acht
Jörg Albrechts Widerwille gegen Überraschungen war legendär.
Er erinnerte sich an Joannas Gesichtsausdruck, jedes Mal zu seinem Geburtstag, jedes Mal zu Weihnachten. Sie selbst hatte es längst aufgegeben, die ihm zugedachten Geschenke aufwendig einzupacken.
Allerdings galt das nicht für die Kinder.
Wehe, wenn auf seinem Gesicht etwas anderes zu sehen war als eine Miene reiner, verzückter Erwartung, die exakt in dem Moment, in dem er jeden einzelnen Klebefilmstreifen vorsichtig gelöst hatte, in ekstatische Freude umzuschlagen hatte.
Ein Gefühl, von dem er kaum weiter hätte entfernt sein können als in diesem Moment.
Max Freiligrath, der Traumfänger.
Es war erst ein paar Stunden her, dass der Hauptkommissar die alten Aufnahmen gesehen hatte. Das Polizeifoto zeigte einen Herrn in Albrechts Alter – seinem heutigen Alter – mit einer ausgeprägten Nase, streng zurückgekämmten Haaren, ausdrucksstarken Augen.
Vierundzwanzig Jahre später … Eindeutig, es war derselbe Mann.
Es war geradezu grotesk, in welchem Maße es noch derselbe Mann war:
Dr. Max Freiligrath, der Psychologe gewesen war, bevor er zum Verbrecher wurde. Oder, exakter, der auch währenddessen Psychologe geblieben war.
Und der auch heute, nach einem Vierteljahrhundert der Haft und der Sicherungsverwahrung genau das war: Psychologe.
Dr. Seidel hatte betont, in welchem Maße es den Patienten freistand, ihr Leben innerhalb ihrer Zimmer nach ihren Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten.
Freiligrath, wie es schien, hatte diese Möglichkeiten voll genutzt. Hellblaue Kittel sah die offizielle Hierarchie des Klinikpersonals vermutlich nicht vor.
Die einzige noch offene Frage klärte ein simpler Blick zur Seite: eine unscheinbare Tür im Schatten der Bücherwand, die vermutlich zum Schlafzimmer innerhalb von Dr. Freiligraths Gemächern führte.
Albrecht hatte starke Zweifel, dass alle Patienten auf den Stationen 62a bis e über dermaßen weitläufige Räumlichkeiten verfügten.
Unvereinbar mit der faktischen Gehirnwäsche, auf die der tiefenpsychologische Ansatz der Abteilung selbst architektonisch abzielte.
Ausgenommen bei Maximilian Freiligrath.
Der Schreibtisch war waschechtes Louis-seize, und die Bücherwand hätte aus Sigmund Freuds persönlichem Besitz stammen können.
Der Traumfänger genoss eine Sonderbehandlung.
Sonderopfer, dachte der Hauptkommissar finster.
«Frau Friedrichs, Herr Albrecht.» Freiligrath wies auf das Sofa, diesmal unmissverständlich. «Bitte nehmen Sie doch Platz!»
Jörg Albrecht biss die Zähne zusammen und ließ sich auf der vordersten Kante des Möbels nieder, Friedrichs neben ihm.
Der Traumfänger kehrte nicht hinter seinen Schreibtisch zurück, sondern lehnte sich locker gegen die Tischkante.
So überragt er uns, dachte Albrecht. Nicht dumm.
Doch das hatte er auch nicht erwartet.
Dies war der Punkt, auf den der gesamte bisherige Fall zugesteuert war.
Die Dinge, dachte er, sind so, wie sie sind.
Doch wie verhalten sie sich in Wahrheit?
«Nun?», erkundigte sich der Traumfänger. «Womit kann ich Ihnen dienen? Ein Kaffee vielleicht?»
«Danke», sagte Albrecht. «Danke, aber nein. Wir kommen direkt vom Kaffee.» Zumindest spürte sein Magen noch immer die Nachwirkungen. «Dr. Freiligrath …» Er ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, über den Schreibtisch, auf dem sich Akten und Folianten türmten, den Bücherschrank. Alles eine Spur offensichtlicher, als nötig gewesen wäre. «Wenn man sich hier umsieht, könnte man meinen, Sie praktizieren wieder?»
«Praktizieren?» Der Psychologe lächelte. Ein verständnisvolles, beinahe nachsichtiges Lächeln. «Nein, das kann ich wirklich nicht behaupten. In der konkreten Patientenarbeit bin ich niemals in größerem Maßstab tätig gewesen, und das hat sich auch heute nicht geändert.»
Der Hauptkommissar nickte verstehend. Zum Glück, dachte er. Sekundenlang hatte er sich nur allzu deutlich vorstellen können, wie Seidel und sein Team den Mann als Kollegen konsultierten. Inoffiziell, versteht sich.
«Ich widme mich weiterhin jenem Feld, dem ich mich mein ganzes Leben lang gewidmet habe», präzisierte Freiligrath. «Der wissenschaftlichen Forschung.»
Friedrichs hatte ihren Notizblock ausgepackt. Die Kugelschreibermine kratzte über das Papier. Etwas unruhiger als gewöhnlich, wie Albrecht aus dem Augenwinkel feststellte.
Er selbst machte sich eine Gedankennotiz.
Wissenschaftliche Forschung, wissenschaftliche Literatur war ein kostspieliges Vergnügen. Der Bücherschrank war zum Bersten gefüllt. Womit bestritt der Mann sein Forscherleben aus der psychologischen Verwahrungsanstalt heraus? Besaß er Immobilien, Aktiendepots?
Matthiesen musste das prüfen. In Wirtschaftsdingen verstand er am meisten auf dem Revier.
«Dr. Freiligrath.» Albrecht strich sich über die Oberschenkel und fragte sich im selben Moment, warum er das tat. In neun von zehn Fällen signalisierte eine solche Geste dem Gegenüber, dass man im Begriff war, das Gespräch zu beenden.
Selbstredend hätte er genau das am liebsten getan.
Er konnte sich darauf verlassen, dass der Traumfänger es nicht übersah.
«Sie haben verfolgt, was sich in den vergangenen Tagen ereignet hat?», fragte der Hauptkommissar.
Freiligrath nickte. «Professor Möllhaus’ Tod hat die Mitarbeiter hier ausgesprochen erschüttert. Auch ich selbst habe seine fachliche Meinung geschätzt.»
Friedrichs’ Kugelschreiber kratzte. Albrecht fragte sich, ob sie auch notierte, was der Mann nicht gesagt hatte: dass er das Ableben des Professors bedauerte.
«Nicht allein der Professor», stellte Jörg Albrecht richtig. «Auch in Hamburg haben wir in den letzten Tagen einige … ungewöhnliche Todesfälle erlebt. Möglicherweise erinnern Sie sich an die Journalistin Margit Stahmke …»
Freiligrath neigte den Kopf, wobei nicht recht deutlich wurde, ob er von den Vorfällen gehört hatte oder lediglich zum Ausdruck bringen wollte, dass er sich an die Zecke entsinnen konnte.
Die Hand des grauhaarigen Mannes fuhr beiläufig in die Tasche seines Kittels, und Albrecht spürte, wie er selbst sich unwillkürlich anspannte. Wieder etwas, bei dem er sich sicher war, dass es Freiligrath nicht entging.
Aus dem Päckchen, das er zum Vorschein gebracht hatte, zündete sich der Traumfänger eine Zigarette an.
«Ohne dass ich Sie mit Interna unserer aktuellen Ermittlungen konfrontieren möchte …», begann Jörg Albrecht.
Der Mundwinkel des Mannes zuckte: Nein, wirklich? Wie rücksichtsvoll!
«Es ist unübersehbar, dass es Parallelen zu Ihren damaligen … Experimenten gibt», formulierte der Hauptkommissar. «Sowohl im Vorgehen des Täters als auch in der Ausführung der Delikte.»
Freiligrath nickte. Keine Neugier. Höfliches Interesse.
«Ich verstehe. – Und ich darf wohl davon ausgehen, dass Sie bereits festgestellt haben, dass ich nicht Ihr Täter sein kann.»
«Das haben wir in der Tat», bestätigte Albrecht. Irgendetwas an der Art des Mannes brachte einen dazu, sich seiner vage affektierten Sprechweise anzupassen.
«Welche Frage sollte ich mir nun wohl stellen?» Grüblerisch legte der Psychologe die Stirn in Falten. «Warum sind Sie hier? Was erhoffen Sie sich von mir?»
Pure Arroganz, dachte Albrecht. Natürlich kennt er die Antwort. Dieser Mann ist kein Stück überrascht von unserem Besuch.
«Informationen?» Die Kommissarin sah von ihrem Schreibblock auf. «Hintergründe? Was geht in einem solchen Menschen vor? Was ist Ihnen selbst …»
«Meine liebe Frau Friedrichs!» Das überlegene Lächeln des Mannes wurde deutlicher. «Ihr Engagement in allen Ehren, und bei allem Verständnis für Ihre Situation: Warum, glauben Sie, sollte ausgerechnet ich Ihnen Ihre Ermittlungsarbeit abnehmen?»
Der Hauptkommissar nickte. Genau das war der Punkt.
«Es ist ein Geben und Nehmen, Herr Albrecht.»
Der Hauptkommissar zuckte zusammen.
Die direkte Ansprache war dermaßen plötzlich gekommen … Er hatte fest damit gerechnet, dass Freiligrath das Katz-und-Maus-Spiel mit Friedrichs noch ein wenig fortsetzen würde.
Exakt deshalb hatte der Mann das nicht getan.
Er ist unberechenbar, dachte Albrecht.
Und ihm ist vollkommen bewusst, in welcher Position er sich befindet.
«Sehen Sie», erklärte der Traumfänger. «Ihr Problem ist offensichtlich. Sie sind hier, weil Sie mich um eine bestimmte Dienstleistung bitten möchten. Ihr Problem ist nun zum einen, dass ich bei dieser spezifischen Dienstleistung eine Monopolstellung einnehme. Zum anderen aber besitzen Sie im Gegenzug nichts, was Sie mir für meine Aufwendungen anzubieten hätten …»
«Ausgenommen Ihre Freiheit natürlich.» Albrecht sprach ganz sachlich und hatte den Mann dabei sehr genau im Auge.
Flackerte kurz etwas auf in Freiligraths Gesicht? Hoffnung, nach einem Vierteljahrhundert gefilterter Luft? Oder nur Unwille, dass der Hauptkommissar es gewagt hatte, ihn zu unterbrechen?
«Meine Freiheit», bestätigte der Traumfänger in einem Tonfall, aus dem sich nichts schließen ließ. «Und genau die liegt nun nicht in Ihrer Hand, weil darüber keine Polizei- oder Justizbehörden zu befinden haben, da ich kein Strafgefangener mehr bin. Nein, Herr Albrecht, es gibt nichts, das Sie mir anbieten könnten. Wie ich die Sache sehe, haben Sie nur eine einzige wirkliche Chance, wenn Sie auf meine Mitwirkung Wert legen.»
Der Hauptkommissar beugte sich ein Stück vor.
«Sie müssten eine Möglichkeit finden, mich für Ihr Anliegen zu interessieren», erklärte Freiligrath. «Meine wissenschaftliche Neugier wecken. Sehen Sie: Ich kann mir gut vorstellen, dass es Angehörigen Ihres Berufsstandes schlaflose Nächte bereitet, herauszufinden, wer denn nun der böse Bube gewesen ist, der den Kaugummiautomaten an der Grundschule geknackt hat. Doch Sie werden natürlich verstehen, dass meine Zeit begrenzt ist. Nur dann, wenn es Ihnen gelingt, mich davon zu überzeugen, dass Sie bereit sind, sich auf eine ernsthafte Betrachtung Ihres Falles einzulassen – eine wissenschaftliche Betrachtung … Dann, und nur dann, könnte ein solches Gespräch auch für mich interessant werden. – Betrachten Sie selbst sich als Wissenschaftler, Herr Albrecht?»
Der Hauptkommissar musterte den Mann. Auf die Beleidigung mit dem Kaugummi nicht zu reagieren, war er Manns genug. Doch worauf wollte Freiligrath hinaus?
«Kriminologie ist eine Wissenschaft», sagte Jörg Albrecht vorsichtig. «Für die Kriminalistik – also das, womit ich als Ermittler befasst bin – gilt das ebenfalls, allerdings nur in begrenztem Maßstab. Eine angewandte Wissenschaft, wenn Sie so wollen. Wir sind auf der Suche nach der Wahrheit», fasste er zusammen. «In diesem Sinne bin ich Wissenschaftler.»
Ein nachdenkliches Nicken. «Fürchterlich pathetisch formuliert, aber ja: Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu. – Bitte! Sie dürfen Ihre erste Frage stellen.»
Albrecht kniff die Augen zusammen. Begriff er, was der Kerl von ihm wollte?
Er hatte ihn aufgefordert, eine Frage zu stellen.
«Bei Ihren damaligen Taten …»
«Aber Herr Albrecht!» Zungeschnalzend sah der Mann ihn an. «Jetzt dachte ich tatsächlich, wir hätten uns verstanden. Ich möchte mit Ihnen ein wissenschaftliches Gespräch führen …»
Augenscheinlich wirklich nur mit mir, dachte der Hauptkommissar. Friedrichs’ Anwesenheit nahm er nicht mehr zur Kenntnis.
«Und wie sollte ich mir irgendwelche wissenschaftlichen Erkenntnisse erhoffen», erkundigte sich Freiligrath, «wenn Sie gleich bei Ihrer ersten Frage nicht etwa unseren Gegenstand, sondern mich in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen? Kein Betrachter, lieber Herr Albrecht, kann einen unvoreingenommenen Blick auf ein Bild werfen, wenn er selbst ein Teil des Dargestellten ist.»
Der Hauptkommissar presste die Kiefer aufeinander, bis er ein Knacken in den Ohren spürte.
«Gut», presste er hervor. «Dann lassen Sie mich …»
«Sekunde!», bat der Traumfänger. «Lassen Sie mich Ihnen das verdeutlichen!»
Wie zufällig lehnte er sich zurück und drückte einen Knopf auf seiner Arbeitsfläche. Albrecht konnte nicht genau erkennen, um was für ein Gerät es sich handelte, doch im nächsten Moment erwachte neben dem Fenster eine rote Leuchte zum Leben.
Der Schwesternruf.
«Denken Sie nur nach», wandte Freiligrath sich an Albrecht. «Überlegen Sie sich sorgfältig Ihre Frage. Wir haben alle Zeit der Welt.»
Der Hauptkommissar holte Luft. Jeder Atemzug kostete Mühe, seitdem er dieses Zimmer betreten hatte.
Sie hatten nicht alle Zeit der Welt. Sie hatten nicht eine Minute zu verlieren, und dieser Mann wusste das.
Die Frage war: Was wusste er außerdem? Konnte der Mann ihnen tatsächlich helfen?
Er hat uns seine Hilfe angeboten.
Doch muss das bedeuten, dass er tatsächlich etwas weiß?
Wenn das nicht so war, hatte Jörg Albrecht an einem entscheidenden Punkt die falschen Schlussfolgerungen gezogen.
In diesem Fall wusste Freiligrath weniger als die Ermittler selbst – und würde die Gelegenheit nutzen, seinerseits an Informationen zu kommen.
Ich muss diese Möglichkeit im Auge behalten, dachte der Hauptkommissar. Aber sie darf nicht mein Vorgehen bestimmen.
Mit sorgfältig manikürten Fingern strich sich der Traumfänger eine unsichtbare Haarsträhne aus der Stirn.
Ein ernsthaft geistesgestörter Wahnsinniger, der die Albträume von Menschen Wahrheit werden ließ?
Keine Spur von ihm bisher. Einen Moment lang war in Albrecht eine Erinnerung an seinen alten Gemeinschaftskundelehrer aufgeblitzt.
Er hält uns hin, dachte der Hauptkommissar. Da kommt noch was.
Im selben Moment sah Freiligrath an seinen Gästen vorbei zur Tür.
«Ah, Schwester Dagmar!» Die Andeutung eines Lächelns.
Eine junge Frau, Mitte zwanzig, höchstens, ein Kittel in altrosa. Sie war ein Stück in den Raum gekommen. Der Psychologe wandte sich zu ihr um und stieß versehentlich gegen den Bücherstapel auf seinem Schreibtisch …
Nichts, was er tut, geschieht versehentlich.
Reflexartig fing das Mädchen den obersten der Bände auf. Die Seiten blätterten auf …
Albrecht konnte nicht erkennen, was genau passierte.
Ein erstickter Schrei, das Buch fiel zu Boden.
Das Mädchen wich zurück, taumelte.
Albrecht spannte sich, bereit aufzuspringen.
Sitzen bleiben! Freiligraths Blick duldete keine Widerrede.
Die junge Schwester schlug die Hände vor den Mund und stolperte rückwärts zur Tür, das Gesicht kreideweiß. Dann war sie verschwunden. Einzig ihre panischen Schritte waren noch deutlich auf dem Linoleum des Korridors zu vernehmen.
Der Traumfänger sah ihr aufmerksam nach und nickte wie zu sich selbst.
Dann bückte er sich.
Bedächtig legte er das Buch auf der Tischplatte ab. Von selbst schlugen die Seiten auf.
Freiligrath zog ein Lesezeichen hervor, hielt es vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger.
Albrecht kniff die Augen zusammen. Ein Blatt. Ein platt gepresstes, graubraunes Herbstblatt oder …
Der Psychologe drehte es um eine Winzigkeit, veränderte den Winkel.
Hannah Friedrichs stieß ein Keuchen aus.
Kein Blatt.
«Hyla arborea», erklärte der Traumfänger. «Der europäische Laubfrosch. Der einzige hierzulande genuin beheimatete Vertreter einer weltweit vorkommenden Art.»
Die Kommissarin starrte ihn an. «Sie … Das Mädchen hat Angst vor Fröschen?»
Bedauernd schüttelte der Psychologe den Kopf. «Ich fürchte, ich kann diese Einmischung in unseren akademischen Diskurs nicht akzeptieren, Frau Friedrichs. – Nekrophobie», wandte er sich an Albrecht. «Die Angst vor der Gegenwart des Todes in seinen unterschiedlichsten Erscheinungsformen: Särge, Grabsteine oder eben … Leichen. Kadaver. Das Wesen der Angst ist vielfältig. In jedem von uns existieren Ängste, die wir uns nur zum geringen Teil vergegenwärtigen.»
Jetzt, erst in diesem Moment, trat der Ausdruck in seine Augen, den Jörg Albrecht auf dem Gesicht des Traumfängers erwartet hatte:
Kalt. Herrisch. Erschreckend.
Erschreckend vor allem deswegen, weil es nicht der Blick eines Wahnsinnigen war, sondern derjenige eines Menschen, der sich über jeden seiner Schritte vollkommen bewusst ist.
Über seine Ziele und über die Methoden, mit denen er sie erreichen kann.
«Das, Herr Albrecht, ist wissenschaftliche Forschung. Die unmittelbare Beobachtung am Objekt, der zuweilen jahrelange, aufwendige Vorarbeit vorausgeht. Gerne führe ich mit Ihnen ein wissenschaftliches Gespräch. Sie stellen Ihre Fragen. Ich stelle meine. Und ich bin mir sicher, dass jeder von uns aus diesem Gedankenaustausch wichtige Erkenntnisse mitnehmen wird.
Aber lassen Sie mich präzisieren: Jedes Mal, wenn ich den Eindruck gewinnen muss, dass Sie versuchen, nicht das Objekt unserer Erörterung in den Mittelpunkt zu rücken, unseren konkreten Untersuchungsgegenstand, sondern mich … Jedes Mal, wenn Ihre Antworten auf die Fragen, die ich Ihnen meinerseits stellen werde, die grundlegenden Tugenden einer jeden akademischen Arbeit vermissen lassen: Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Vollständigkeit … Jedes Mal, wenn ich erkenne, dass Sie die Techniken wissenschaftlichen Arbeitens noch immer nicht begriffen haben, werde ich gezwungen sein, meinen akademischen Ansatz mit einem Exempel zu unterstreichen.»
Der platt gepresste Umriss des Laubfroschs wurde ein Stück gehoben.
Ein erstarrtes Abbild des Todes.
«Bei Lichte betrachtet», murmelte Albrecht. Am Fuß der Treppe zum Obergeschoss, wo die violette und die altrosane Linie wieder zu uns stießen, war er stehen geblieben. «Sollte ein Mann, der sein Leben lang das Wesen der Angst erforscht, sich nicht sämtliche Finger lecken, wenn wir ihn in irgendeiner Weise an der Ermittlung beteiligen?»
Ich hob die Augenbrauen. «Vorausgesetzt, er ist nicht an den Taten beteiligt.»
Albrecht zögerte, schüttelte dann aber den Kopf. «Unwahrscheinlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Physisch kommt eine Mitwirkung nicht in Frage – er sitzt hier fest. Ob er Kontakte nach außen hat, müssen wir prüfen. Doch selbst dann …» Er sah mich an. «Betrachten Sie unsere Morde, Hannah, aber betrachten Sie sie genau! Das Element der Angst spielt eine Rolle, natürlich, doch wie weit sind sie von seinem wissenschaftlichen Anspruch entfernt? Auch seine Opfer sind gestorben, richtig, doch nicht die Intention, sie zu töten, stand für ihn im Mittelpunkt, sondern die Gelegenheit, die Reaktion eines Menschen zu beobachten, der mit seinen persönlichen Albträumen konfrontiert wird. Nicht anders, als wir das gerade eben erlebt haben. Wie hätte er das anstellen sollen, bei Möllhaus etwa? Wenn wir vielleicht eine Kamera im Sarg gefunden hätten …»
Ich schluckte. Man konnte sich auch zu viel Mühe geben, die Gedanken des Täters nachzuvollziehen.
«Sosehr diese Morde seinen eigenen Taten auf den ersten Blick ähneln», fuhr Albrecht fort. «kann ich mir schlicht nicht vorstellen, dass sie für ihn als solche von besonderem wissenschaftlichem Interesse sind.»
Ich nickte, so ruckartig, dass ich in meinem Nacken ein Knacken spürte.
In den letzten Tagen hatte ich eindeutig zu viel Zeit im Wagen verbracht, bei Verhören oder sonst wo, und entschieden zu wenig in meinen Laufschuhen. Am Ende dieser Ermittlung würde ich sicherlich fünf Kilo mehr wiegen.
Albrecht schwieg für einen Moment. Ein Patient näherte sich. Hauspuschen, Jogginghose, aber ein Rucksack auf dem Rücken.
Seine Pupillen waren unfähig, den Blick zu halten: «Das war doch nicht die Feuerwehr eben?»
Jörg Albrecht schüttelte entschieden den Kopf. «Das kann ich mir nicht vorstellen.»
«Danke.» Geflüstert. Und weg.
«Die Feuerwehr scheint besonders beliebt zu sein», murmelte ich.
Albrecht verzog das Gesicht zu einer Grimasse. «Gut», sagte er. «Was haben wir aus unserem Gespräch mit Max Freiligrath mitgenommen?» Eine rhetorische Frage. Er ließ mich nicht zu Wort kommen. «Nichts, das uns zu diesem Zeitpunkt weiterbringt. Wir wissen, dass wir nichts wissen. Ist er in den neuen Fall verwickelt? Unwahrscheinlich. Ich sagte es. Doch unwahrscheinlich heißt nicht ausgeschlossen. Wenn er aber nicht beteiligt ist: Ahnt er, wer dahintersteckt? Weiß er es? Will er die Gelegenheit nutzen, durch uns an Informationen zu kommen? – Das mit Sicherheit.»
Ich holte Luft. «Also war alles umsonst?»
«Zu diesem Zeitpunkt.» Albrecht begann sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel zu massieren. «Zu diesem Zeitpunkt hat es den Anschein. Aber wir können nicht erwarten, dass die Antworten uns anspringen, solange wir nicht wissen, wonach wir suchen. Wenn wir mehr wissen, werden wir womöglich feststellen, dass er uns den entscheidenden Hinweis bereits ganz offen gegeben hat.»
«Ich hab alles notiert», murmelte ich. «Soweit es irgendeinen Sinn zu haben schien.»
Der Hauptkommissar nickte zerstreut. «Wir brauchen Zeit», sagte er. «Zeit, die wir nicht haben. Unterschiedliche Richtungen, die abgeklärt werden müssen. Seine selbsternannten Jünger damals. Die Theorie, dass es Mitwisser gab. Einige seiner wissenschaftlichen Versuche sind seinerzeit sehr aufwendig arrangiert worden, doch zuletzt, auf dem Boot, war er allein.» Er stieß den Atem aus. «Allein mit der Geisel», murmelte er. «Jedenfalls haben sich seitdem keinerlei Anhaltspunkte ergeben, dass ein wie auch immer gearteter Unterstützer danach noch aktiv gewesen wäre.»
Ich nickte. Dafür, dass er den Traumfänger und alles, was mit ihm zu tun hatte, all die Jahre erfolgreich von sich ferngehalten hatte, war er über den Fall ausgesprochen gut informiert. Wahrscheinlich hatte er sich intensiv in die Materie eingearbeitet, um ganz genau zu wissen, was er alles zu vergessen hatte. Um so was hinzukriegen, musste man Jörg Albrecht sein.
«Aber warum sollte er gerade jetzt wieder aktiv werden?», sagte ich nachdenklich.
Albrecht fuhr mit seiner Massage fort. «Eine Frage, die wir bei einem neuen Täter ebenso stellen könnten. Ich tendiere dazu, dass der Zeitpunkt kein Zufall ist. Dafür spielt das Timing eine zu große Rolle. Faber und Seydlbacher sollten allmählich so weit sein, dass sie wirklich in die Akte einsteigen können. Möglicherweise bringt uns das weiter.»
Er hörte sich nicht an, als ob er ernsthaft daran glaubte.
Wir sahen uns um. Keine Spur von Maja Werden oder Dr. Seidel, doch der Weg zum Ausgang war nicht schwer zu finden – blassblaue Linie. Der Mensch, der an der Außenschleuse Dienst hatte, war zum Glück noch derselbe wie vorhin, als wir mit unserer Führerin das Gebäude betreten hatten. Gegen Quittung bekamen wir unsere Handys zurück. Die Sicherheitsglastür öffnete sich auf Knopfdruck und ließ uns ins Freie.
Professor Möllhaus’ Doktorandin wartete an ihrem Wagen und sah uns entgegen. Aus ihrer Haltung sprach – nichts. Keine Neugier, auch nicht das Gegenteil.
Ich legte meine Hand auf Albrechts Arm. «Sekunde.»
Fragend sah er mich an.
«Was machen wir jetzt?», fragte ich mit gedämpfter Stimme. Maja Werden war noch fünfzig Meter entfernt; ich hätte normal sprechen können. Mir kam es drauf an, dass er den Sinn der Geste verstand.
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. «Was bleibt uns übrig? Ich werde mitspielen. Aber ich brauche Zeit. Zeit, über die Dinge nachzudenken, die er uns gesagt hat. Zeit, mir meine Fragen gründlich zurechtzulegen.» Ein Schnauben. «Weglaufen wird er nicht. – Ich bleibe hier», beschloss Albrecht. «Wenn mir bis morgen früh keine Strategie eingefallen ist, wird mir auch später keine mehr einfallen. Bis dahin spreche ich noch einmal mit Werden und mit Seidel. Ich will wissen, wer zu Freiligrath Zugang hat.»
«Wahrscheinlich das gesamte Stationspersonal», vermutete ich. «Und die anderen Patienten?»
Albrecht nickte. «Das ist anzunehmen. Aber haben Sie den Gesichtsausdruck dieser Schwester gesehen? Nicht erst als ihr das Buch in die Hand fiel, auch vorher schon: Ich glaube nicht, dass das Personal es auf Smalltalk mit ihm anlegt. Was die Ärzte anbetrifft, könnte sich das anders verhalten, so wie wir Seidel gehört haben. Wir dürfen niemals vergessen, dass der Mann zu seiner Zeit als wissenschaftliche Koryphäe galt.»
«Er selbst hat das jedenfalls nicht vergessen», murmelte ich. «Und was ist mein Part?»
Er sah mich an, beinahe erstaunt. «Sie fahren zurück nach Hamburg», stellte er fest. «Sie haben die Leitung.»
Ich schluckte. «Max Faber ist …»
«… voll mit der Auswertung der Akten beschäftigt. Matthiesen kommt ebenfalls nicht in Frage. Er soll sich bitte einmal Freiligraths Finanzen vornehmen. Seine heutigen Finanzen. Und wenn Isolde Lorentz den Seydlbacher zum Rapport bestellt, will ich nicht daneben sitzen. Sie waren von Anfang an dabei, Friedrichs. Sie machen das.»
Ich nickte stumm.
Ich habe keine Angst vor Verantwortung. Wenn das so wäre, hätte ich im mittleren Dienst bleiben müssen. Und es war nicht das erste Mal, dass mir die Aufgabe zufiel, den Chefsessel warm zu halten. Selbst Jörg Albrecht machte mal Urlaub – zumindest hatte er das während seiner Ehe hin und wieder getan. In solchen Fällen blieb uns gar nichts anderes übrig. Max Faber, Klaus Matthiesen und ich hatten uns dann mit der Leitung abgewechselt.
Doch das hier war nicht irgendeine Ermittlung.
Mit gefiel nicht, wie sich meine Knie anfühlten, als wir zum Wagen zurückgingen und Albrecht seinen Koffer vom Rücksitz nahm.
Mit knappen Worten erklärte er Maja Werden, was er beabsichtigte und erkundigte sich, ob sie ihn mit nach Braunschweig nehmen könne. Am Hotel sei nichts auszusetzen gewesen, und er wolle sich mit Hauptkommissar Rabeck besprechen, bevor er morgen früh nach Königslutter zurückkehrte.
Keine Einwände.
«Und Sie wollen zurück nach Hamburg?»
Soweit ich mich erinnern konnte, war das das erste Mal, dass die Frau mich direkt ansprach.
Ich nickte, wusste aber nicht recht, was ich sagen sollte.
«Dr. Seidel hat uns noch auf einen Kaffee eingeladen», sagte sie. «Im Bergcafé.» Sie nickte über unsere Schulter zu einem Gebäude hangaufwärts.
Ein verhutzeltes Hexenhäuschen. Soweit ich erkennen konnte, gehörte es noch zum Anstaltsgelände, war aber ein Stück abgesetzt, direkt am Waldrand. Von da oben hatte man mit Sicherheit eine hübsche Aussicht.
Ich schüttelte den Kopf und murmelte was von meinem Ehemann, der mich seit Tagen nicht zu Gesicht bekommen hätte.
Das schien auf Verständnis zu stoßen.
Zwei Minuten später fuhr ich durch die gemauerte Toreinfahrt und beobachtete im Rückspiegel, wie die beiden hinter mir zurückblieben.
Mit einem Griff in meine Handtasche hatte ich die Cure-CD und schob sie in den Player.
Standing on a beach with a gun in my hand …
Seltsam: Plötzlich konnte ich wieder atmen.
Ich mache mir Sorgen um dich. Du fehlst mir.
Die Füllanzeige an der Zapfsäule zählte langsam nach oben.
Der Preis in Euro schoss in ungefähr der doppelten Geschwindigkeit in die Höhe.
Ich achtete nicht darauf.
Ich betrachtete das Display meines Smartphones.
Die Kurzmitteilung war eingetroffen, als ich gerade das Ortsausgangsschild von Königslutter passierte.
Nein, nicht von Dennis.
Dieselbe Nummer wie heute Nachmittag.
Joachim Merz.
Ich schüttelte den Kopf, wartete ab, bis der Mineralölkonzern der Freien und Hansestadt Hamburg eine Summe von knapp hundert Euro in Rechnung stellte, und zahlte per Karte.
Dann stieg ich in den Wagen, fuhr ein paar Meter bis zum Reifendruckmesser und stellte den Motor wieder ab. Betrachtete das Display.
Mein Zeigefinger kreiste über der Antworten-Taste, schwebte weiter zu Löschen, wurde zurückgezogen.
Ich war kein großer Fan von Kurzmitteilungen. SMS waren was für die achte Klasse – und angeblich für die Bundeskanzlerin.
Und für Joachim Merz offenbar.
Heute Nachmittag hatte ich nicht geantwortet.
Das schien ihn nicht zu stören.
Oder doch? Warum sonst schickte er die nächste hinterher?
Weil ich ihm fehlte. Schrieb er.
Achte Klasse.
Antworten. Auswahlmenü. Ich holte Luft. Sprachanruf.
Als das Klingelzeichen ertönte, war ich kurz davor, aufzulegen, doch damit hätte ich mir eine Blöße gegeben. Schließlich kannte er meine Nummer …
Ich stutzte. Woher eigentlich?
Aber mein Handy hatte schließlich die ganze Nacht in seiner Zweitwohnung gelegen – in meiner Jackentasche zwar, doch er hatte meine Garderobe mit aller Sorgfalt zusammengelegt.
So oder so: Heimlich meine Nummer abzutippen war total daneben.
«Hallo, Hannah!»
Genau derselbe Tonfall wie gestern Morgen, als ich im Foyer der Dienststelle halbwegs in seinen Armen gelegen hatte. Dieselbe waffenscheinpflichtige Stimme.
Doch es war noch ein anderes Geräusch dabei. Motorengeräusch. Er saß am Steuer.
«Hi», murmelte ich und räusperte mich dann. «Also, ich wollte nur sagen: Es ist alles in Ordnung. Du musst dir keine Sorgen …»
«Was machst du heute Abend?»
«Was …» Mir blieb die Spucke weg. Was machte ich wohl heute Abend? Ich war eine verheiratete Frau!
Allerdings hatte diese verheiratete Frau vor ein paar Stunden, als die Vorzeichen noch anders ausgesehen hatten, ihren Ehemann angerufen, um ihm zu sagen, dass sie wahrscheinlich in Braunschweig übernachten würde.
Ich biss mir auf die Lippen.
«Ich bin noch unterwegs», kam es gut gelaunt aus dem Gerät. «Aber in spätestens zwei Stunden bin ich wieder in Hamburg.»
«Ich … ich bin selbst noch unterwegs.»
«Ah?» Interessiert. Sehr interessiert. «Und wo?»
«Wie: Wo? Auf der Straße!»
«Ich höre gar keinen Motor. – Oh, jetzt doch.»
Die letzte Bemerkung war kaum zu verstehen. Fünf Meter entfernt rollte ein Zwölftonner Richtung Autobahn.
«Ich habe gerade einen Auswärtstermin abgeschlossen», sagte ich steif. «In Niedersachsen. Und jetzt mache ich mich auf den Weg nach Hause.»
«Niedersachsen? He, wenn das kein Zeichen ist! Ich komme gerade von einem Gerichtstermin – in Hildesheim. Wo genau steckst du?»
Wo ich steckte? Keine halbe Stunde von ihm weg bei seiner PS-Zahl.
Ein seltsamer Zufall.
Er konnte tatsächlich in Hildesheim sein – oder direkt um die Ecke, in der nächsten Querstraße. Was hinderte ihn daran, eine halbe Stunde totzuschlagen, um dann freudestrahlend aufzutauchen und uns zu unserer spontanen Idee für einen aufregenden Abend im Braunschweiger Land zu beglückwünschen?
Aber warum hätte er das tun sollen?
Weil er jeden meiner Schritte verfolgte.
Weil du gerade eine ernsthafte Paranoia entwickelst, Friedrichs!
Das Einfachste wäre gewesen, auf dem Revier anzurufen und eine Handy-Ortung zu veranlassen. Seine Nummer hatte ich ja jetzt.
Bedauerlicherweise war das nicht drin.
Nicht, wenn ich vermeiden wollte, ein paar Fragen zu beantworten, die ich nicht beantworten wollte.
«Noch da?»
«Keinen Zentimeter von der Stelle gerührt.»
«Ist irgendwas nicht in Ordnung? Du klingst so …»
«Es war deine Mandantin, die heute Nacht ermordet wurde, Joachim.» Schärfer als beabsichtigt. «Du warst gestern mit ihr essen, nicht ich. Wenn damit für dich alles in Ordnung ist: wunderbar. Aber …»
«Ich mache mir Sorgen um dich.» Seine Stimme war sofort verändert. «Das habe ich dir schon einmal gesagt. Und ich würde dich gerne wiedersehen. Auch das habe ich dir schon einmal gesagt. Du fehlst mir.»
«Joachim, das ist doch …» Aber ich hörte selbst, wie ich klang.
Was willst du wirklich? Überredet werden?
Du willst ihn. Aber du willst nicht schuld sein. Nicht die Verantwortung tragen.
«Na, sag schon, Hannah: Wo steckst du?»
Ich holte Luft. «Du bist in der Nähe von Hildesheim?» Direkt vor meiner Windschutzscheibe hing eine Karte des niedersächsischen Autobahnnetzes, drei mal drei Meter groß. «Wir treffen uns auf dem Autohof Lehre.»
Das war am Rande von Braunschweig, ungefähr auf der Hälfte zwischen uns, ein Stück näher bei mir.
Aber Joachim konnte nicht wissen, aus welcher Richtung ich ihn ansteuern würde.
Zumindest für den Fall, dass er tatsächlich aus Hildesheim kam.
«Was halten Sie selbst von ihm?»
Maja Werden sah den Hauptkommissar an, über den Rand ihres Glases hinweg.
Sie saßen in einer kleinen Weinschenke in der Braunschweiger Altstadt. Studentisch. Im Hintergrund spielte Musik, die er nicht genau einordnen konnte, ein verträumter, etwas trauriger Swing, aber er passte zur Stimmung.
Jörg Albrecht musste an eine lange zurückliegende Zeit denken. Wie lange war es her, dass er mit einer jungen Frau in einer solchen Pinte gesessen hatte – einer Frau, die nicht Joanna war?
Ein Leben, dachte er, und mehr als ein Leben.
Das Kaffeetrinken mit Dr. Seidel hatten sie so kurz wie möglich gehalten. Die Informationen zu Freiligraths Lebensumständen in der Sicherungsverwahrung konnte ihm Maja Werden genauso gut geben, und besser. Schließlich war das der Gegenstand ihrer Promotionsarbeit.
Gemeinsam waren sie im Golf der Doktorandin nach Braunschweig zurückgefahren. Albrechts Koffer lag noch auf dem Rücksitz.
«Was ich selbst von ihm halte?», fragte Jörg Albrecht. «Er ist hochintelligent. Aber das wissen Sie ja, wenn Sie mit ihm zu tun hatten. Nein, das weiß natürlich jeder.» Er schüttelte den Kopf. «Er hat mir eine Art Spiel angeboten.»
Sie nahm einen Schluck. Die Kellnerin hatte eine kleine Öllampe über ihrem Tisch angezündet, und die Wölbung des Weinglases warf Lichter und Schatten auf die Züge der jungen Frau.
«Und?», fragte sie. «Lassen Sie sich darauf ein?»
Albrecht beobachtete das Schattenspiel, ruhelos und unvorhersehbar, und doch in einem fast zärtlichen, stetig wiederholten Rhythmus.
Hypnotisch.
«Ich weiß es noch nicht», gestand er. «Ich hoffe, dass ich es morgen früh wissen werde. Ich habe …»
«Angst?»
Das Wort schwebte zwischen ihnen, doch es klang anders, wenn die junge Frau es aussprach. Nicht dass es etwas von seiner Bedrohlichkeit verlor, doch in dieser Umgebung, eingehüllt vom Echo der Musik, schien es sich in etwas Fassbareres zu verwandeln. Etwas, über das man sprechen konnte.
Echte Gespräche. Wie lange hatte ihm das gefehlt? Echte Gespräche, bei denen nicht ein Herr jenseits der neunzig auf der anderen Seite des Tisches saß?
Albrecht nahm selbst einen Schluck Wein, warm, rund – süßer, als er ihn gewöhnlich trank. Maja Werden hatte ihn ausgewählt, auf seine Bitte hin. Einer der wenigen Augenblicke, in denen momentelang ihre Jugend durchschimmerte, Licht durch die Ritzen ihrer Simone-de-Beauvoir-Maske fiel.
«Das ist wohl der Einsatz», sagte Albrecht leise. «Angst. Aber ich glaube nicht, dass es das ist, was mich zurückhält. – Vorbehalte. Ich denke, das trifft es eher. Es gibt einen Grund, aus dem ich Freiligrath heute gegenübergesessen habe in seiner … seinem Patientenzimmer. Man vergisst, dass es gar keine Praxis ist.» Er schüttelte den Kopf. «Es gibt eine Verbindung zwischen unserem Täter und dem Traumfänger.»
«Natürlich gibt es die.»
Er setzte sein Glas ab. Seine Augen verengten sich. «Natürlich?»
«Natürlich.» Verwirrt sah die junge Frau ihn an. «Professor Möllhaus. Ich dachte, das wüssten Sie? Der Professor war einer der Gutachter während des Verfahrens gegen Freiligrath, und er hat ihn weiterhin …»
Albrecht nickte. Die Musik schien für eine Sekunde verstummt zu sein, doch schon war sie wieder da. «Sie alle», murmelte er. «Bei allen Menschen, die in den letzten Tagen gestorben sind, gab es diese Verbindung. So sind uns die Zusammenhänge erst klar geworden.»
Maja Werden nickte. Ihre bemerkenswerten Augenbrauen zogen sich eine Winzigkeit zusammen. Sie versuchte, seinen Gedankengang nachzuvollziehen.
Tu das, dachte Albrecht. Hilf mir denken.
Alles war anders bei dieser Ermittlung, doch auf eine Weise war es gut, dass es so war. Es war gut, dass er Hilfe von einer Psychologin hatte – von dieser Psychologin.
«Es gibt eine zweite Ebene, auf der die Dinge miteinander verknüpft sind», sagte er. «Eine Ebene, die wir noch nicht sehen können. Doch diese Ebene ist die entscheidende. Wenn wir erkennen, wie sich die Objekte auf dieser Ebene zueinander verhalten, begreifen wir die Geometrie des Falls. Intentio vera nostra est manifestare ea, quae sunt, sicut sunt.»
Sie nickte. «Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen.»
Ein Lächeln huschte über Albrechts Lippen. «Der Anbruch der modernen Zeit. Der erste Versuch, die Dinge der wirklichen Welt als das zu erfassen, was sie in Wahrheit sind. Großartig, finden Sie nicht?»
Sie nickte ernst. «Und Sie denken, das wird Ihnen gelingen? Mit der Hilfe von Freiligrath?»
Albrecht seufzte. «Haben wir eine Wahl? Wir wissen, dass wir nichts wissen.»
«Wenn Sie deswegen aufhören wollen, selbst nachzudenken, haben Sie Sokrates allerdings nicht verstanden.»
Jörg Albrecht sah in seinen Wein. Sollte es zur Gewohnheit werden, dass seine Gesprächspartner durchblicken ließen, er habe Sokrates’ Lehre nicht erfasst?
«Sokrates ist davon überzeugt, dass wir kein neues Wissen erwerben können», erklärte die junge Frau. «Weil wir alles Wissen, mit dem wir eine Frage beantworten können, bereits besitzen, sobald wir in der Lage sind, diese Frage zu formulieren.»
Albrecht nickte. «Sherlock Holmes konnte einen Fall lösen, indem er sich in seinem Club in den Sessel setzte und einfach nachdachte. Er musste keinen Fuß vor die Tür setzen.»
Maja Werden lächelte, und wieder spielten die Schatten auf ihren Zügen ihr verwirrendes Spiel. «Er war einer der allerersten Psychologen.»
«Was hat Sie dazu gebracht?», fragte er. «Psychologie zu studieren?»
Sie hob die Schultern. «Ich wollte Dinge verstehen, die ich nicht verstehen konnte. Ist es das nicht immer? Die Dinge hinter den Dingen.»
Albrecht trank den letzten Schluck und nickte, als die junge Frau fragend zur Karaffe deutete.
«Sie müssen die Dinge auf ihren Kern zurückführen», erklärte er. «Auf ihren Ursprung. Sie müssen alle Objekte beiseiteschieben, die nicht dazugehören. Dann kommen Sie auf den Kern.»
Sie nickte erneut, schenkte erst ihm und dann sich selbst ein.
Lange her ein solcher Abend, dachte Albrecht.
Lange, lange her.
«Mir war nicht klar, dass du dich in Braunschweig so gut auskennst», bemerkte ich.
Klang das irgendwie lauernd?
Wenn das so war, bekam mein geheimnisvoller dunkler Fremder nichts davon mit. Oder er war sich seiner Sache dermaßen sicher, dass er mit einem Achselzucken antworten konnte.
«In Niedersachsen gibt es drei verschiedene Oberlandesgerichte, und Braunschweig ist das kleinste von ihnen. Aber ich bin an allen dreien zugelassen.»
«Du kommst viel rum», murmelte ich.
Auf jeden Fall kannte er die Strecke nach Braunschweig. Und als Jurist kannte er mit Sicherheit auch das Institut für Rechtspsychologie, aus dem Professor Möllhaus gestern Nacht entführt worden war, um im Boden des Magnifriedhofs eines grausigen Todes zu sterben.
«Viel zu viel», sagte Joachim Merz. Seine Stimme kam kaum bei mir an.
Die Straßen der Braunschweiger Altstadt waren belebt. Es war ein angenehmer Abend für Ende Oktober. Eine Ahnung von Musik aus den Lokalen hier und da. Pärchen wie wir, die Hand in Hand …
Wir waren kein Pärchen!
«Eine Zeitlang ist es ganz interessant.» Joachim bemerkte nichts von dem, was mir durch den Kopf ging, sondern schien sich in seinen Gedanken zu verlieren, während ich seine Hand fest und warm in meiner spürte. «Ständig neue Orte, neue Leute, neue Herausforderungen. Man gewinnt … oder man lernt dazu. Aber irgendwann muss man aufpassen, dass man nicht vergisst, wohin man eigentlich gehört. Wer man selbst ist.»
Ich nickte. Bekam er es mit? Eben kamen wir an einem kleinen Ladengeschäft vorbei, einem Juwelier, und ich betrachtete unsere Reflexion in der Schaufensterscheibe. Kein Pärchen, dachte ich mit kritischem Blick, aber doch ein recht ansehnliches Paar.
Joachim hatte mich mehr oder minder damit überfahren, dass ich wohl kaum für einen Abend gekleidet war. Wie weit musste eine Frau eigentlich von Gut und Böse entfernt sein, wenn sie im ersten Moment gar nicht begriff, warum man sich abends anders kleiden sollte als tagsüber? Höchstens bequemer vielleicht. Ich war fast ohnmächtig geworden, als ich die Preise gesehen hatte in der Boutique in den Schlossarkaden, die bis weit in den Abend geöffnet hatte. Doch ich hatte darauf bestanden, das Kleid, einen Traum aus mitternachtsblauer Seide, selbst zu bezahlen. Wie ich das Dennis erklären sollte, war mir allerdings schleierhaft.
Vielleicht sollte ich es ihm einfach nicht erklären.
Für sein halbes Dutzend neuer Anzüge jedes Jahr bekam ich ja auch keine andere Erklärung als die, dass er in seinem Beruf eben repräsentieren müsse.
«Hannah?»
Ich zuckte zusammen. «Was hast du gesagt?»
Das Schaufenster, in dem ich unsere Silhouetten bewundert hatte, lag bereits mehrere Häuser hinter uns. Dennis … Nein, Joachim! Joachim war stehen geblieben, zog mich zu sich herum und fasste mich an den Oberarmen, nicht fest, aber nachdrücklich.
«Irgendwie bist du nicht wirklich hier heute Abend, kann das sein?»
Ich biss mir auf die Lippen. Er hatte ja recht. Es tat gut, ihn an meiner Seite zu spüren, fast schon vertraut, seine Nähe auf diesem Spaziergang durch die Nacht, aus dessen Ziel er ein Geheimnis machte. Doch die Wahrheit war, dass mir viel zu viele Dinge im Kopf herumgingen, und fast alle drehten sich mehr oder weniger um die verflixte Ermittlung.
Morgen früh Punkt acht würde ich auf dem Revier sitzen und diese Ermittlung leiten, die größte in der Geschichte von PK Königstraße, seitdem ich dabei war.
Was ich bis dahin tun konnte, hatte ich getan, während ich zum Autohof unterwegs gewesen war. Ich hatte Faber angerufen, ihn über die neuen Entwicklungen informiert, soweit es die gab, und hatte ihn gebeten, bei der Freiligrath-Akte ein besonderes Auge auf mögliche Mitwisser, Traumfänger-Jünger und so weiter zu haben. Das würde er tun. Jetzt gleich. Er teilte sich die Nachtschicht mit Matthiesen. In diesem Moment war mir klar geworden, dass es Matthiesens zweite Nachtschicht hintereinander war, und in der Nacht davor hatte Faber meine Schicht übernommen.
Und die Frau, die nun den gesamten Vorgang leitete, machte sich in einem Kleid mit Schlitz bis zum Hintern einen bunten Abend mit einem potenziell Tatverdächtigen.
«Es …», murmelte ich. «Es tut mir leid. Vielleicht war es ein Fehler.»
Streng hob er die Augenbrauen. Diese Möglichkeit stand nicht zur Debatte.
Und natürlich war es kein Fehler gewesen. Nur dass ich ihm die Wahrheit schlecht sagen konnte: Wenn du heute Nacht hier bei mir in Braunschweig bleibst, und wir haben morgen in Hamburg den nächsten Toten, weiß ich zumindest, dass du es nicht gewesen sein kannst.
Dass die nächste Leiche nicht in der Elbe treiben könnte, sondern in der Oker, war mir wieder einmal zu spät aufgegangen. Und heute Abend hatte ich mich nicht mal mit einer Nachricht an meine Mailbox abgesichert.
«Du bist hier», stellte er fest und griff nach meiner Hand. «Es ist dein Kopf, der woanders ist.»
«Frag mich mal, wo», murmelte ich.
Ein mutwilliges Funkeln glomm in seinen Augen auf: Ich hätte da ein, zwei Ideen.
Dann hätten wir uns gleich ein billiges Motel suchen sollen, dachte ich. Oder ein teures, schließlich hielt der Mann auf Klasse. Und das Kleid hätte ich mir sparen können.
Doch seltsamerweise …
Vielleicht war das ja normal bei einem Mann, der in jedem Gerichtssaal ein anderes Mädchen hatte, aber Joachim Merz wusste ganz einfach, welchen Knopf er zu drücken hatte. Wie er eine Frau dazu brachte, umzuschalten, von einem Atemzug auf den anderen.
Es war nicht sein Blick allein, auch nicht seine Hand, die meine Finger an seine Lippen führte, die die Spitzen nur andeutungsweise berührten. Es war keines von beiden, vielleicht nur seine Haltung, die sich höchstens um Nuancen veränderte, sodass alles auf einmal anders war.
Als ob alles um uns herum, das Licht der Straßenlaternen, die weichen Schatten auf dem Kopfsteinpflaster, die ferne Ahnung von Musik und Gelächter, selbst das gedämpfte Brummen des Verkehrs – als ob all das auf einmal nur noch für mich allein da wäre. Als ob er mir diese Stadt überreichte wie ein geheimnisvolles Geschenk.
Seine Lippen waren plötzlich nur noch Zentimeter von meinen entfernt.
«Ich will dich festhalten», sagte er leise. «Am liebsten würde ich dich anketten, dich nie wieder gehen lassen. Doch ich weiß, dass das nicht möglich ist. Das Morgen gehört mir nicht.» Meine andere Hand, die Berührung seiner Lippen. «Nur das Jetzt. Aber das …» Der Druck um meine Finger wurde fordernder. «… ganz und gar.»
Ein Schauer lief über meinen Rücken. Erst jetzt wurde mir die Kühle des Abends bewusst, und gleichzeitig fühlte meine Haut sich heiß und fiebrig an.
«Wollen wir wirklich …», fragte ich vorsichtig, «… noch irgendwo hingehen?»
Das billigste und schäbigste Stundenhotel wäre mir mit einem Mal gut genug gewesen. Solange es gleich nebenan war.
Wir waren in einem Winkel der Altstadt stehen geblieben. Ein paar Schritte weiter mündete die Fußgängerzone mit ihren kleinen Bars und Geschäften in eine belebtere Straße.
Autoverkehr. Quer gegenüber wurde ein repräsentatives Gebäude von Scheinwerfern angestrahlt, ein Theater oder eine Oper, flankiert von Bäumen und einem kleinen Park.
«Komm», flüsterte er – und war schon halb über die Straße, ich mit ihm. Die Schuhe mit den sieben Zentimeter hohen Absätzen hatten zu meinem Abend-Paket gehört, und bisher war ich auf ihnen zurechtgekommen, ohne hinzufallen. Eine Kuhmagd vom Dorf war ich ja auch nicht.
Aber jetzt stieß ich an meine Grenzen. Zum Glück merkte er das, wurde etwas langsamer und steuerte den Gehsteig vor dem Theater an, eine Bushaltestelle.
Was wollte er an einer Bushaltestelle? Sein Jaguar stand nur ein paar Straßen weiter, mein Nissan war am Autohof geblieben. Doch er wurde lediglich langsamer und blieb nicht stehen. Der Park, die Bäume, auf einmal …
Mit dem Abend war leichter Wind aufgekommen, doch die Brise war nicht unangenehm, eher im Gegenteil.
Über der Ahnung von Kleid hatte ich meine Windjacke um die Schultern gelegt – Schwarz zu Nachtblau, wirkte wie aus einem Guss. Jetzt glitt sie wie von selbst von meinem Nacken, als Joachim seinen Arm um meinen Rücken schob.
Es war dunkel hier, ich machte einen ungeschickten Schritt auf den neuen Schuhen, doch er hielt mich, seine Hände, die über meinen Körper fuhren, sein Mund, der meinen suchte.
Nichts davon passiert gerade wirklich.
Jetzt meldete sich meine innere Gouvernante, schon während es passierte!
Lass es geschehen, dachte ich. Lass es jetzt geschehen.
Niemand hat Macht über das Morgen.
Aber das Jetzt gehörte uns, und ich gehörte Joachim.
Seine Hand fand den Schlitz meines Kleides, schob sich nach oben, ein Fieber noch heißer als mein eigenes.
Lösch es aus! Lösch jeden Gedanken aus!
Und genau das tat er.
Ich sollte noch oft an diesen Moment zurückdenken, bevor diese Geschichte zu Ende war.
Ich sollte mich verfluchen, wie ich so blind hatte sein können.
Doch für den Augenblick …
… war die Blindheit ein Segen.