neun

Die Silhouette Braunschweigs schälte sich aus dem morgendlichen Nebel.

Jörg Albrecht stand am selben Fenster wie vierundzwanzig Stunden zuvor, als er noch nicht hatte ahnen können, dass der Mann, mit dem er um sieben Uhr verabredet war, bereits nicht mehr am Leben war.

Ich sollte hoffen, dass es so war, dachte der Hauptkommissar. Dass die Zeit, die er dort unten noch gelebt hat, kurz war.

Doch er hatte Möllhaus’ zu einer Fratze verzerrtes Gesicht gesehen, nicht mehr menschlich.

Nein, es war nicht schnell gegangen.

Gestern. Gestern um diese Zeit.

Die Hände auf dem Rücken verschränkt, betrachtete Albrecht die Szenerie.

Kirchtürme, ihre Spitzen noch im Dunst verborgen. Die gewaltige Baumasse des alten Schlosses, dessen Wiederaufbau er vor einigen Jahren kopfschüttelnd in der Presse verfolgt hatte. Am Ende war eine Einkaufspassage herausgekommen, ein Tempel des Kommerzes.

Am jenseitigen Okerufer eine Parkanlage. Seinem Fenster gegenüber wuchsen Bäume bis dicht an den Flusslauf. Etwas weiter links thronte die historisierende Wucht eines Theatergebäudes.

Albrecht schloss für einen Moment die Augen.

Das Theater war eine der Leidenschaften gewesen, die Joanna und er geteilt hatten. Bis zum Schluss hatten sie ein gemeinsames Abonnement für die Kammerspiele gehabt.

Es war zu deutlich. Das Bild, wie der Morgen über dem alten Fachwerkhaus erwachte, in dem Hannes Jork jetzt auf seinem Stuhl, in seinem Bett …

«Ach, verdammt!», zischte Albrecht.

Seine Stirn presste sich gegen die Fensterscheibe.

Die Oker, träge dahinströmend zwischen herbstlichem Buschwerk.

Wie in Zeitlupe. Die Leute sagten, je älter man werde, desto schneller ströme das Leben dahin. Ein reißender Strom auf die Staumauer zu, auf die schweigende, ruhige Stille auf der anderen Seite, von der niemand zu berichten wusste.

An manchen Tagen hatte Jörg Albrecht das Gefühl, er hätte diesen Punkt längst schon erreicht. Keine Regung der Wellen mehr. Zeitlupe.

Die hektischen Turbulenzen, die ihn in den letzten Tagen mit sich rissen, waren kein eigentlicher Teil dieses Lebens. Das war die andere Welt, eine Welt, die zu einem Teil von ihm geworden war und die doch für sich allein …

Zu wenig, dachte er. Etwas fehlt. Und wie gewaltig die Lücke auch ist: Ich bemerke sie nicht, solange mich niemand daran erinnert, dass da etwas sein könnte anstelle dieser Lücke.

Die Düfte der kleinen Altstadtpinte hatten sich an seinen Anzug geheftet und ihn auf das Hotelzimmer begleitet. Er würde heute ein anderes Sakko tragen, natürlich, doch er konnte sie immer noch riechen wie das Echo einer kostbaren Erinnerung.

Wie die Erinnerung an eine Erinnerung.

Willst du das wirklich noch einmal, dachte er. Die Pinten? Die Musik? Die Gespräche? Und die Frauen? Lässt sich die Zeit zurückdrehen, ohne dass es lächerlich wird, weil ihr nicht länger zueinanderpasst – du und die Zeit?

Es war ein gutes Gespräch gewesen mit der jungen Frau, und er war sich sicher, dass es auch ihr gefallen hatte, doch er bildete sich nicht ein, kam keine Sekunde auch nur auf den Gedanken, dass sie …

Doch dieser Gedanke bewies bereits, dass das eine Lüge war.

Unwillig schüttelte er den Kopf.

Die Ermittlung. Er hatte einen Fall zu klären.

Er griff nach seinem Mobiltelefon. Keine neuen Nachrichten seit gestern Abend. Heute hatte er auch nicht damit gerechnet.

«PK Königstraße, Kriminaloberkommissar Max Faber. Moin, moin.»

«Moin.»

Jörg Albrecht glaubte vor sich zu sehen, wie Fabers Haltung sich straffte.

«Eine Stunde, und Sie haben Ihre Nachtschicht hinter sich», bemerkte er aufmunternd. Aus irgendeinem Grunde war er in versöhnlicher Stimmung heute Morgen.

«Und meine Tagesschicht fängt an», murmelte Faber.

Albrecht biss sich auf die Zunge. Vor ein paar Jahren noch hätte er den kompletten Dienstplan im Kopf gehabt.

«Und?», erkundigte er sich. «Kommen Sie voran?»

«Wir haben uns in den Traumfänger-Fall eingearbeitet, ja … Zum Glück war es ruhig heute Nacht. Wenn Sie wollen …»

Albrecht sah auf die Uhr. «Gehen Sie das bitte mit Friedrichs durch», bat er. «Ich melde mich bei ihr, sobald ich meinen eigenen Termin hinter mir habe.»

«Sprechen Sie noch einmal mit Freiligrath?»

«Vorausgesetzt, er gewährt mir eine erneute Audienz», knurrte Albrecht. «Ja. Ich hatte gestern die Gelegenheit, mich noch einmal mit einer unserer Kontaktpersonen zu unterhalten. Insgesamt wie vermutet: Handys sind auf der geschlossenen Abteilung untersagt, Besuche nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen möglich. Und seine Post wird regelmäßig kontrolliert.»

«Nicht zu beneiden», murmelte Faber.

«Er wird’s überleben. Jedenfalls steht fest, dass er – wenn überhaupt – nur auf einem Weg Kontakt nach außen haben kann: über das Personal. Um die Personalakten werden sich die Braunschweiger Kollegen kümmern.»

Von Dr. Seidel persönlich bis zur letzten Küchenhilfe, dachte er.

Doch er hatte Zweifel, dass sie fündig werden würden. Kliniken und Krankenhäuser mochten mittlerweile weitgehend in privater Trägerschaft sein, doch schlechte Presse war den Betreibern so willkommen wie dem Teufel das Weihwasser. Sie würden sich regelmäßig um polizeiliche Führungszeugnisse bemühen.

«Irgendetwas Neues von der Gerichtsmedizin?», fragte er abschließend.

«Ja …» Ein Knistern im Hintergrund. «Margit Stahmke ist offenbar betäubt worden, bevor sie im Sumpf aufgehängt wurde. Wobei sie wohl noch ausreichend bei Bewusstsein war, um mitzukriegen, was passierte.»

Albrecht biss die Zähne zusammen. Ein Tod, den man niemandem wünschte, auch der Zecke nicht. Exakt der Mechanismus, auf den die Taten berechnet waren: kollektive Ängste.

«Gut», seufzte er. «Ich werde heute Morgen zunächst Hauptkommissar Rabeck hier vor Ort aufsuchen. Vielleicht gegen zehn bin ich dann in Königslutter und telefonisch nicht erreichbar – die Handyregel gilt auch für uns.»

Er hörte, wie Faber die Angaben notierte, verabschiedete sich und legte auf.

Vielleicht konnte ihm Rabeck Antworten geben, wenigstens ein oder zwei. Um zwanzig nach acht würde Maja Werden mit ihrem Golf auf dem Hotelparkplatz warten.

Rabeck und danach …

Danach Königslutter.

Danach der Traumfänger.

***

Ich wurde zu alt für solche Spielchen.

Joachim war nicht eben zartfühlend mit mir umgegangen. Allerdings war es auch genau das gewesen, was ich gebraucht hatte: heftig, fast brutal.

Vergessen. Das Morgen im Jetzt vergessen.

Aber so weit war ich noch nicht jenseits von Gut und Böse, dass ich nicht mehr wusste, welche Knochen einem am nächsten Morgen wehtaten – und welche nicht.

Mir taten alle weh, jeder einzelne. Zweihunderteinundsechzig Knochen hatte der Mensch, glaubte ich mich zu erinnern. Bei mir mussten es mehr sein. Und jeder einzelne war am Pochen und Knacken und …

Die Nummer im Park war nur der Anfang gewesen. Weitergegangen war es in seinem Jaguar, der ganz eindeutig nicht auf solche Abenteuer ausgelegt war. Wie zwei Teenager.

Wobei Teenager so eine Nacht eben locker wegsteckten.

Ich schleppte mich die Stufen zur Eingangstür des Reviers hoch, derselben Tür, in der ich achtundvierzig Stunden zuvor mit Joachim Merz zusammengestoßen war.

Stahmke hatte noch gelebt, Möllhaus hatte noch gelebt – und ich hatte nicht das Gefühl gehabt, als müsste dem uniformierten Beamten, der mir jetzt im Vorbeigehen zunickte, von meiner Stirn ein scharlachroter Buchstabe entgegenleuchten.

Ich hatte wieder meine Ermittlerinnengarderobe vom Vortag an. Frische Unterwäsche hatte ich in der Boutique gleich dazugekauft. Man dachte ja voraus als untreue Ehefrau. Ich roch sogar vorzeigbar, nachdem ich Joachims Angebot angenommen und noch rasch in seiner Zweitwohnung unter die Dusche gesprungen war.

Trotzdem war ich davon überzeugt, dass die Kollegen mir irgendwie anmerken mussten, was passiert war.

Doch Irmtraud Wegner begrüßte mich lediglich mit einem raschen Lächeln, während sie schon wieder mit ihren Telefonen jonglierte. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Offenbar war sie mir nicht böse nach der Konfrontation gestern am Wohnmobil.

Klaus Matthiesen steckte den Kopf aus einer Bürotür. «Joa», meldete er über die Schulter. «Sie ist es.»

Ein zweiter Kopf. Max Faber war schon immer einer gewesen, der sich lieber persönlich überzeugte, ob eine Information auch stimmte.

Er nickte zur Begrüßung.

Beruhigend. Er erkannte mich wieder.

«Hi», sagte ich. «Wie war die Nacht?»

«Frag besser nicht», murmelte Faber. «Wir haben die Ordner …»

«Schafft ihr es, das aufzubereiten?», fragte ich. «Für die Besprechung? Sagen wir: in zwanzig Minuten?»

Abwägend drehte er den Kopf hin und her.

Bericht!, dachte ich. Gewisse Dinge waren einfacher, wenn man Jörg Albrecht war.

Doch im nächsten Moment grinste der Glatzkopf. «Für dich schaff ich’s in zehn.»

Manchmal musste man die Kollegen einfach lieben.

***

Zehn Minuten später saßen wir im Besprechungsraum zusammen, vor jedem von uns eine dampfende Tasse Kaffee.

Wir waren nahezu vollzählig. Faber, Matthiesen, Nils Lehmann und Marco Winterfeldt. Seydlbacher war mit einem seiner Söhne beim Arzt, würde im Anschluss aber so schnell wie möglich aufs Revier kommen. Werfel und Jelinek, ganz hinten, waren Springer, die uns nur leihweise verstärkten, jetzt allerdings auch schon seit zwei Jahren.

Außerdem hatte ich Irmtraud Wegner gebeten, sich zu uns zu setzen. Einem ungeschriebenen Gesetz folgend, war die Sekretärin bei Albrechts Besprechungen nie mit dabei – ein Protokoll war nicht vorgesehen. Die relevanten Dinge wurden am Whiteboard festgehalten – und nur dort. Die Verbindungslinien innerhalb der aktuellen Ermittlung.

Ich drehte diesem Board den Rücken zu, saß mit den anderen am Tisch. Mich vor die Kollegen hinzustellen wie ein Lehrer in der Schule, das war nicht mein Ding.

Mit ein paar Worten fasste ich noch einmal zusammen, was wir in Königslutter alles nicht herausgefunden hatten. Es fiel mir nicht ganz leicht, die genauen Regeln des Spielchens zu erklären, mit dem Freiligrath unseren Herrn und Meister vermutlich in genau diesem Moment wieder traktierte, doch ich sah, wie die Kollegen verstehend nickten.

Irre Menschen machten irre Sachen, die nur für andere Irre zu begreifen waren.

Wir sollten ganz froh sein, wenn wir dem Traumfänger nicht folgen konnten.

«Okay», sagte ich. «Hat dazu irgendjemand noch Fragen?»

Schon automatisch sah ich in Nils Lehmanns Richtung.

«Ja, also …» Gedehnt. Nachdenklich. «Was ich nicht begreife, ist die Sache mit dieser Krankenschwester. Doris?»

Ich sah auf meinen Notizblock. «Dagmar.»

«Dagmar. Woher wusste er, dass diese Dagmar diesen Knacks hat – mit dem toten Frosch? Und wenn sie so was hat, warum darf sie dann auf so einer Station arbeiten, wo die Patienten alle richtig einen weg haben?»

Manchmal waren seine Fragen gar nicht so dumm – lediglich etwas simpel formuliert. Doch ich kam nicht mal dazu, den Mund aufzumachen.

Jelinek, ganz hinten am Fenster, räusperte sich. «Meine Schwägerin war mal auf so einer Station. Nur für ein paar Wochen, nach ihrem Unfall. Also Schwippschwägerin.» Ein Blick zu Faber. «Die Frau vom Volker.»

Ein Nicken. Volker war bekannt – zumindest bei Max Faber.

«Nachher meinte sie jedenfalls, die hätten da alle einen weg. Auch das Personal.» Jelinek hob die Schultern. «Ist wohl normal da, dass die nicht normal sind.»

«Vermutlich ist das schlicht kein ganz einfacher Job», sagte ich. «Alten- und Krankenpfleger gehören zu den Berufsgruppen, die am häufigsten von Burnout betroffen sind. Ich kann mir vorstellen, dass man da auch am ehesten solche Auffälligkeiten zeigt. – Wobei so eine …», ich sah auf den Block, «Nekrophobie gewöhnlichen Leuten wahrscheinlich gar nicht auffällt. Schließlich ist das eine psychiatrische Klinik, in der die Schwester arbeitet. Die Leute dort sind zwar krank, aber eben nicht körperlich. Nicht lebensgefährlich krank. Wann sollte sie mit Leichen, Särgen oder Grabsteinen zu tun haben? Für Freiligrath war das eine ganz andere Sache. Der ist Psychologe und hat sich sein ganzes Leben darauf spezialisiert, die Ängste von Menschen zu erkennen.»

«Also wird er wahrscheinlich noch mehr auf der Liste haben», stellte Faber fest.

«Mit Sicherheit.» Ich nickte. «Vom Personal, aber garantiert auch Patienten.»

«Wir sollten diesen Seidel überprüfen», meldete sich Matthiesen. «Weiß der davon? Also, ich würd drauf wetten. Das ist doch ein Unding, dass der so was durchgehen lässt, nur weil Freiligrath mal ein großes Tier in der Wissenschaft war. Wenn du willst, kann ich mich da ransetzen.»

Ich zögerte eine Sekunde – eher aus Höflichkeit. Mit allem rund um Königslutter würde sich Albrecht selbst befassen, und ich wusste, was er von dieser Sorte Eigeninitiative hielt.

Selbst wenn sie von Klaus Matthiesen kam, bei dem das eher ungewöhnlich war.

«Wie weit bist du mit Freiligraths Finanzen?», fragte ich stattdessen.

Die Anweisung unseres Chefs hatte ich gestern Abend noch durchgegeben, zusammen mit der Bitte an Faber, sich um Mitwisser, Traumfänger-Jünger und so weiter zu kümmern.

Matthiesen betrachtete seinen Kaffee. «Noch mittendrin im Moment. Was ich zur Zeit habe, ist eine Übersicht über die Sachen, die er damals gemacht hat – also während seiner Mordserie und in den Jahren davor. Der Rest, also wie die finanzielle Situation heute aussieht, kommt nachher erst noch rein. Ich hab da jemanden beim Senator für Finanzen, der …»

«Und was hat er damals gemacht?», erkundigte ich mich.

«Alles», stellte Klaus Matthiesen fest. «Das meiste waren Gutachten, aber weniger fürs Gericht. Tausend Auftraggeber. Von der Bundeswehr bis zum Weingummiproduzenten.»

«Weingummi?»

«Diese Schnuller und Colaflaschen. Teufelchen gab’s auch mal. Die Farben sind natürlich wichtig, aber die Form genauso. Bestimmte Formen erwecken instinktiv Abwehr – oder Angst, von mir aus. Andere animieren automatisch zum Kauf. Wie man die am besten wählt, das lässt sich psychologisch abklären. Da gibt es Durchschnittswerte.»

Staunend schüttelte ich den Kopf. Ich würde mir nie wieder ein Gummibärchen in den Mund schieben, ohne daran zu denken, dass das Bärchendesign womöglich mit Max Freiligrath abgestimmt worden war.

«Aber so was waren wohl meist Einzelaufträge», fügte Matthiesen hinzu. «Eine Menge Projekte hat er für staatliche Stellen gemacht, Universitäten. Das ist wohl auch üblich in diesem Beruf. Für die Bundeswehr kann man’s auch ganz gut verstehen, da ging es um die psychische Belastung im Ernstfall. Ach ja, von Neverding gab’s auch eine Reihe von Aufträgen.»

«Neverding?»

«Der Reeder. Der in Bergedorf.»

«Ich weiß, wer Neverding ist!»

Klaus Matthiesen war ein netter Kerl, aber seine Phantasielosigkeit konnte mich manchmal um den Verstand bringen. Jedes Kind in der Stadt kannte Focco Neverding, den Grandseigneur der Hafenindustrie.

«Das war zu der Zeit, als er anfing, in andere Branchen zu investieren», erklärte Matthiesen. «Also Neverding. Dieser Freizeitpark in der Heide. Und alles rund um die Stiftung natürlich, die Kinderkrippen, die Heime und so weiter. Die Einrichtung und alles – solche Sachen müssen wohl von Psychologen geprüft werden. Wobei: Ich weiß nicht, ob das Pflicht ist.» Er hob die Schultern. «Jedenfalls gab’s immer wieder Aufträge.»

«Okay.» Ich nickte. «Freiligrath hat damals also eine ganze Stange Geld verdient. Wie hat er es angelegt?»

«Immobilien.» Klaus Matthiesen blickte in seinen Kaffee, als hätte er einen Stapel Notizen in der Tasse versenkt. «Zum größten Teil. Das meiste davon konnte ich schon abklären, über das Grundbuchamt. In Hamburg hat er jedenfalls nichts mehr. Ist nach und nach verkauft worden, in der ersten Zeit nachdem er hinter Gitter kam.»

«Also hat er heute keine Mieteinnahmen mehr», murmelte ich. «Zumindest hier in der Stadt.»

«Danach sieht es aus. Aber ich bleibe dran.»

«In Ordnung», nickte ich. «Sobald du die aktuelle Übersicht hast, gibst du mir Bescheid.»

Ich zögerte. Konnte so was wie kriminalistische Intuition ansteckend sein? In letzter Zeit stellte ich fest, dass ich hin und wieder zu denken begann wie Jörg Albrecht. Oder, nein, nicht denken. Es war eher wie ein … ein Aufflackern. Ein plötzlicher Blitz: Das ist jetzt wichtig!

«Schau dir die Zahlen ganz genau an», bat ich. «Nennt es ein Gefühl, aber irgendwas sagt mir, das da was im Busch sein könnte.»

Matthiesen sah mich an, in den Augen ein großes Fragezeichen.

Phantasielosigkeit hat einen Namen, dachte ich.

«In Ordnung. Danke. – Max?», sagte ich rasch, als Matthiesen noch einmal den Mund öffnete. Über Dr. Seidel würde ich zuerst mit Jörg Albrecht sprechen.

«Gut.» Max Faber hatte sich einen Stapel Blätter mitgebracht. «Alois und ich haben ja erst mal alle Namen abtelefoniert, die in der Akte zu finden waren. Also alle, die noch leben. – Nein, die, die schon tot sind, sind ganz normal gestorben», fügte er hastig hinzu. «Ausgenommen diejenigen, von denen wir schon wissen. Dann haben wir uns die unterschiedlichen Theorien vorgenommen, die es damals gab. Überlegungen, wer Freiligrath vielleicht unterstützt haben könnte oder das womöglich heute noch tut.» Er sah in die Runde.

Ich nickte ihm zu. Bitte weitermachen.

«Gut», murmelte er. «Familienangehörige hat er in Deutschland nicht mehr. War nie verheiratet, keine Kinder. Es gab eine Schwester, aber die ist lange tot. Ein Neffe wohnt heute mit Familie in Chile. Wir prüfen das noch, aber für mich sieht er unverdächtig aus. Hat das Land verlassen, bevor die ganze Geschichte damals losging. Okay?»

«Okay», sagte ich.

«Dann diese Traumfänger-Jünger.» Das zweite Blatt. «Das muss ein großes Ding gewesen sein damals. Ein, zwei Jahre lang war das wirklich wild. Eine Band aus der Heavy-Metal-Szene hat sogar eine CD rausgebracht. Konzeptalbum – jeder Song ein Opfer. Manche Leute machen aus allem Geld.»

Ein Hüsteln.

Alle Blicke gingen zu Marco Winterfeldt – oder dem, was von seinem Schopf hinter dem Laptop zu sehen war.

«So übel ist die gar nicht», murmelte er. «Also rein musikalisch.»

Wahrscheinlich machte ich ein ganz ähnliches Gesicht wie alle übrigen am Tisch. «Bitte weiter», murmelte ich.

Faber seufzte. «Der oder die Mitwisser.» Das letzte seiner Blätter. «Er selbst hat immer behauptet, er habe allein gehandelt. Schien fast beleidigt zu sein, wenn jemand es wagte, etwas anderes zu vermuten. Das sei einzig und allein seine wissenschaftliche Leistung. Im Prozess ist das jedenfalls lange diskutiert worden. Natürlich waren seine Mitarbeiter im Verdacht – er hat eine Sekretärin beschäftigt und ein paar Aushilfskräfte –, aber da hat sich nichts erhärtet. Trotzdem blieb eine Art Restverdacht, der nie ausgeräumt werden konnte. Es gab wohl sogar ein paar Phantombilder … Leute vom Hagenbeck-Personal und von der Hafenaufsicht glaubten jemanden gesehen zu haben, der eindeutig nicht Freiligrath war. Aber die Bilder sehen aus wie die meisten von unseren Phantombildern. Haben nicht mal eins mit dem anderen viel Ähnlichkeit.»

«Aber wir haben sie noch?», hakte ich ein.

Ein Nicken. «Liegen in der Akte. Wir können sie an die Presse geben. Wenn wir denen erzählen, es hat mit unserem Fall zu tun, nehmen die alles im Moment.»

Ich zögerte. Wenn wir die Bilder weitergaben, würden wir erklären müssen, dass sie über zwanzig Jahre alt waren und die dargestellte Person sich entsprechend verändert haben musste. Und vermutlich waren diese Zeichnungen bereits damals in Umlauf gewesen. Damit würde unsere Traumfänger-Theorie öffentlich werden. Es war ohnehin schon ein mittelgroßes Wunder, dass das nicht längst der Fall war – auch ohne Margit Stahmke.

«Ich spreche mit Albrecht», sagte ich. «Und ich selbst will sie mir auf jeden Fall mal ansehen. Gut. Dann machst du so weiter. – Marco?»

Sichtlich widerstrebend wurde der Laptop zugeklappt.

«Stahmkes Reportagen von damals haben wir jetzt. Digitalisiert. Ich schick sie dir per Mail, okay?»

Ich nickte.

«Kanal Neun mauert noch», murmelte er.

«Wenn sie heute Mittag noch mauern, ruf ich die Lorentz an», versprach ich.

«Okay. – Nils?»

Ein Blinzeln. «Ich dachte mir, ich geh vielleicht noch mal ins Fleurs du Mal – mit den Phantombildern jetzt.»

«Ich dachte mir, du unterstützt vielleicht Max Faber bei der Durchsicht der Traumfänger-Akte.»

«Stimmt.» Blinzeln. «Das könnte ich auch machen.»

Ich sah zu Werfel und Jelinek. «Setzt ihr beide euch da bitte auch mit ran. Wir brauchen eine komplette Übersicht seiner Kontakte von damals. Wenn sie nach der Inhaftierung weiter aktiv waren, umso wichtiger.»

Ein letzter Blick in die Runde. Keine weiteren Wortmeldungen. Ich dankte allen, setzte eine neue Besprechung für den frühen Nachmittag an – und atmete auf, als sie einer nach dem anderen den Raum verließen.

«Hat doch gut geklappt.» Irmtraud Wegner zwinkerte mir zu, bevor sie sich durch die Tür schob.

Ja, dachte ich. Das hatte es.

Ich schnappte mir meine Notizen, ging hinüber in mein Büro und fuhr den Rechner hoch. Ich sah auf die Uhr. Zehn vor zehn. Unser Chef hatte vor meinem Eintreffen bei Faber angerufen und sich auf den neuesten Stand bringen lassen. Ich hatte nichts anderes erwartet. Ganz gleich, wem er vor Ort die Leitung anvertraute: Ich wusste, wie nervös er werden konnte, wenn er keine Möglichkeit hatte, uns in Echtzeit auf die Finger zu sehen.

Bei mir würde er sich melden, sobald er sein wissenschaftliches Gespräch hinter sich hatte.

Das Mailprogramm. Ich sah, dass neue Nachrichten eingetroffen waren, doch der Rechner lud und lud … Natürlich, Winterfeldts Videodatei von Stahmkes alten Berichten.

Endlich, die Mails wurden angezeigt.

Kein Winterfeldt.

Drei, vier Schreiben, die sich mit anderen Fällen beschäftigten.

Und ein …

Ich starrte auf die Betreffzeile.

Ich bin der Herr deiner Angst.

Eine Google-Adresse. Das konnte jeder sein.

Ein sehr, sehr unangenehmes Gefühl in meinem Magen.

Ich klickte die Nachricht an. Unsere Virensoftware war das Beste, was auf dem Markt war.

Kein Mailtext, lediglich ein Anhang.

Eine Videodatei.

Doch von Marco Winterfeldt, dem Spaßvogel?

Doppelter Klick. Das Videoprogramm öffnete sich.

Schwärze.

Verschwommene Schatten, im ersten Moment kaum zu erkennen, was vor sich ging. Ein Kampf. Nein.

Nein!

Die Kamera zoomte näher heran.

Aus nächster Nähe blickte ich in mein eigenes, zu einer Grimasse verzerrtes Gesicht.

Ich keuchte – doch das Keuchen kam aus dem Rechner. Die Laute meiner Lust mischten sich mit Joachims heiserem Stöhnen, während er mich gegen einen Baum presste und von hinten nahm.

***

«Ich hab ihn Kaffee holen geschickt», wisperte Hauptkommissar Rabeck. In seinen Augen glomm es unheilvoll. «Er kennt meine Lieblingssorte, aber nur ich weiß, dass sie in der ganzen Stadt nicht zu kriegen ist.»

Jörg Albrecht nickte verstehend.

Offenbar würden sie bei dieser Besprechung auf die Anwesenheit von Kriminalkommissar Cornelius verzichten müssen.

Rabeck hatte sich in Ruhe angehört, welche Schritte sein Hamburger Kollege in Königslutter unternommen hatte. Erleichtert hatte Albrecht festgestellt, dass der Niedersachse kein Problem damit hatte, dass er wildernd in dessen Revier eingedrungen war. Genauso wenig schien Rabeck sich an Maja Werdens Gegenwart zu stören, während sie Aspekte der laufenden Ermittlung besprachen.

Die Dinge, so wie sie sind, dachte Albrecht. Er nimmt sie einfach hin.

Wie weit mochte der ältere Ermittler noch von der Pensionierung entfernt sein? Zwei Jahre, drei?

Werde ich auch so denken, wenn es bei mir so weit ist?

«Und wie sind Sie selbst mit den Ermittlungen vorangekommen?», erkundigte er sich.

Rabeck seufzte, drehte einen Halbkreis auf seinem Bürostuhl und griff nach einem Aktenordner, den er zwischen ihnen auf dem Tisch ablegte und aufschlug.

Albrecht und die Psychologin beugten sich ein Stück vor. Eine Handvoll DIN-A4-Seiten. Auf der obersten war eine Aufnahme des Fundorts auf dem Magnifriedhof angeheftet, dazu ein knappes Protokoll der Entdeckungen, die in Jörg Albrechts Gegenwart gemacht worden waren.

Rabeck blätterte um.

«Ist eine ruhige Gegend da», bemerkte er. «Eine Gegend, von der Sie sich wünschen würden, dass Ihre Kinder dort aufwachsen.» Ein Nicken Richtung Maja Werden. Nicht zu deuten, ob er die Doktorandin selbst als noch nicht vollständig ausgewachsen betrachtete oder auf deren potenziellen Nachwuchs anspielte. «Einer kennt den anderen. Man weiß Bescheid, was beim Nachbarn mittags auf den Tisch kommt. Da funktionieren die alten Strukturen noch.»

Albrecht nickte. Im Kern seines Wesens betrachtete er sich durchaus als konservativen Menschen – doch das waren exakt jene Strukturen, die ihn in Ohlstedt immer abgestoßen hatten.

«Und diese … gegenseitige Kontrolle hat auch diesmal funktioniert?», erkundigte er sich.

Rabeck drehte den Ordner zu ihnen um. Ein Protokoll, handschriftlich und nicht zu entziffern.

«Sie waren zu viert», erklärte der niedersächsische Beamte. «Vermutlich männlich, denke ich mal. Jedenfalls trugen sie schwarze Anzüge, wie das üblich ist – und den Sarg natürlich. Sie sind von mehreren Passanten gesehen worden, doch war es dunkel, deshalb haben wir keine nähere Beschreibung. Offenbar hat niemand einen Anlass gesehen, sie aufzuhalten.»

Albrecht hob die Augenbrauen. «Mitten in der Nacht?»

«St. Magni ist nicht irgendein Friedhof», betonte Rabeck. «Sie haben ja selbst gesehen, was für Kaliber da beigesetzt sind. Wahrscheinlich sind die Leute davon ausgegangen, dass der Verstorbene Sonderwünsche hatte. Die Friedhofsordnung schreibt keine bestimmte Uhrzeit für eine Bestattung vor, solange der Termin entsprechend mit ihr abgestimmt wurde.»

«Ich gehe davon aus, dass das nicht geschehen ist?»

«Kein Stück.» Rabeck schüttelte den Kopf. «Die Schließvorrichtung an der Pforte ist mechanisch durchtrennt worden. Ist ein ziemlicher Klopper. Da wusste jemand, was er vorhatte.»

Albrecht nickte. «Die Untersuchung des Leichnams?»

Rabeck blätterte.

«Edith Passon hat uns einen vorläufigen Bericht geschickt. Sie hat geringe Rückstände eines Benzodiazepins im Blut gefunden. Ihrer Ansicht nach dürfte es sich von vornherein um eine minder starke Dosis gehandelt haben.» Ein Schweißtropfen lief über die gerötete Stirn. «Gerade lange genug wirksam, dass das Opfer sich während des Transports ruhig verhielt.»

Der letzte Gedanke war so deutlich, als hätte Albrechts Kollege ihn laut ausgesprochen:

… aber rechtzeitig wieder aufwachte, um jedes Detail seines Todes bei vollem Bewusstsein mitzuerleben.

Genau wie bei Stahmke, dachte Jörg Albrecht.

«Das ist Ihr Fall», sagte Rabeck. «Und ich will Ihnen nicht von Braunschweig aus in den Kaffee spucken. Wenn Sie glauben, Sie schaffen das allein: Meinen Segen haben Sie, in Königslutter oder sonst wo. Halten Sie mich einfach auf dem Laufenden, und wenn Sie Hilfe brauchen, geben Sie mir Bescheid. So oder so.» Seine Augen gingen zwischen dem Hauptkommissar und der Psychologin hin und her. «Finden Sie die Kerle, bevor die ihr nächstes Opfer finden!»

***

«Hannah?»

Ich fuhr herum. Ein unbeschreibliches Gefühl in meinem lädierten Nacken.

Nils Lehmann stand in der Tür.

«Ist alles okay?», fragte er besorgt. «Ich dachte, ich hätte …»

Er hatte auch. Doch nach der ersten Schocksekunde hatte ich die Lautsprecher des Rechners abgestellt. Mein Gesicht sah mir jedoch immer noch überlebensgroß entgegen und vollführte – stumm jetzt – die unglaublichsten Grimassen.

So siehst du beim Vögeln aus?

Der Monitor stand so, dass Lehmann nichts davon sehen konnte.

Ich hüstelte. «Falscher Hals.»

«Ich hol dir einen Kaffee!»

«Nein.» Hastig schüttelte ich den Kopf und schloss unauffällig das Videofenster. «Geht schon wieder. – War was Besonderes?»

«Nein … Äh, ja. Doch. Klaus Matthiesen hat jetzt die Übersicht gekriegt wegen der aktuellen Finanzen. Ist es okay, wenn ich ihn da unterstütze, anstatt bei Faber … Die kommen zu dritt ganz gut zurecht.»

«Ja … klar.» Ich nickte. «Mach das.»

«Okidok.»

Und weg war er.

Ich starrte auf den leeren Türrahmen, unfähig, mich auch nur einen Zentimeter zu rühren. Wenn in diesem Moment jemand reingekommen wäre, hätte das gleich die nächste besorgte Nachfrage gegeben.

Ach was, mir geht’s bestens. War nur nicht drauf gefasst, dass mir jemand meinen eigenen Porno schickt.

Ich schloss die Augen. Auf drei …

Eins … zwei … Ich ballte die Hände zu Fäusten.

Ruckartig griffen meine Finger nach der Maus.

Doppelklick.

Der Anfang. Schau auf den Anfang!

Dunkelheit, die undeutlichen Umrisse der Bäume, ein etwas hellerer Schimmer von rechts. Das mussten die Lichter rund um das Theater sein.

Wie weit war die Kamera von uns entfernt gewesen?

Ganz kurz ein härterer Umriss, links im Bild. Zu gleichmäßig für einen Baum. Eher … Die Litfaßsäule. Ich erinnerte mich, dass ich mich abgestützt hatte, als ich um ein Haar einen meiner neuen Schuhe verloren hatte.

Zwischen den ersten Bäumen, dachte ich. Direkt an der Straße. Zehn, fünfzehn Meter von uns weg.

Noch mal von Anfang an. Die Kamera bewegte sich, ruckelte leicht.

Pause.

Irgendjemand hat da gestanden und uns gefilmt.

Was sonst, Einstein?

Und er hatte gewusst, wen er im Bild hatte. Wie sonst hätte er mir die Datei zuschicken können?

Wer immer diese Aufnahmen gemacht hatte …

… er hatte mich in der Hand.

Eine leitende Kriminalkommissarin. Und ein Beteiligter in einem Fall, von dem die ganze Stadt sprach. Ein Beteiligter, der Joachim Merz hieß.

Der Stoff, aus dem die Träume von Journalisten waren.

Und die Albträume von Polizisten.

Die Pressemeute würde sich sämtliche Finger lecken.

Wie sollte ich …

«Hannah!»

Reflexartig schloss ich das Programm.

Nils Lehmann. Ich sah das Flackern in seinen Augen.

Der Durchbruch.

Ich spürte es. Es war wie ein Blitz, kurz, aber heftig. Dasselbe Gefühl wie vorhin, als ich Matthiesen Anweisungen gegeben hatte, sich die Aufstellungen ganz genau anzusehen.

Und für Sekunden drängte es alles andere beiseite.

«Was habt ihr?», flüsterte ich.

«Die Abrechnungen! Freiligrath hat praktisch keine regelmäßigen Einkünfte, mit einer einzigen Ausnahme: Er hat einen Beratervertrag – aus dem Knast raus! Einen Beratervertrag mit …» Ein keuchender Atemzug. «… mit dem alten Neverding!»

Ich kniff die Augen zusammen. Das war …

Das war viel mehr als ich von den Auswertungen der Finanzen hatte erwarten können!

Das war ein Ergebnis, auf das ich aus Fabers Nachforschungen gehofft hätte! Eine uralte Verbindung, bis heute aktiv – bis in den abgeschotteten Trakt der Klinik hinein! Eine Verbindung noch dazu, bei der eine Menge Geld im Spiel war.

Grund genug für eine groß angelegte Polizeiaktion? Kaum. Und trotzdem.

Ich betrachtete meinen Desktop, leer bis auf das Sternsymbol der Hamburger Polizei.

Und meinen nun zum fingernagelgroßen Icon geschrumpften, Videodatei gewordenen Albtraum.

Du hast nicht den Luxus, jetzt darüber nachzudenken!

«Ich habe den Eindruck, wir sollten uns da mal ganz schnell mit jemandem unterhalten», murmelte ich.

***

«Ich freue mich, Herr Albrecht.» Der Traumfänger balancierte zwei Tassen Kaffee samt Untertassen in den Händen und hielt dem Hauptkommissar eine von ihnen entgegen, bevor er sich ihm gegenüber seitlich auf der Couch niederließ. «Ich freue mich, dass Sie sich doch noch entschlossen haben, meine Einladung anzunehmen. Sie können sich nicht vorstellen, wie selten ich in letzter Zeit Gelegenheit zu einem richtig guten Gespräch habe.»

Überraschend, dachte Jörg Albrecht.

Sosehr er in dieser Hinsicht in einem Boot saß mit seinem Gegenüber: Zumindest hatte er keinen aktiven Anteil daran, dass seine Gesprächspartner sich über den Jordan verabschiedeten.

Der Hauptkommissar nippte am Kaffee, der überraschend gut war.

«Und?», erkundigte sich Freiligrath. «Wie war Ihr Abend noch?»

Albrecht grunzte.

Warnend hob der Traumfänger eine Augenbraue.

«Danke», brummte der Hauptkommissar. «Ich kann nicht klagen. Dr. Freiligrath …»

«Sie haben sich Ihre Frage überlegt?»

Albrecht hielt dem Blick des Mannes stand. Ein Blick, der ungewöhnlich war.

Freiligrath sah ihm definitiv direkt in die Augen. Nicht auf die Stirn, nicht auf die Nase. In die Augen. Und er reagierte nicht, wenn Jörg Albrecht diesen Blick zurückgab.

Der Hauptkommissar nickte.

Ja, er hatte überlegt. Die halbe Nacht hatte er gegrübelt, den gesamten Morgen. Sogar während des Gesprächs bei Rabeck. Noch auf der Fahrt hierher, schweigend neben Maja Werden im Wagen, hatte er gegrübelt.

Die Gegenstände im Raum der Ermittlung. Die Verbindungslinien, die sich zwischen diesen Gegenständen spannen ließen.

Vorausgesetzt, Freiligrath wusste tatsächlich etwas – und davon musste Albrecht nach wie vor ausgehen. Falls das nicht zutraf, war sein gesamter Ansatz falsch …

Vorausgesetzt, Freiligrath wusste tatsächlich etwas, war es eine Frage der richtigen Strategie, ihm diese Information zu entlocken.

Diese Strategie konnte nur darin bestehen, den Mann zum Reden zu bringen. Freiligrath wünschte ein wissenschaftliches Gespräch?

Dem Manne kann geholfen werden, dachte Jörg Albrecht.

Wenn es ihn nur zum Reden bringt.

Ein Gespräch mit einem Gutachter, einem Sachverständigen. Maja Werden hatte dem Hauptkommissar diese Brücke gebaut, als Dr. Seidel drauf und dran gewesen war, sich gegen Albrechts Ansinnen zu sperren.

Es hatte eine Weile gedauert, bis ihm klar geworden war, wie nahe sie der Wahrheit gekommen war.

Ein Gespräch mit einem Sachverständigen.

Einem Sachverständigen der Angst.

Der Hauptkommissar würde höllisch aufpassen müssen, auf jeden Halbsatz, jeden Zwischenton. Er würde gezwungen sein, sich vorzutasten, vom allgemeinen zum konkreten Fall, und dabei seinerseits jeden Augenblick auf Fangfragen des Psychologen gefasst sein müssen.

Albrecht nickte, wie zu sich selbst. «Was mich interessieren würde …» Er setzte die Untertasse auf seinem Oberschenkel ab. «Sie haben sich mit dem Phänomen der Angst beschäftigt wie kaum ein zweiter Mensch. Was ist das: Angst? Sie haben uns gestern ein … sagen wir, ein Beispiel gegeben: Todesangst.»

Freiligrath hob die Hand.

Für einen Atemzug musste Albrecht an Heiner Schultz denken. Wie eine Travestie auf die Einhalt gebietende Geste des alten Mannes.

«Unser Beispiel war in mancher Hinsicht ungeschickt gewählt», gestand der Psychologe. «Nehmen Sie etwa diese Tasse Kaffee.» Ein Nicken zu Jörg Albrechts Oberschenkel. Eine Sekunde Schweigen, bis der Hauptkommissar der Blickrichtung folgte. «Möglicherweise – aber eher unwahrscheinlich – haben Sie einen leicht metallischen Beigeschmack bemerkt. Er lässt sich daraus erklären, dass Arsen zu den Halbmetallen zählt. Unter Umständen verspüren Sie auch bereits ein leichtes Missgefühl im Magen und … ungefähr jetzt stellen Sie fest, dass Ihre Hände kalt werden – eine erste Folge des beginnenden Kreislaufabfalls. Ähnlich der leichte Schwindel, der kalte Schweiß, den Sie …»

Eine ruckartige Bewegung der Kaffeetasse. Die Brühe schwappte über Albrechts Anzughose. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Sein Magen, seine Hände …

Er starrte den Psychologen an.

«Das ist ein Trick!», flüsterte er. «Sie lügen!»

Max Freiligrath betrachtete ihn aufmerksam, legte den Kopf nachdenklich auf die Seite und musterte Albrechts Gesicht, seine Hände.

«Sie sagen es», bestätigte der Traumfänger. «Und doch haben Sie soeben sämtliche von mir beschriebenen Symptome verspürt, welche im Fall einer Arsenvergiftung zwar ähnlich, aber schwerlich so rasch eintreten würden. Weil es sich in Ihrem Fall nämlich um eine Symptomatik manifester Angst handelt.»

Ein Sachverständiger?

Ein Irrer!

Schlimmer: beides gleichzeitig!

Albrecht biss die Zähne aufeinander. Er hatte es gewusst. Mit exakt einer solchen Teufelei hatte er gerechnet.

Doch wenn er tatsächlich damit gerechnet hatte … Sein Herz schlug Purzelbäume. Die Tasse klapperte auf der Untertasse. Albrecht musste mit der zweiten Hand zufassen.

«Tremor», erklärte Freiligrath. «Unkontrolliertes, hochfrequentes Muskelzittern ist ein weiteres Symptom.»

Aufmerksam verfolgte er, wie Albrecht die Attacke niederzwang und die Tasse auf den Boden stellte.

«Sehen Sie?» Der Psychologe nahm selbst einen Schluck. «Was Sie eben erlebt haben, war jenes Gefühl, das man gemeinhin als Todesangst bezeichnet. Der Unterschied zum Mechanismus, den wir bei Schwester Dagmar verfolgen durften, besteht darin, dass es sich bei Ihnen um eine reguläre Angst, die sogenannte existentielle Angst handelt, die jedem Menschen eigen ist. – Sie wissen, dass ich für den Tod einer Reihe von Menschen verantwortlich bin, und mussten daher von der realen Möglichkeit ausgehen, dass ich auch Sie töten könnte.»

Albrecht presste die Hände flach auf seine Oberschenkel. Alles in ihm schrie danach, sie Freiligrath um den Hals zu legen, er war sich aber nicht sicher, ob er schon wieder die nötige Kraft dafür hatte.

«Bei dem, was Sie jetzt spüren, handelt es sich übrigens um ganz gewöhnliche Wut», bemerkte der Traumfänger. «Ein erkennbar anderes Phänomen. Was nun Schwester Dagmar anbetrifft: Der Zustand, in dem sie sich befand, als ihr Blick auf die Hyla arborea fiel, war Ihren eigenen Sinnesempfindungen in physiologischer – also körperlicher – Hinsicht ausgesprochen ähnlich, vermutlich sogar stärker ausgeprägt.

In pyschologischer Hinsicht dagegen trifft das nur höchst eingeschränkt zu. Die Gefahr, die vom Genuss einer mit Arsen versetzten Tasse Kaffee ausgeht, ist als real einzuschätzen, während der Anblick eines gepressten und getrockneten Laubfroschs nach aller menschlicher Erfahrung keine reale Gefährdung mit sich bringt.

Einem Patienten, der unter einer sogenannten isolierten Phobie leidet, wie die Nekrophobie sie darstellt, ist es intellektuell sehr häufig klar, dass keine reale Gefahr besteht. Nur hat das eben keinerlei Auswirkungen auf die Schwere der Symptomatik.»

Albrecht nickte mit zusammengebissenen Zähnen.

Die Hölle auf Erden, dachte er. Um einen toten Frosch.

«Wobei nicht alle diese irrationalen Ängste das Leben entscheidend einschränken», betonte Freiligrath. «Je nachdem, auf welchen Gegenstand sie sich richten, können die Erkrankten unter Umständen ein nahezu normales Leben führen. Flugangst etwa wird bei vielen Betroffenen überhaupt nicht manifest, weil es sich je nach Lebenssituation ohne weiteres vermeiden lässt, jemals in ein Flugzeug zu steigen.»

Albrecht nickte langsam. «Angst vor dem Autofahren wäre dagegen ein viel gravierenderes Problem», murmelte er.

Mit einem Mal war er hin- und hergerissen.

Einerseits spüre ich nach wie vor den fast unwiderstehlichen Impuls, dir deinen Frosch ins Maul zu stopfen.

Andererseits: Beginne ich nicht tatsächlich, einige Dinge besser zu begreifen?

Das Phänomen der Angst.

Doch half das bei der Ermittlung?

Er musste den Traumfänger zum Weiterreden ermutigen!

«Wie kommt es zu einer solchen Angst?», wandte er sich an den Psychologen. «Zu einer isolierten Phobie?»

Freiligrath hob die Augenbrauen. «Nun …» Er zuckte die Schultern. «Theorien gibt es wie Sand am Meer. Burnout, posttraumatische Belastungsstörung. Häufig reichen die Ursachen sehr weit zurück. Ein Erlebnis in früher Kindheit. Im Fall Schwester Dagmars vielleicht die bis heute unverarbeitete Konfrontation mit einem Toten. – Wann haben Sie Ihren ersten Toten gesehen, Herr Albrecht?»

«Was?»

«Würden Sie sich den toten Frosch gerne noch einmal ansehen?» Der Blick des Traumfängers war plötzlich verändert. «Würden Sie sich zutrauen, ihn anzufassen, diesen platten, verwesten, verformten toten Frosch?»

«Ich …» Albrecht schüttelte knapp den Kopf. Ein Gedanke, noch ganz hinten in seinem Hirn, ein Bild …

Auf einen Schlag begriff er, was vorging.

Und sofort hatte er sich unter Kontrolle.

«Ich kann nicht behaupten, dass ich mich besonders darauf freuen würde», erklärte er kühl. «Aber wenn Sie drauf bestehen, kann ich ihn auch ablecken.»

Freiligrath betrachtete ihn. Sagte kein Wort.

Wieder dieser Blick. Irgendjemand hat einen ganz ähnlichen Blick, ging Albrecht durch den Kopf, aber das war im nächsten Moment wieder weg. Stattdessen der Gedanke, der ganz hinten angeklopft hatte. Das Bild.

Freiligrath schlug die Beine übereinander. «Bitte, Herr Albrecht. Erzählen Sie mir doch davon. Erinnern Sie sich an die Umstände? Wann haben Sie Ihren ersten Toten gesehen?»

Reißendes braunes Wasser. Die Baumwurzel. Die Spinnenbande. David … Boss, ich hab dich! … Verdammt!

Albrecht neigte den Kopf hin und her. «Lange her», stellte er fest. «Vielleicht mein Großvater. Da war ich elf oder zwölf. Tut mir leid. Keine Ahnung.»

Freiligrath stand ganz langsam auf. «Sie entsinnen sich, Herr Albrecht? Wir beide haben eine Vereinbarung.»

Schon war er am Tisch. Der Knopf für den Schwesternruf.

«Halt!»

Der Mann blieb tatsächlich stehen.

«Kein Betrachter», betonte Jörg Albrecht, «kein Betrachter kann einen unvoreingenommenen Blick auf ein Bild werfen, wenn er selbst ein Teil des Dargestellten ist. Diese Geschichte wäre meine Geschichte. Wo bliebe der wissenschaftliche Anspruch?»

Der Psychologe drehte sich in aller Seelenruhe um.

«Nun, mein lieber Herr Albrecht.» Er musterte den Hauptkommissar von oben bis unten. «In einem psychologischen Experiment gibt es zwei Kategorien von Mitwirkenden. Es gibt den Wissenschaftler – und es gibt den Probanden.»

Kein Arsen diesmal, doch das Gefühl in Albrechts Magen war dasselbe.

Seine Augen verengten sich. «Ich denke nicht daran!», zischte er. «Ich denke nicht daran, mich auf eins Ihrer Spielchen einzulassen!»

Freiligrath hob die Schultern. «Kein Problem.» Er nickte zur Tür. «Ich habe meine Hilfe nicht aufgedrängt. Doch unter diesen Umständen hat es keinen Sinn, wenn wir dieses Gespräch fortsetzen.»

Der Hauptkommissar blieb sitzen, wie vor den Kopf gestoßen.

Der Mann meinte es ernst.

«Lassen Sie uns …», begann Albrecht.

«Nein.» Scharf. Wie ein trockener Zweig, der bricht. «Nicht unter diesen Umständen.» Noch einmal betrachtete Freiligrath ihn von oben bis unten. «Überlegen Sie sich ernsthaft, ob Sie meine Bedingungen akzeptieren können oder nicht. Und bereiten Sie sich darauf vor, dass ich jede Lüge durchschauen werde. Wir spielen nach meinen Regeln, oder wir spielen überhaupt nicht.»

Mechanisch stand Albrecht auf. Ein wissenschaftliches Gespräch? Ein intellektueller Schwanzvergleich!

Ein Schwanzvergleich, der sinnlos war, wenn eine der beiden Seiten mit gezinkten Karten spielte.

Überlegen? Wozu überlegen?

Es gibt Grenzen, dachte Jörg Albrecht.

Hier sind sie erreicht.

Er nickte dem Mann knapp zu, im Begriff, den Raum zu verlassen. Max Freiligrath war eine Sackgasse, er hätte es viel früher erkennen müssen.

Doch der Traumfänger hielt seinen Blick fest.

«Natürlich –» Ein Wort wie ein überraschender Hieb mit dem Florett. «Natürlich ist mir klar, dass Sie längst auf der Suche nach einem anderen Sachverständigen sind, in dem Sie mit Ihrem pseudowissenschaftlichen Instrumentarium herumstochern können …»

Albrecht starrte ihn an. Wolfram? Dachte der Mann an Horst Wolfram?

Pass auf! Merke dir, was gerade passiert! Ob du es begreifst oder nicht: Merke dir, was gerade passiert!

Freiligraths Gesichtsausdruck hatte sich verändert, kaum zu erkennen, doch Albrecht war sich hundertprozentig sicher, dass er das kurze Aufblitzen gesehen hatte.

«Möglicherweise haben Sie ihn sogar schon gefunden», murmelte der Traumfänger. «Ich fürchte nur, dass Sie bei aller Stocherei nichts Hilfreiches erfahren werden.»

***

«Focco Neverding? Und ihr seid euch hundertprozentig sicher?» Ich schüttelte den Kopf.

Er wurde nicht klarer davon.

Immer wieder kamen die Bilder meiner lustverzerrten Gesichtszüge zu mir zurück. Nein, nicht eigentlich verzerrt. Lächerlich. Schlicht und einfach lächerlich.

«Einhunderteinprozentig», kam es von der Rückbank.

Wir saßen in einem unserer Dienstwagen, Kurs raus nach Bergedorf. Nils Lehmann saß am Steuer, ich daneben, Klaus Matthiesen hinter uns. Ich hörte das Rascheln, als er in seinen Computerausdrucken blätterte.

«Anscheinend hat er sich keinerlei Mühe gegeben, das zu verschleiern. Die Bankverbindung gehört zu einer seiner privaten Stiftungen, aber er persönlich ist der einzige Verfügungsberechtigte. Wenn man Freiligraths Konto mal hat, ist es ein Kinderspiel, das zuzuordnen. Und streng genommen: Schließlich ist es Neverdings Geld. Wenn er damit einen psychologischen Gutachter bezahlen will, den er von früher her kennt … selbst wenn der gerade in der Anstalt sitzt: Verboten ist das nicht.»

«Nein», murmelte ich. «Verboten ist das nicht.» Ich sah geradeaus und kniff plötzlich die Augen zusammen. «Was meinst du damit: Wenn man das Konto mal hat?»

Ein Rascheln. «Das ist das Einzige, das etwas ungewöhnlich ist», gab Matthiesen zu. «Freiligrath selbst lässt das Geld noch einmal über mehrere Zwischenstationen laufen. Er hätte …»

Plötzlich brach er ab.

«Klaus?» Ich klappte den Schminkspiegel runter, sah aber nur sein schütteres Haupthaar. «Was ist los?»

«Das ist seltsam», murmelte er.

«Stimmt was nicht? Doch nicht Neverding?»

Lehmann hatte den Fuß bereits vom Gaspedal genommen.

«Nein.» Blättern, Knittern. «Nein, nein … Neverding ist definitiv unser Mann, aber mit Freiligraths Konten ist etwas …»

«Versuch’s mir zu erklären!»

Er blickte auf. «Es ist aber kompliziert», warnte er.

«Versuch’s trotzdem!»

Ein Seufzer, Kopfschütteln.

Vor uns die IKEA-Abfahrt. Zehn Minuten bis Bergedorf, wenn alles frei war. Ich hatte nicht den Fehler gemacht, vorher anzurufen, ob uns jemand für ein Gespräch zur Verfügung stehen würde. Was auch immer es nun mit den Konten auf sich hatte: In Fällen wie diesem war die Verdunkelungsgefahr unser größter Feind. Die zuständigen Kollegen waren bereits informiert. Ein Fingerschnippen, und sie würden Neverdings Konten einfrieren, von einer Sekunde auf die nächste.

«Es gibt Möglichkeiten, Konten sozusagen unsichtbar zu machen», erklärte Matthiesen. «Das funktioniert natürlich nicht hundertprozentig, aber wer es drauf anlegt, kann es uns sehr, sehr schwer machen, nachzuvollziehen, wie welches Geld von wo nach wo gewandert ist. Genau das ist meist der Hintergrund, wenn eine Summe über mehrere Stationen läuft. Und tatsächlich waren auch in diesem Fall einige der Stationen praktisch unsichtbar.»

«Aber du konntest trotzdem nachvollziehen, was passiert ist.»

Pause. Rascheln. Ein Blick in den Schminkspiegel. Matthiesen sah von einem Ausdruck zum nächsten.

«Das konnte ich», murmelte er. «Weil sich vor drei Tagen etwas verändert hat. Nicht allein, dass sie nicht mehr unsichtbar sind, nein. Das ist, als ob jemand mit dem ausgestreckten Zeigefinger …» Er schüttelte den Kopf. «Vor drei Tagen. An dem Tag, an dem Ole Hartung gestorben ist.»

***

Es gab ein paar Leute in der Freien und Hansestadt Hamburg, mit denen man sich besser nicht anlegen sollte.

Etliche dieser Exemplare hatten wir direkt vor der Bürotür, auf dem Kiez, doch das war im Vergleich sogar die sympathischste Sorte von Totschlägern: Typen nämlich, die sich noch selbst die Hände schmutzig machten.

Die wirklich gefährlichen Typen tragen Anzug und Krawatte, überall auf der Welt.

Mit Focco Neverding war das nun schwierig.

Der Mann hatte sich hochgearbeitet, seine Reederei praktisch aus dem Nichts aufgebaut – und er war dabei nicht unbedingt zartfühlend mit seinen Konkurrenten umgegangen.

Doch das war eben nur der eine Focco Neverding. Man hätte auch sagen können, der alte Focco Neverding, wobei er inzwischen logischerweise mehr Jahre auf dem Buckel hatte. Der Mann musste über achtzig sein, doch es gab heute nur noch wenige Geschäftsleute, die den alten hanseatischen Kaufmann so verkörperten, wie der Inhaber der Neverding Holding das tat.

Er hatte gelernt. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass der Mann in der ersten Hälfte seines Lebens einfach so viel Geld gescheffelt hatte, dass er es irgendwann selbst mit der Angst zu tun bekommen hatte. Wer wollte schon enden wie Ebenezer Scrooge aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte? Die wenigsten.

Und so war der neue Focco Neverding geboren worden.

Der Mann, der aus eigener Tasche Kinderkrippen unterhielt und für den Nachwuchs aus Familien, die sich so was niemals hätten leisten können, Ferienzeltlager organisierte. Der die Tafel in Bergedorf quasi im Alleingang am Laufen hielt – finanziell zumindest. Im Sachsenwald war für Kinder, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht bei ihren Familien bleiben konnten, ein ganzes Dorf entstanden.

Mit einem Wort: Wer sich mit Focco Neverding anlegte, musste vielleicht nicht damit rechnen, mit Zement an den Füßen im Hafenbecken zu landen – aber er durfte sich schon mal darauf einstellen, geteert und gefedert aus der Stadt gejagt zu werden.

Ich verfluchte den Traumfänger.

Ich verfluchte Jörg Albrecht.

Am allermeisten verfluchte ich mich selbst.

Ich sah das Gesicht unseres Herrn und Meisters vor mir, die Stirn voller Sorgenfalten, aus denen die Last der ganzen Welt sprach:

Das Timing, Hannah. Düster raunend. Das Timing ist das Entscheidende.

Unser Täter selbst gab uns die entscheidenden Informationen.

Er gab sie uns exakt in jenem Augenblick, in dem er sich sicher sein konnte, dass wir zu spät kommen würden.

Vor drei Tagen hatte irgendjemand dafür gesorgt, dass die Freiligrath-Neverding-Verbindung jedem ins Auge fallen musste, der einen schiefen Blick auf einen Kontoauszug des Traumfängers warf.

Ein Hüsteln vom Fahrersitz. Wir waren vor ein paar Minuten von der Autobahn abgefahren und näherten uns nun dem Stammsitz der Holding, einem alten, reetgedeckten Hof in der schnuckeligsten Ecke von Bergedorf.

«Was denkst du?», murmelte Nils Lehmann. Vielleicht lag’s ja am Licht – es war bedeckt, wie üblich in den letzten Tagen –, aber irgendwie sah unser Jüngster ziemlich blass aus um die Nase. «Willst du nicht doch besser nachfragen, ob das so okay ist?»

Ich schüttelte den Kopf. «Wenn wir sie warnen …»

«Nein. Ich meinte, bei der Präsidentin. Hat die Lorentz nicht selbst mit einem von den Stipendien studiert, die Neverding damals …»

Ich blickte starr geradeaus.

Ich hasse es, dachte ich. Nicht dass ich selbst irgendwie scharf drauf war, dem Wohltäter der halben Stadt was anzuhängen. Aber dass man Rücksicht nehmen musste, weil der Chef … oder der Chef vom Chef …

Doch ich hatte schon mein Handy gezückt. Die Nummer von Isolde Lorentz’ Vorzimmer war in der Kurzwahl gespeichert.

«Julia Weber, der Anschluss der Polizeipräsidentin der Freien und Hansestadt Hamburg. Was kann ich für Sie tun?»

Ich verdrehte die Augen. Ich kannte die Dame nicht persönlich, aber mit tödlicher Sicherheit musste sie mal für eine 0190er-Nummer gearbeitet haben.

«Kommissarin Hannah Friedrichs, PK Königstraße. Ich leite die Ermittlungen im Fall Hartung/Ebert/Stahmke …»

«Es tut mir fürchterlich leid, Frau Friedrichs, aber die Frau Polizeipräsidentin ist leider in einer wichtigen Besprechung. – Kann ich etwas für Sie tun?»

Ich holte Luft. Lehmann hatte recht. Wir konnten unmöglich in die Neverding-Zentrale marschieren, ohne das mit irgendjemandem abgesprochen zu haben. Und Jörg Albrecht kam nicht in Frage. Solange er sich nicht meldete, musste ich damit rechnen, dass er noch mit dem Traumfänger beim Kaffee saß.

«Doch, ich denke, das können Sie, Frau Weber», sagte ich freundlich. «Sie holen Isolde Lorentz jetzt auf der Stelle aus ihrer Besprechung, oder ich sorge dafür, dass Sie persönlich die Konsequenzen tragen, wenn durch Ihre Schuld ein weiterer Mensch sterben muss!»

Ein Japsen am anderen Ende. Im nächsten Moment hörte ich, wie ein Bürostuhl zurückgeschoben wurde.

Lehmann brachte den Wagen zum Stehen. Hoch über uns, an der blendend weiß gekalkten Zufahrt prangte ein stilisiertes Segelschiff, rundherum in goldenen Lettern der Schriftzug Neverding.

Nils Lehmann musterte mich. Seine Augenbrauen verschwanden unter seiner Frisur.

«Du arbeitest eine Menge mit dem Chef in letzter Zeit», stellte er fest.

Geknister, Gemurmel an meinem Ohr, im nächsten Moment war meine Dienstherrin am Apparat.

So knapp wie möglich schilderte ich ihr, was wir in der letzten halben Stunde herausgefunden hatten – und was wir in der nächsten halben Stunde vorhatten.

Schweigen. Sekundenlang.

«Frau Lorentz?», fragte ich vorsichtig.

«Sie sind schon vor Ort? Vor dem Gebäude?» Ihre Stimme klang anders als gerade eben noch.

«Zwanzig Meter vom Eingang», bestätigte ich.

Ein tiefes Seufzen. «Sie werden da nicht reingehen.»

Ich holte Luft. Meine Finger waren plötzlich eiskalt.

Zwei Möglichkeiten, schoss es mir durch den Kopf: Du sagst okay und kannst dich nie wieder im Spiegel ansehen – dafür sitzt du in ein paar Jahren auf Albrechts Platz. Oder du machst jetzt den Mund auf und kannst dich dafür von deiner Bullenkarriere verabschieden.

Ich machte den Mund auf …

Doch ich kam nicht zum Reden.

«Focco Neverding hat sich vor einigen Monaten aus dem operativen Geschäft zurückgezogen.» Ein schwerer Atemzug. «Sie werden ihn im Geschäftshaus nicht antreffen. In seiner Villa auch nicht. Aber ich weiß, wo er zu finden ist. Fahren Sie jetzt in Richtung Sachsenwald, auf den Parkplatz am Garten der Schmetterlinge in Friedrichsruh. Dort treffen wir uns in dreißig Minuten.»

Ein Knacken. Aufgelegt.

Nils Lehmann starrte mich an und bekam den Mund nicht wieder zu.

***

Düstere Wolken ballten sich über Jörg Albrechts Haupt zusammen.

Er stampfte die Treppe von der Station 62.b hinunter.

Rausgeworfen.

Erst wenn er sich besonnen habe, ob er die Bedingungen des Herrn verurteilten Mörders aus vollem Herzen akzeptieren könne, war Maximilian Freiligrath bereit, ihn noch einmal zu empfangen in seinem Luxusappartement samt Studierstube in der Sommerfrische von Königslutter.

Albrechts Lippen bewegten sich, doch kein Ton war zu hören.

… schwerste körperliche Arbeit! Keine Chance auf Begnadigung!

«Keine!», zischte er.

Am Fuß der Treppe stand ein junges Mädchen, die Hände unsicher am Bündchen eines verwaschenen Pullovers. «Entschuldigung …»

«Keine Feuerwehr!», knurrte Albrecht. «Nicht die kleinste!»

Mit einem piepsenden Laut stolperte das junge Ding zurück.

Der langgezogene Flur, der zur Zentrale der Abteilung führte. Maja Werden lehnte an der Rezeption und sprach mit einer für Albrecht nicht sichtbaren Person.

«Maja!»

Die Doktorandin fuhr herum und sah ihm verwirrt entgegen.

Albrecht biss die Zähne aufeinander. Kein Mensch hatte seinen Kasernenhofton weniger verdient.

«Nicht mein Tag», brummte er. «Entschuldigung.»

Ruhig betrachtete sie ihn von oben bis unten. «Er hat nichts gesagt?»

«Er hat viel zu viel gesagt. – Kommen Sie!» Er blieb stehen. «Ich meine, wenn Sie Zeit haben. Ich müsste, äh, nach Braunschweig zurück. Zum Bahnhof.» Mit dem Wagen war ja Friedrichs zurückgefahren. «Oder wenn es hier irgendwo eine Autovermietung gibt …»

«Ich fahre Sie.» Maja Werden nickte der Dame hinter der Rezeption zu und griff schon nach ihrem Autoschlüssel. «Was ist denn passiert?», fragte sie leise. «Er ist doch nicht …»

«Er kann froh sein, dass ich ihn nicht erwürgt habe!»

«Er ist noch nie gewalttätig geworden», sagte Maja Werden ernst.

«Stellen Sie sich vor», blaffte er. «Das würde Wolframs Tochter verflucht noch mal anders sehen!»

Ihr Blick veränderte sich, nur für eine halbe Sekunde, doch es reichte aus, um ihn die Zähne zusammenbeißen zu lassen.

«Entschuldigung», murmelte er. «Ich vergesse immer wieder, dass Sie nicht …» Er schüttelte den Kopf. Dass Sie keine von meinen Mitarbeitern sind, die ich anschnauzen darf, wie es mir passt? Wie mussten die Kollegen sich fühlen, wenn er in diesem Ton mit ihnen umsprang?

Die Tür ins Freie. Automatisch wollte der Hauptkommissar sie für die junge Frau öffnen, doch im selben Moment ertönte der Summton des elektronischen Mechanismus, den der Mann in der Pförtnerloge betätigt hatte. Ihre Handys hatten sie diesmal gleich im Wagen gelassen.

«Dieser Fall hat so viele Dimensionen», sagte Albrecht leise. «Sie sind viel zu jung, um sich an die Geschichten von damals zu erinnern, doch glauben Sie mir: Ob dieser Mann sich nun in diesem konkreten Fall nach den Buchstaben des Gesetzes schuldig gemacht hat oder nicht – er ist ein böser Mensch.»

Maja Werden öffnete die Zentralverriegelung ihres Wagens. Albrecht ließ sich auf den Beifahrersitz sinken. Seltsamerweise hatte er bei ihr keine Probleme, wenn sie am Steuer saß. Sie fuhr zügig, aber diszipliniert.

«Böse Menschen gibt es nicht», sagte sie, als sie den Rückwärtsgang einlegte. «Das Einzige, was existiert, sind Kausalitäten. Psychologie ist eine Wissenschaft ganz nah am Menschen, aber auch sie ist eine Wissenschaft. Alles hat eine Ursache. In der Psychologie ist sie oft sehr schwer zu erkennen, aber niemand ist einfach so böse. Sie werden kaum einen Täter finden, der nicht vorher einmal Opfer gewesen ist.»

«Und deshalb gibt es keine bösen Menschen mehr? Deshalb sollen wir aufhören, die Täter zu bestrafen?» Er drehte sich zu ihr, doch sie sah weiter geradeaus und bog aus der Hofeinfahrt in die Straße, die an den grau verputzten Gebäuden entlang hinunter in den Ort führte. «Wie Sie argumentieren …» Er schüttelte den Kopf. «Das wäre das Ende einer jeden persönlichen Verantwortung!»

«Das habe ich nicht gesagt.» Ihr Blick blieb weiterhin auf die Straße gerichtet. «Wer einem anderen Menschen schadet, muss die Konsequenzen tragen. Das ist die einzige Möglichkeit, einen Lernprozess in Gang zu setzen. Und ich habe absolut keinen Zweifel, dass auch Max Freiligrath in der langen Zeit gelernt hat.»

Dito, dachte Albrecht. Fragt sich nur, was er gelernt hat.

«Ich erzähle Ihnen alles, bevor ich verschwinde», seufzte er. «Versprochen. Aber später, bitte. – Wir setzen uns irgendwo rein und trinken was.» Die B1 in Richtung Braunschweig und zur Autobahn. «Nur keinen Kaffee», murmelte er.

Ein kurzer Blick aufs Handy. Er musste Friedrichs anrufen, aber …

Nein, dachte er. Später.

Mit einem drei Sekunden langen Druck auf den roten Knopf schaltete er den Apparat aus.