.

Oliver stand vor dem Schuppen hinter dem Haus, drehte mir den Rücken zu und holte gerade mit einer barbarischen Axt aus. Mit einem Stöhnen ließ er sie niedersausen.

Wamm!

Ich hielt vorsichtig Abstand und wartete, bis er sich wieder aufgerichtet hatte.

«Oliver?»

Keine Antwort.

Doch er hatte mich gehört. Er machte nicht weiter, sondern stand mit seinen fast zwei Metern aufrecht da, den Rücken zu mir.

«Willst du nicht …», begann ich und ging zögernd auf ihn zu.

Da erst sah ich, worauf er herumgehackt hatte, wobei vor zertrümmertem, zerstückeltem Holz kaum noch etwas zu erkennen war.

Ich schlug die Hand vor den Mund.

Ich habe an der Wiege gearbeitet. Alles abgebeizt.

Die Wiege für das Kleine.

Sie würden sie nicht mehr brauchen. Oliver würde sie nicht mehr brauchen. Kerstin war tot und mit ihr das ungeborene Kind, das sie Sophie genannt hätten, wenn es ein Mädchen geworden wäre.

Plötzlich drehte er sich um, und ich stolperte unwillkürlich zurück.

Er hielt die Axt mit beiden Händen, und in seinen Augen flackerte ein Ausdruck, der nicht zu einem gesunden Menschen passte.

Verdammt, Friedrichs! Reiß dich zusammen!

«Komm, Oliver», sagte ich so ruhig wie möglich. «Mach mal eine Pause.»

Er blinzelte. «Warum?», fragte er. Es klang tatsächlich neugierig.

«Weil …» Ich biss mir auf die Lippen, doch im nächsten Moment konnte ich nicht anders. Die Tränen kamen ohne Vorwarnung.

Es gibt Frauen, die können auf Bestellung heulen.

Das ist mehr als einfach nur eine Redewendung oder ein billiges Vorurteil. Ich habe solche Krokodilstränen mehr als einmal erlebt, wenn wir die Nachricht von einem Todesfall zu überbringen hatten. Zusammenbrüche, großes Drama – und zwei Tage später stellt sich heraus, dass die Dame des Hauses selbst im Hintergrund die Fäden gezogen hat bei den durchgeschnittenen Bremsschläuchen. Und selbstverständlich gibt es Herren der Schöpfung, die nicht weniger begabt sind bei solchen spontanen Gefühlsäußerungen.

Oliver Ebert war jedenfalls keiner von ihnen.

Er starrte mich nur an. Ich konnte nicht mehr klar sehen, konnte nicht sagen, ob das ungesunde Flackern in seinen Augen erloschen war.

Erst als ihm die Axt aus der Hand fiel, er auf mich zukam und mich in die Arme schloss, um mich zu trösten …

Erst da fing auch er an zu weinen.

***

«War das ein Sieg, Albrecht?»

Der Dienstwagen parkte in einer ruhigen, von Rosskastanien gesäumten Straße am Rande von Ohlstedt. Der Hauptkommissar betrachtete sein Gesicht im Rückspiegel.

Du siehst fürchterlich aus.

But the worst is yet to come.

«Oder eine Niederlage?»

Er schüttelte den Kopf und lüftete kurz das Revers seiner Anzugjacke. Glück gehabt. Er roch nicht halb so schlimm, wie er aussah.

«Wohl von beidem etwas», murmelte er.

Doch in Wahrheit gab es weder Sieg noch Niederlage, und auch ein Unentschieden war nicht die richtige Kategorie.

Es war kein Spiel gewesen. Eher ein Justizakt. Begnadigung, Bewährung. Wie man das nennen wollte.

Die Lorentz ließ ihn gewähren, warum auch immer sie das tat. Vielleicht weil sie ein Bauernopfer in der Hinterhand behalten wollte?

Ein Bauernopfer.

Nur ganz kurz dachte er an Heiner Schultz.

War es möglich, dass Schultz …

Doch im Stillen schüttelte Albrecht den Kopf. An der Loyalität des alten Mannes hegte er keinen Zweifel. Aber diese Loyalität zeigte sich auf andere Weise: in brutalst offener Kritik in der Regel.

Mauscheleien hinter den Kulissen waren nicht die Art und Weise, in der Schultz sich für ihn einsetzen würde.

Und im Übrigen wuchsen Jörg Albrechts Zweifel minütlich, ob er überhaupt Grund zur Freude hatte.

Er hatte aufgeatmet – und doch das Wichtigste übersehen.

Es bleibt mein Fall, dachte er. Und doch nicht meiner.

Professor Doktor Hartmut Möllhaus. Ein Experte. Ein Seelenklempner. Kein praktizierender, keiner mit Sprechstundenzeiten und Ruhesofa, dem modernen Nachfolger des mittelalterlichen Beichtstuhls. Doch was änderte das?

Albrecht würde mit dem Mann zusammenarbeiten müssen.

Und das änderte alles.

Jörg Albrecht wollte niemanden, der ihn unterstützte.

Niemanden, der den Erlenast zu ihm runterzog, damit er den Sprung auf den Baumstamm schaffte.

Unberechenbare Dinge konnten geschehen, wenn sich die Liane nicht vollständig unter seiner und ausschließlich seiner Kontrolle befand.

Er brauchte das ganze Bild. Das ganze, klare, leere Bild. Zu wissen, dass er nichts wusste am Anfang. Die Leere, in der er die Umstände und Versatzstücke der Ermittlung hin und her schieben konnte, um zwischen ihnen die Verbindungslinien zu ziehen.

Er war sich nicht sicher, ob er so arbeiten konnte, angeleitet von einem psychologischen Blindenhund. Gerade in diesem Fall, in dem die Fäden von allen Seiten auf ihn zuzulaufen schienen.

Gefangen, dachte er. Gefangen im Netz der Spinne.

Jörg Albrecht hatte nie besondere Angst vor Spinnen gehabt. Doch aus dieser Perspektive hatte er sie noch nie betrachtet.

Ein schriller Klingelton riss ihn aus seinen Gedanken.

Sekunden später flogen die massigen Flügeltüren des Gebäudes auf, und die ersten Schüler stürmten ins Freie, schubsten, drängelten, sprangen umeinander wie mutwillige Jungtiere.

So jung, dachte er. So schrecklich, hilflos, verzweifelt jung.

Sie schien zu leuchten, als sie zwischen zwei Freundinnen aus der Tür kam. Ja, für ihn leuchtete sie.

Und es versetzte ihm einen Stich, wie ähnlich sie Joanna war.

Noch hatte Clara ihn nicht gesehen. Es war eine Weile her, dass er seine Tochter außer der Reihe von der Schule abgeholt hatte.

Jörg Albrecht genoss diese letzten unschuldigen Augenblicke, ehe sie ihn entdeckte.

Er hatte Isolde Lorentz’ Angebot akzeptiert. Unberechenbare Dinge konnten geschehen.

Jetzt hob Albrecht die Hand und winkte seiner Tochter zu, sah den überraschten Ausdruck auf ihrem Gesicht, dann das Grinsen, als sie die Stufen zu ihm hinunterstürmte.

«Hey, Paps!»

«Hallo, Prinzessin.»

Es konnte das letzte Mal sein.

***

Oliver hielt sich im Hintergrund, als ich mich zu Raoul auf den Teppich setzte.

An die zehn Minuten hatten wir hinter dem Haus gestanden und einfach nur geheult, bevor wir uns die Tränen so gut wie möglich aus den Augen gewischt hatten. Genau wie die alte Nachbarin, die sich nun gerade verabschiedet hatte.

Dennis musste gesehen haben, wie sie das Haus verließ, wenn er immer noch in der Laube saß. Vorausgesetzt, er war nicht zu sehr in die Pläne dieses Objekts in Bergedorf versunken.

Oliver und ich waren durch die Terrassentür reingekommen. Uns hatte er jedenfalls nicht gesehen.

Kerstins Witwer war selbstredend aus allen Wolken gefallen, als ich ihn wegen eines Rentners im Rollstuhl angesprochen hatte.

Blieb nur der Junge.

«Hallo, Raoul!»

Der Kleine sah kurz auf. «Hallo!»

Schon war er wieder bei seiner Holzeisenbahn, ließ sie auf imaginären Gleisen ein Stück nach links fahren, dann auf seinen Vater zu, bremste aber ab, bevor er Olivers Füße erreichte. Er hielt Abstand.

Oliver hatte ihm heute Morgen erzählt, dass seine Mutter nicht wiederkommen würde. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Kind das wirklich begriffen hatte.

Tschuck-Tschuck-Tschuck.

Rückwärtsgang. An die Holzlokomotive waren drei Wagen angehängt. Nicht ganz einfach auf der unebenen Teppichoberfläche. Immer wieder wollten sie sich gegeneinander verkanten.

Mit diesem konzentrierten Gesichtsausdruck war der Junge seiner Mutter so schrecklich ähnlich. Es schnürte mir die Kehle zu.

«Raoul?»

«Jaaa-haa.» Auf den Knien drehte er sich um die eigene Achse und wandte mir jetzt seinen Podex in einer mintgrünen Latzhose zu.

«Raoul, ich …» Ich besann mich auf meine Handtasche. «Ich hab dir was mitgebracht.» Das kannte er von mir. Ich hatte fast immer eine Kleinigkeit dabei, wenn ich zu Besuch kam.

«Hmm-mmm?»

Tschuck-Tschuck-Tschuck.

Die Lokomotive wendete. «Bing!» Sie kam zum Stehen.

Warum auch immer sie dabei Bing machte.

Ich stellte die Tasche vor mir ab. Die Idee für meine Besorgung war mir gekommen, während ich noch im Besprechungszimmer auf dem Revier gesessen hatte und ganz langsam aus meinen Phantasien zurück in die Wirklichkeit gedämmert war. Phantasien, in denen mir Joachim Merz mit seinem Hollywood-Gebiss die Kehle zerfetzte.

Mit dramatischer Geste holte ich mein Geschenk hervor.

«Eine Ente!» Raouls Augen leuchteten. Er riss mir das Stofftier aus der Hand und drückte es an sich.

Ich atmete auf. Volltreffer.

Kerstin hatte regelmäßig Ängste ausgestanden, wenn unsere Männer den Jungen mit aufs Boot genommen hatten, doch Oliver war nicht zu bremsen gewesen: Fünfjährige Jungs seien besessen vom Segeln! Das sei ganz einfach genetisch! Sogar eine kleine Matrosenmütze hatte er für Raoul besorgt.

Sie war beim ersten Einsatz über Bord gegangen.

Ein oder zwei Mal hatte ich zusammen mit Kerstin zugeschaut, wie die drei an Bord kletterten. Keine von uns beiden hatte den Eindruck gehabt, dass Raoul sich besonders für das Boot interessierte. Vermutlich lag das nicht mal so sehr daran, dass der Segler noch gar nicht segelte.

Die Enten waren schlicht und einfach spannender.

«Du bist soooo eine süße Ente!» Mit ausgestreckten Armen hielt er sie auf Abstand und sah ihr verliebt in die Stofftieraugen.

«Und wie heißt sie?», fragte er plötzlich.

«Ich …» Automatisch sah ich mich zu Oliver um.

Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Er betrachtete die Ente, dann den Jungen, das Einzige, was ihm von Kerstin geblieben war.

«Sie heißt Sophie», sagte er leise.

«Echt?» Staunend beäugte der Kleine seinen Schatz. «Sophie», flüsterte er.

Ich konnte nur nicken. Meine Kehle würde kein Wort zulassen.

Aber ich musste die Gelegenheit nutzen. Ich kam mir vor wie ein Monster, aber ich musste ein Verhör mit dem Jungen führen. Etwas, das einem Verhör so nahe kam wie irgend möglich. Vielleicht war das unsere größte Chance, die Person dingfest zu machen, die ihm seine Mutter weggenommen hatte.

Und es gab noch andere Beamte auf dem Revier, die Kinder hatten. Noch andere Kinder, die ihre Eltern verlieren konnten.

Ich holte Luft. Natürlich hätte ich auf dem Präsidium wegen Spezialisten, Kinderpsychologen anfragen können, doch mich kannte der Kleine, und im Moment hatte ich gute Karten. Außerdem war sein Vater dabei.

«Raoul, ich würde dich gerne mal was fragen», sagte ich vorsichtig.

Sofort sah ich, wie die Miene des Jungen sich veränderte. Ich biss mir auf die Lippen. Die dämlichste Eröffnung der Welt, dachte ich. Jedes Kind spürt, dass nach so einer Eröffnung etwas irgendwie Unangenehmes kommen muss.

Auch dieses Kind.

«Also dich und Sophie», korrigierte ich.

«Aber sie muss antworten!», forderte Raoul.

«Okay», sagte ich achselzuckend.

Ich war höchst unsicher, worauf ich mich gerade einließ.

«Sag mal», fing ich an, «weißt du noch, wie du mit deiner Mama immer in den Park gegangen bist? Auf den alten Friedhof?»

Die Augen des Jungen verengten sich, doch im letzten Moment fiel ihm ein, dass es ja Sophie war, die mir antworten sollte. Er drehte das Tier mit dem Schnabel zu mir.

«Kann ja gar nicht sein, quak-quak!», verkündete er mit übertrieben quäkiger Stimme. «Da gibt’s gar keine Enten!»

Der Junge kicherte. Es war ein nervöses Kichern.

Ich nickte verstehend. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht antworten.

Ich musste an das denken, was die Kartenlegerin Albrecht und mir gesagt hatte: Sie brauchte einen Menschen, mit dem sie reden konnte. Dem sie Dinge anvertrauen konnte, weil er die Menschen in ihrem Leben einfach nicht kennt. Und Albrecht selbst: Jemand, von dessen Existenz – aus welchen Gründen auch immer – selbst die Menschen, die ihnen am nächsten stehen, nichts ahnen.

Es war ein Geheimnis, begriff ich. Ein Geheimnis zwischen Raoul und seiner Mutter. Entweder hatte Kerstin ihn ausdrücklich darauf eingeschworen, oder der Junge spürte einfach, dass sie nicht gewollt hatte, dass er darüber sprach.

«Hmmm», machte ich. «Sag mal, Sophie: Würdest du dann wohl mal den Raoul fragen? Ich weiß ja, dass der eigentlich niemandem was davon erzählen soll.» Das war ein Schuss ins Blaue. «Aber an eine Ente hat seine Mama da doch bestimmt nicht gedacht.»

Das Misstrauen in den Augen des Jungen verstärkte sich.

Ich zwang mich zu einem falschen Lächeln.

Vergib mir, Kerstin, dachte ich. Das ist auch für dich. Gerade für dich.

Langsam drehte Raoul das Stofftier zu sich herum. Der Junge war fünf, doch ich war mir sicher, dass er ziemlich genau durchschaute, was hier gespielt wurde. Die Frage war, ob er mitspielen würde.

Vielleicht – ich wusste zwar nicht, wie das möglich sein sollte, doch vielleicht spürte er trotz allem, dass das ein wichtiger Moment war. Dass etwas auf dem Spiel stand, das er noch nicht verstehen konnte, aber das auch seiner Mutter wichtig gewesen wäre.

Er warf einen ganz kurzen Blick zu seinem Vater, dann beugte er sich über Sophies Ohr – oder den Ort, an dem auch ich die Ohren einer Ente vermutet hätte – und hielt die Hand verschwörerisch vor den Mund, als ob er ihr etwas zuflüsterte.

***

Albrecht sah dem Mädchen nach.

Um diese Uhrzeit ging er kein Risiko ein, wenn er an der Auffahrt des reetgedeckten Hofes hielt. Der Wunderdentist erwirtschaftete in seiner Praxis am Niendorfer Gehege gerade seine nächste Jahresmitgliedschaft im Golfclub, und Joanna verbrachte die Nachmittage nach wie vor in der Boutique, bevor sie Swantje aus dem Hort holte.

Eine schreckliche Sekunde lang hatte er befürchtet, Clara würde ihn fragen, ob er nicht mit reinkommen wollte, doch dieser Kelch war an ihm vorübergegangen.

Nein, er würde dieses Haus nie wieder betreten, aber vor allem … vor allem wäre es so schrecklich erwachsen gewesen, wenn sie ihn hereingebeten hätte.

Er hatte Zweifel, ob er das im Augenblick ertragen konnte.

Jörg Albrecht beobachtete, wie die Tür sich hinter seiner Tochter schloss, dann legte er den Gang ein und machte sich auf den Weg zum Revier.

Der Verkehr war gnädig heute, und das, obwohl schon der Feierabend einsetzte. Zwanzig Minuten später stand der Wagen am vorgesehenen Platz, und Albrecht betrat das Reviergebäude.

Er nahm sich die Zeit, als Erstes bei Winterfeldt reinzuschauen. Sechzehn Uhr sieben. Wie erwartet war der Computermann immer noch allein.

Für Lehmann konnte der Hauptkommissar nur hoffen, dass er wirklich etwas Neues von Jacqueline mitbrachte.

«Und?», fragte Albrecht.

«Aloha!» Eine wedelnde Handbewegung hinter dem Bildschirm. «Sekunde, Chef.»

«Bitte, Kriminalhauptmeister Winterfeldt. Lassen Sie sich nur Zeit.»

«Moment, Moment.» Rasches Tippen. «Hier.»

Der Laptop stand auf einer drehbaren Scheibe, die der Hauptmeister jetzt betätigte, sodass sein Vorgesetzter auf den Bildschirm sehen konnte. Keine dumme Erfindung. Albrecht war sie eher vom kalten Buffet vertraut gewesen, bevor Winterfeldt auf dem Revier angefangen hatte.

«Offenbar hat Oberkommissar Hartung zuerst mit unseren Kontaktleuten gesprochen», erklärte der jüngere Beamte. «Sie sehen hier die Aussageprotokolle.»

Albrecht nickte. «Das übliche Vorgehen. Hat ihn das weitergebracht?»

Hätte er mich ansprechen müssen?, dachte er, verbot sich den Gedanken aber im nächsten Moment.

Wie billig war es, dem Opfer die Mitschuld zu geben? Er hatte Ole Hartung mit dieser Ermittlung betraut. Er hätte nachfragen müssen.

«Anscheinend haben seine Ermittlungen die Gerüchte bestätigt, um derentwillen Sie ihn auf das Fleurs du Mal angesetzt hatten», berichtete Winterfeldt. «Wenn ich das richtig verstanden habe. Es ging doch um, äh, solche, äh, Videos, oder? Ein paar davon hat er hier gespeichert. Also Ausschnitte. Hartung muss wohl vorgegeben haben, er wäre an einem Kauf interessiert.»

«Videos welcher Art?», fragte Albrecht ungeduldig.

Nicht, dass ihm das nicht klar war. Aber es gefiel ihm nicht, dass der Kerl sich aufführte wie eine männliche Jungfrau.

«Also, äh, Videoaufnahmen von Gästen, wie sie … äh …»

Der Hauptkommissar kniff die Augen zusammen. Wurde der Mann rot? Ein Kriminalbeamter von sechsundzwanzig Jahren? Fehlte nur noch, dass er eine Haarsträhne nervös zwischen den Fingern zwirbelte.

Unmerklich schüttelte Albrecht den Kopf. Irgendwann würde auch dieser hoffnungsvolle junge Mann ein Mädchen finden. Möglicherweise.

«Auf jeden Fall sind ein paar interessante Namen dabei», sagte Winterfeldt rasch. Er drückte eine Taste, und die Bildschirmansicht veränderte sich, zeigte eine neue Liste, diesmal um Thumbnails ergänzt, hinter denen sich die Filme verbergen mussten. «Einige dieser Namen kennen wir ziemlich gut – andere kennt wohl jeder. Fernsehleute, ein hohes Tier von der Hafenbehörde und, halten Sie sich fest: ein ganz besonderer Freund von Ihnen, der bei der Justiz …»

«Ist irgendetwas davon strafrechtlich relevant?»

Der jüngere Mann legte die Stirn in Falten. «Na ja, die Aufnahmen an sich natürlich. Die hätten nicht gemacht werden dürfen. Aber was sie in den Filmen, äh, machen, das ist halt vor allem … peinlich?»

Das letzte Wort klang wie eine Frage.

«Dann haben wir ja keinen Grund, sie uns anzusehen», sagte Albrecht ruhig. «Oder?»

Winterfeldts Gesichtsausdruck veränderte sich. «Äh, nein. Eigentlich nicht.»

«Haben wir Hinweise auf die Maskenfrau?»

Der jüngere Beamte zögerte. «Es werden mehrere Frauen erwähnt. Die meisten hat Hartung wohl nicht persönlich getroffen: die Frauen aus dem Fleurs du Mal. Auch diese Jacqueline ist dabei. Aber es gibt auch einige, die nicht dort gearbeitet haben … Nur welche von denen da jetzt in Frage kommt …»

«Wir wissen also, dass wir nichts wissen?», stellte Albrecht fest.

Winterfeldt hob die Schultern. «Vielleicht kann ich das ja noch mit Nils abgleichen, wenn er wieder da ist. Falls er was erfahren hat.»

Albrecht nickte. «Machen Sie das.»

Er drehte sich um und verließ das Büro. In diesen Teil der Nachforschungen hatte er von Anfang an wenig Hoffnung gesetzt.

Exakt deshalb hatte er ihn aus der Hand geben können.

Hätten sie allein Ole Hartungs Tod zu klären gehabt, hätte die ursprüngliche Geschichte, die kompromittierenden Videos, der Schlüssel sein können. Doch Kerstin Ebert war in diesem Muster unmöglich unterzubringen. Von Sittlichkeitsdelikten hatte Albrecht die schwangere Beamtin seit Monaten ferngehalten.

Nein, die Erpressungsversuche waren ein vollständig anderer Fall. Und Marco Winterfeldt war der letzte Mensch, von dem er sich sagen lassen musste, wie er seine Fälle anzugehen hatte.

Das würde schon Professor Hartmut Möllhaus erledigen.

«Hauptkommissar?»

Er blickte auf. Irmtraud Wegner stand vor ihrem Arbeitsplatz am Ende des Korridors. Ihr Kleid tat den Augen weh wie immer, und doch hatte Albrecht in den letzten Monaten eine Veränderung bemerkt. Die grellen Farben waren auf eine schwer zu definierende Weise fröhlicher geworden. Er hatte keinen Zweifel: Es gab einen Mann in Wegners Leben. Er gönnte es ihr.

«Was kann ich für Sie tun, Irmtraud?», erkundigte er sich müde.

Die dicke Frau zögerte und nestelte unbehaglich an ihren Trompetenärmeln. «Wir haben eine Menge neuer Anrufe seit heute Morgen. Zeugen, aber vor allem die üblichen Leute diesmal, diejenigen, die jedes Mal anrufen. Und Ihre Schwester natürlich. Aber … Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit?», fragte sie.

Der Hauptkommissar stutzte. Die Gelegenheiten, bei denen Wegner ihn um irgendwas gebeten hatte, konnte er an einer Hand abzählen. Doch im selben Moment fiel sein Blick auf die Uhr am Ende des Korridors. Sechzehn Uhr zwanzig, immer noch normale Bürozeit.

«Würden Sie zuerst mir einen Gefallen tun?» In seiner Manteltasche fischte er nach der Visitenkarte, die Isolde Lorentz ihm überreicht hatte. «Falls Sie im Büro von Professor Möllhaus noch jemanden erreichen: Ob er mir so schnell wie möglich für einen Termin zur Verfügung stände? Einen dienstlichen Termin», schob er nach.

Wegner nahm das Kärtchen entgegen und betrachtete es. «Natürlich.»

«Danke.» Albrecht nickte. «Sie finden mich bei Faber.»

Auf Fabers Gruppe setzte er die größten Erwartungen. Alles andere stand in Frage, doch beide Tote waren Angehörige des Kommissariats gewesen. Wo immer der Schlüssel zu diesem Fall zu finden war: Er lag irgendwo in den Akten der zurückliegenden Fälle.

Albrecht war noch keine drei Schritte den Flur hinunter, als er die Stimmen hörte.

«Das ist doch sinnlos, solange wir nicht wissen, wonach wir suchen müssen!» Eindeutig. Das war Faber.

«Ja, aber sie sind nun mal alle drin in der Registratur, oder?» Matthiesen.

«Sackl Zement! Des geht fei ned!»

Wer das war, war keine Frage.

Das Team war offenbar bei der Arbeit.

«Meine Herren.» Albrecht deutete ein Nicken an.

Die drei Beamten hatten sich hinter Max Fabers Schreibtisch versammelt, kaum zu sehen hinter hohen Aktenstapeln. Erst ein paar Jahre nachdem Jörg Albrecht die Leitung des Kommissariats übernommen hatte, war die Verwaltung komplett auf EDV umgestellt worden. Alles was älter war, und damit auch viele der in Frage kommenden Fälle, schlummerte in staubigen Pappschubern – und würde dort noch eine Weile weiterschlummern. Vorgänge, die Tötungsdelikte betrafen, unterlagen keiner Verjährung.

«Und?», fragte der Hauptkommissar. «Wie weit sind Sie gekommen?»

Faber nagte an seiner Unterlippe. «Also, um ehrlich zu sein …»

Das war exakt die Sorte von Eröffnung, die Jörg Albrecht entschieden nicht schätzte. Um den heißen Brei herumreden. Seine Beamten hatten ehrlich zu sein. Immer. Punkt.

«Ich bitte darum», sagte er kühl.

Faber streckte die Arme aus. «Wir wissen schlicht nicht, wo wir anfangen sollen. Ole Hartung war seit Anfang der Achtziger in der Abteilung, und er war das erste Opfer. Kerstin Ebert ist erst später dazugekommen, Mitte ’88 muss das gewesen sein. Doch selbst dann …»

«Ihr Stichtag ist der erste März 1989», unterbrach ihn Albrecht.

«Was war da?»

«Das war der Tag, an dem ich die Leitung dieses Reviers übernommen habe.»

«Aber wenn die beiden …»

«Die ich im Übrigen noch immer innehabe.» Jörg Albrecht wusste, wie seine Stimme klingen konnte, wenn er nur wollte. Für gewöhnlich setzte er sie nicht auf diese Weise ein.

Nicht bei Kollegen.

«Und in dieser Eigenschaft gebe ich Ihnen hiermit die dienstliche Anweisung, mit Ihren Nachforschungen am 1. März 1989 zu beginnen. Sie werden sich auf Delikte gegen Leib und Leben konzentrieren. Ihr besonderes Augenmerk werden Sie auf Fälle richten, die im Blickpunkt der Öffentlichkeit standen und in die ich persönlich involviert war. Täter, die noch ihre Haftstrafe verbüßen, dürfen Sie nachrangig behandeln. Haben Sie das verstanden?»

Röte überzog Fabers kahlen Schädel. «Ja, Herr Hauptkommissar», knirschte er zwischen den Zähnen hervor.

Matthiesen und Seydlbacher nickten stumm. Ein unterdrücktes Murmeln, das sich anhörte wie «Bissgurkn!», aber so leise, dass Albrecht es ignorieren konnte.

Er holte Luft und schüttelte den Kopf. Mit ziemlicher Sicherheit wäre das der richtige Moment für eine Entschuldigung gewesen – oder zumindest für eine Relativierung.

«Gut», murmelte er. «Dann machen Sie das so.»

«Hauptkommissar?»

Er drehte sich um. «Ja, mein Gott! Was ist denn jetzt schon wieder?» Unfreundlicher als beabsichtigt.

Irmtraud Wegner stand in der Tür, in der Hand die Visitenkarte. Sie wirkte unsicher, ungewöhnlich bei ihr.

«Professor Möllhaus’ Büro war noch besetzt», berichtete sie. «Allerdings … Er fliegt morgen zu einer Konferenz nach Berkeley, Kalifornien, und wird erst in vierzehn Tagen zurück sein.»

Albrecht spürte, wie sich ein Ring um seine Brust löste.

«Er wäre aber bereit, heute Abend noch mit Ihnen zu sprechen», fuhr Wegner fort. «Falls Sie das einrichten könnten. Er hat bis in die Nacht im Institut zu tun. Ich habe ihm klargemacht, wie dringend dieser Fall …»

«Ich soll ihn anrufen?»

Die Sekretärin schüttelte den Kopf. «Er stellt grundsätzlich keine Diagnosen am Telefon. Sie müssten schon hinkommen.»

«Ich soll heute Abend noch nach Braunschweig?»

«Wenn Sie über Lüneburg abkürzen, sparen Sie eine ganze Ecke im Vergleich zur Autobahn», meldete sich Faber. «Wir nehmen die Strecke immer in den Harz.»

Albrecht biss die Zähne zusammen. Er hatte heute Nacht länger geschlafen als in den drei vorangegangenen Nächten zusammen. Trotzdem fühlte er sich wie gerädert. Und wenn er daran dachte, was ihm am Ende der Fahrt bevorstand …

Doch auf Isolde Lorentz würde es einen guten Eindruck machen, wenn er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Und eine innere Stimme sagte ihm, dass er Lorentz noch brauchen würde, bevor diese Sache vorbei war.

Und einen Abend lang konnte er einfach weghören, ganz gleich, was Möllhaus zu sagen hatte.

Der Erlenast würde wieder frei sein.

Jörg Albrecht würde die Fäden im Dickicht der Ermittlung nach seinen Vorstellungen spannen können.

Er nickte. «Bitte rufen Sie in Braunschweig an, Irmtraud! Ich fahre in fünf Minuten los.» Falls er über Nacht bleiben musste: Ein Handkoffer mit allem Notwendigen stand in seinem Büroschrank.

Doch Wegner rührte sich nicht. Natürlich, sie hatte irgendwas von ihm gewollt.

«Wenn Sie vielleicht trotzdem ein paar Minuten …», begann sie.

Albrecht schüttelte den Kopf. «Bitte nicht jetzt, Irmtraud», sagte er entschlossen. «Morgen. Wenn ich zurück bin.»

***

Stumm goss Oliver Ebert mir einen Kaffee ein.

Wir schwiegen, auch um Raoul nicht zu wecken, den wir im Nebenzimmer zu Bett gebracht hatten, zwei Stunden früher als üblich, wie mir Oliver leise anvertraut hatte. Der Junge war noch immer weit davon entfernt, zu begreifen, was die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden für ihn bedeuteten. Vielleicht war die Bereitwilligkeit, mit der er sich schlafen gelegt hatte, seine Art, mit der Anspannung umzugehen, die er bei uns spüren musste. Er hatte schrecklich zerbrechlich ausgesehen in seinem Bettchen, die Ente Sophie an sich gedrückt.

Zerbrechlich. Hatte ich heute Nachmittag nicht ein weiteres kleines Stück in ihm zerbrochen?

War es das wert gewesen?

Entgegen der landläufigen Meinung ist das eine Frage, die wir uns sehr häufig stellen bei der Kripo. Wie es in der Natur der Sache liegt, leider meistens erst hinterher.

In einer Zeit, in der Margit Stahmke und ihre Kollegen uns die Ermittlungen quasi aus der Hand nehmen, verwandelt sich ein Anfangsverdacht im Kopf der Leute schneller in einen Schuldspruch, als man die Worte Unschuldsvermutung oder Schutz der Persönlichkeitsrechte aussprechen kann. Ein Verdacht reicht heutzutage vollkommen aus, um Ehen, Karrieren oder das Bild eines Menschen in der Öffentlichkeit zu zerstören.

Entsprechend sind wir vorsichtig, überlegen uns schon im Vorfeld fünf Mal, ob eine Festnahme oder Durchsuchung tatsächlich zwingend angebracht ist.

Wenn man hinterher etwas bereut, ist das zwar ein feiner Zug, aber er kommt eben zu spät.

Beim kleinen Raoul war die Situation natürlich eine ganz andere gewesen.

Der Junge war unverdächtig. Er war unschuldig, wie ein Fünfjähriger nur sein konnte – ausgenommen ein unerklärliches Vorkommnis mit der Mikrowelle seiner Eltern, von dem mir Kerstin ein paar Wochen zuvor erzählt hatte. Doch das war eine andere Geschichte.

Und trotzdem hatte ich nicht anders gekonnt. Ich hatte ihn ins Verhör nehmen, ihn manipulieren müssen, mir zu verraten, was er – zu Recht – als Geheimnis zwischen sich und seiner toten Mutter betrachtete.

War es das wert gewesen?

Wortlos sah Oliver mich über den Tisch hinweg an. Während draußen die Dämmerung hereinbrach, ließen wir das Gespräch in schweigendem Einverständnis Revue passieren.

Raoul konnte sich an den alten Mann erinnern. Ziemlich alt sei er gewesen, was bei einem Fünfjährigen alles Mögliche bedeuten konnte. In Raouls Augen war vermutlich auch ich ziemlich alt. Ja, eine Brille hätte der Opa öfter mal aufgehabt, so eine große, dicke.

Hornbrille?, hatte ich auf meinem Schreibblock notiert. Doch Brillen konnte man auf- und wieder absetzen, und diese hatte mit ziemlicher Sicherheit zur Verkleidung des Täters gehört.

Bei meinem vorsichtigen Antippen, ob der Opa vielleicht auch eine Oma gewesen sein könnte, war der Junge allerdings ins Grübeln gekommen. Ganz sicher war er sich offenbar nicht. Der Opa hätte immer so leise gesprochen. Auch das ein Bestandteil der Tarnung? Hatte er seine Stimme verstellt? Dinge, die ein Kind nicht beurteilen konnte.

Es war eher ein inneres Gefühl, das mir sagte, dass der alte Mann ihm irgendwie unheimlich gewesen war. Er hätte immer so gestarrt, hatte Raoul – oder genauer: Sophie – erwähnt. In diesem Moment hatte ich einen Blick mit Oliver gewechselt. Ein Perverser, der hinter kleinen Kindern her war? Das ergab keinen Sinn. Nicht der Junge war ihm zum Opfer gefallen, sondern Kerstin. Doch die hatte er offenbar ganz genau so angestarrt: Er hat nie die Augen zugemacht.

Das waren unter dem Strich meine Erkenntnisse:

  • Hornbrille (?)

  • Verstellt die Stimme (?)

  • Blinzelt nicht/Augenkrankheit (?)

Jede einzelne mit einem dicken Fragezeichen. Und der dritte Punkt war zudem eine äußerst gewagte Interpretation.

War es das wert gewesen?

«Jetzt fährt er.» Oliver legte den Kopf auf die Seite.

Ich blinzelte jedenfalls.

Motorengeräusch vor dem Haus, so vertraut, dass ich es gar nicht wahrgenommen hatte. Unser Toyota. Dennis machte sich auf den Weg nach Hause.

Er hatte es nicht mal nötig gehabt, reinzuschauen, um sich von Oliver zu verabschieden.

Ich biss die Zähne zusammen. «Es tut mir so leid», murmelte ich. «Er ist einfach …»

Kerstins Mann … nein, Kerstins Witwer hob fragend die Augenbrauen und schüttelte dann den Kopf.

«Es war gut, dass Dennis hier war», sagte er. «Dass er einfach nur da gesessen hat. Das hat gutgetan.»

«Er hätte mit dir reden können», murmelte ich. «Ihr seid Freunde.»

Ein knappes Zucken in seinem Mundwinkel. «Das war schon gut so. Erst mal sind wir Männer, denke ich mal. – Und haben wir beide denn geredet, du und ich?»

Ich öffnete den Mund – doch was sollte ich sagen?

Wir hatten zusammen geheult. Dann hatte ich Raoul und seine Ente verhört. Und jetzt hatten wir zusammen hier am Tisch gesessen – schweigend.

Vielleicht war Reden gar nicht das Entscheidende, dachte ich. Vielleicht war es wirklich wichtiger, einfach nur da zu sein.

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit auf genau das Geräusch gewartet hatte, das ich nun fast nicht wahrgenommen hätte: den Toyota.

Ich hatte Dennis nicht noch mal begegnen wollen. Nicht hier, im Garten von Kerstins Haus. Nachher, zu Hause in Seevetal, das war etwas anderes, doch ich brauchte … Abstand, dachte ich. So gut das nur möglich war. Die Arbeit hier – dort das Leben.

Doch ich wusste, wie wenig Sinn das in diesem Fall hatte.

Die tote Kerstin würde ich jeden Abend mit nach Hause nehmen, solange ich lebte.

Ich verabschiedete mich von Oliver, versprach ihm, mich morgen, spätestens übermorgen bei ihm zu melden. Ich solle mir keinen Stress machen, bat er. Wenn ich ihm Nachricht gab, wann wir Kerstins Leiche für die Beerdigung freigeben würden, sei das schon mehr als genug.

Ich hatte einen Kloß im Hals, als ich das Haus verließ.

Das gleiche Abendrot wie gestern um diese Zeit. Der gleiche blutige Himmel.

Was sich verändert hatte, war die Angst. Wir hatten seit vierundzwanzig Stunden keinen Toten gefunden, doch ich spürte, wie sie in mir wucherte wie ein Krebsgeschwür. Wie sie in meinem Magen, meiner Brust, meiner Kehle Wurzeln schlug.

Es war nicht vorbei. Wir waren mittendrin, und die Schatten der Bäume waren mehr als Schatten.

Durch das Oktoberlaub hindurch sah ich die Lichter der Straße, hörte die Geräusche der Übertragungswagen. Mein Verstand wusste sehr genau, dass zwischen den Abendbüschen niemand auf mich lauerte, doch das spielte keine Rolle.

Der Feind war körperlos, nirgendwo fassbar – und damit war er überall.

Die Hand, die sich um meinen Hals geschlossen hatte, würde sich nicht eher lösen, als bis ich unsere Haustür hinter mir ins Schloss werfen und neben Dennis auf dem Sofa niedersinken konnte.

Der Gartenweg mit den unsymmetrischen Trittsteinen, fast unsichtbar im diffusen Licht. Ein Blick zur Laube, wo Dennis gesessen hatte.

Ich blinzelte, blieb stehen und ging dann auf die Sitzecke zu.

Ein heller, rechteckiger Fleck war auf dem Tisch zu erkennen. Ein Blatt Papier, eine DIN-A4-Seite.

Ich zog meinen Autoschlüssel aus der Jackentasche, den Anhänger mit der leuchtstarken Diode.

Dennis’ Handschrift:

Tut mir leid wegen vorhin. Bitte sei mir nicht böse. Männer sind manchmal einfach anders.

Leider bin ich immer noch nicht fertig mit der Bergedorf-Sache. Muss noch ins Büro und das mit Gunthermann durchgehen. Kann eine Weile dauern.

 

Liebe Dich

D.

***

Iris Gunthermann war zehn Jahre älter als Dennis. Wenn er mit der was hatte, war er selbst schuld. Ich schüttelte mich. Blödsinn, schon der Gedanke.

Aber das machte keinen großen Unterschied im Moment.

Ich starrte auf die A1 vor mir, den kürzesten Weg aus der Stadt. Ein trostloses Band aus Asphalt, auf dem die schmutzig weißen Fahrstreifenmarkierungen dahinrollten, als wäre es meinen Scheinwerfern peinlich, sie für ein paar Augenblicke ins Licht zu tauchen.

Tatsache war, dass Dennis jetzt bei ihr war, bei der Gunthermann im Büro. Dass er nicht zu Hause sein würde, wo ich ihn brauchte.

Natürlich war das egoistisch von mir. Doch hatte ich nicht das Recht dazu?

Höhnisch glommen vor mir Bremslichter auf, genau an der Stelle, an der die Autobahn in einem Tunnel unter dem Rangierbahnhof Moorfleet verschwand. Am Kreuz Süd war immer Stau, und es hatte keinen Sinn, ihn zu umfahren, es sei denn mit fünfzig Kilometer Umweg über Bergedorf und Geesthacht.

Bergedorf mit der verfluchten, frisch sanierten Hütte, die Dennis wichtiger war als unsere Ehe.

Ich war unfair, und das war mir klar.

Doch wenn man auf einen Stau auffährt und plötzlich feststellt, dass da im Hinterkopf ein paar ganz seltsame Gedanken aufsteigen wie Gasblasen in einem trügerischen Tümpel …

Wenn er plötzlich in dem Volvo da vorne sitzt und du anhalten musst, dann kannst du nicht weg.

Nein: Er muss gar nicht hier sein. Du fährst in diesen Stau und tauchst in den Tunnel ein. Er verschlingt dich wie der Rachen eines Untiers und spuckt dich nie wieder aus. Du wirst ganz einfach verschwinden.

… dann sucht man sich ganz schnell was anderes, damit der Kopf bloß was zu tun hat.

Meine Finger griffen nach dem Handy. Es war ausgeschaltet.

Ich fluchte. Das Gespräch mit Raoul. Ich hatte auf keinen Fall gestört werden wollen. Unter Garantie hatte unser Herr und Meister schon tausend Mal …

Standing on a beach with a gun in my hand

Staring at the sea, staring at the sand

«Ja?» Ich klemmte das Gerät zwischen Schulter und Ohr. Jetzt war der Bahnhof über mir. Gefangen im Beton, inmitten der Blechlawine.

«… verdammt sind Sie die ganze Zeit gewesen? … sind Sie jetzt …»

«Am Steuer», antwortete ich, und, was auch immer mir das eingab: «Und selbst?»

«… verfluchte Faber mich langgeschickt … Landstraße mit dem Verkehrsaufkommen von einer … Maut sparen!»

Ich kniff die Augen zusammen. Wo steckte der Mann?

Im nächsten Moment ruckte der Verkehr wieder an. Es ging bergauf, vor mir abendgrauer Himmel. Die Last auf meiner Brust wurde leichter.

«Was hat Ihre Befragung ergeben?» Albrecht klang bereits deutlicher.

Entspannter klang er nicht.

«Nicht viel», murmelte ich. «Möglicherweise verstellt er seine Stimme. Eine Brille trägt er offenbar tatsächlich – wohl eine Hornbrille – und vielleicht hat er einen Augenfehler.»

«Könnte erklären, warum er die Brille trägt!», knurrte es aus dem Gerät. «Also unterm Strich ein Schlag ins Wasser.»

Konnte ich widersprechen?

«Wie ist Ihr Termin mit der Lorentz gelaufen?»

«Sie schickt mich zum Psychiater.»

Ein wütendes Hupen hinter mir. Ich war auf die Bremse gegangen, ohne es zu merken.

«Was?»

«Professor Möllhaus, Universität Braunschweig. Externer Sachverstand. Ich hänge hinter einem litauischen Möbeltransporter zwischen Lüneburg und Schlagmichtot. Friedrichs, wie lange brauchen Sie nach St. Georg?»

«Was?»

Diesmal trat ich noch etwas heftiger auf die Bremse, setzte aber gleichzeitig den Blinker nach rechts. Wenige hundert Meter vor dem Kreuz Süd gab es eine letzte Ausfahrt: die IKEA-Ausfahrt, offiziell Hamburg-Moorfleet.

«Das ist mitten in der Stadt!», sprach ich ins Handy. «Ich habe fünf Nachtschichten hinter mir.»

«Gestern Nacht hatten Sie frei.»

Und heute habe ich dafür gearbeitet, dachte ich. Ich war tot. Bis zu diesem Augenblick war mir nicht klar gewesen, wie erschöpft ich tatsächlich war.

Ich wollte einfach nur nach Hause und würde gar nicht merken, dass Dennis nicht da war, weil ich auf der Stelle besinnungslos ins Bett kippen würde.

«Haben Sie Margit Stahmke heute gesehen?», erkundigte sich Albrecht unvermittelt.

«Mar…» Inzwischen befand ich mich auf der Ausfädelspur.

Margit Stahmke. Ja, ich hatte Stahmke gesehen: Heute Morgen, auf dem Revier, als ich mit Joachim Merz zusammengestoßen war. Aber vor dem Haus der Eberts: Übertragungsfahrzeuge sämtlicher großer Stationen, der Jahrmarktstand von Kanal Sieben – doch kein Kanal Neun. Keine Margit Stahmke.

«Sie hat den größten Teil des Tages im Studio verbracht, um schlecht über uns zu reden», kam es aus dem Handy. «Offenbar gab es keine neuen Nachrichten von ihrem Informanten. Bis vor einer halben Stunde. Jetzt ist sie in St. Georg unterwegs. Die genaue Adresse bekommen Sie, sobald sie anhält.»

Ich stellte fest, dass ich mich auf dem rechten Fahrstreifen eingeordnet hatte: Richtung Billwerder Ausschlag, Rothenburgsort – und St. Georg.

Doch ich begriff nicht. St. Georg? Woher wollte Albrecht das wissen, wenn er auf dem platten Land unterwegs war? Lehmann und Winterfeldt hatten sich Ole Hartungs Rechner vornehmen sollen, Faber, Matthiesen, Seydlbacher die zurückliegenden Fälle. Der Rest prüfte Hinweise aus der Bevölkerung, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ins Nichts führen würden.

«Woher wissen Sie das?», fragte ich misstrauisch.

«Wenn ich einen unserer Beamten abgestellt hätte, um die Zecke beschatten zu lassen, hätte die Lorentz jetzt meinen Dienstausweis. Doch es gibt andere, weniger offizielle Wege.»

Mir stand der Mund offen.

Deshalb war er so ruhig geblieben, als Max Faber gezwungen gewesen war, Stahmke gehen zu lassen. Kripohauptkommissar Jörg Albrecht hatte einen unserer Kontaktleute vom Kiez auf eine Journalistin angesetzt! Wenn Isolde Lorentz das erfuhr oder wenn gar die Presse davon Wind kriegte, war der Dienstausweis sein kleinstes Problem.

«Doch sie führen nur bis hier», sagte Albrecht.

Die Ampel sprang auf Grün.

«Ich muss wissen, mit wem sie sich trifft, und dann müssen Sie sehen, wie Sie verfahren. Ihre Aussage können wir vor Gericht verwerten. Solange keine Gefahr im Verzug ist, bleiben Sie im Hintergrund. Sie darf Sie auf keinen Fall sehen, es sei denn, es geht um Leben und Tod. Vor allem aber gehen Sie kein Risiko ein, hören Sie? Ihre Sicherheit steht an allererster Stelle. Ich bin mir nicht sicher, wie vielversprechend diese Spur ist …»

Der Motor seines Dienstwagens heulte auf, als er ansetzte, den Möbeltransporter zu überholen.

«Aber es ist die einzige, die wir haben.»