zwölf

Auf einen Schlag war es taghell.

Im Schutz des Dickichts hatten die niedersächsischen Beamten eine ganze Batterie von Scheinwerfern in Stellung gebracht, die jetzt auf Knopfdruck zum Leben erwachten und das Parkgelände gnadenlos ausleuchteten.

Die Gestalten in ihren dunklen Tarnanzügen, die Merz hatten in die Zange nehmen sollen, eilten im Laufschritt auf die Stelle zu, an der ein Kampf ausgebrochen war.

Schon konnte ich nichts mehr erkennen. Auch im Gebüsch wurde es lebendig, die Beamten stürzten nach vorn. Alles stürzte nach vorn, ich selbst, Cornelius, der versuchte, mich zu fassen zu kriegen. «Kommissarin! … Bleiben Sie stehen! … Sie haben keine Waffe!»

Ich hörte nicht auf ihn. Mein Puls schlug wie ein Trommelfeuer, während ich stolpernd den Hang hinaufhastete.

Joachim!

Joachim war … der Täter? Nein, Joachim war überfallen worden … vom Täter?

Wenn er nicht der Täter war, was tat er hier?

War er verletzt? War er …

Es rauschte in meinen Ohren, dann hörte ich gebellte Befehle, als die ersten Beamten die Stelle erreichten, an der die Kämpfenden sich am Boden wälzten.

Schmerzhaftes Ächzen, unterdrückte Flüche, aber, nein, keine Schüsse. Konnten sie beide unbewaffnet sein?

«Kommissarin! … Hannah!»

Cornelius packte mich am Arm. Wir waren noch zehn Schritte von der Stelle entfernt.

Am Boden ein Knäuel von Körpern. Die dunklen Uniformen, dazwischen … Anzüge. Alle beide, Joachim – und der Unbekannte.

«Lassen Sie mich auf der Stelle …» Das war mein Anwalt, nuschelnd. Irgendjemand musste ihn herzhaft am Kiefer erwischt haben.

Die andere Gestalt, der Angreifer. Der Anzug in Fetzen, die Hose halb vom Hintern gerutscht. Ein haariges Bauarbeiterdekolleté, bei dem ich gegen meinen Willen an …

Ich schlug die Hand vor den Mund.

Der Mann wehrte sich wie ein Berserker, doch zwei der Beamten hatten seine Arme gepackt, zwangen ihn auf den Rücken und pressten ihn zu Boden.

Ich starrte ihn an, starrte auf die Szene.

«Kommissarin?» Cornelius. «Kennen Sie den Kerl?»

Die Gestalt am Boden blinzelte. Das rechte Auge war schon im Begriff zuzuschwellen.

«Hallo … Hannah», murmelte mein Ehemann.

***

Maja.

Lena.

Maja war Lena war Maja.

Maja Werden war Lena Wolfram, Horst Wolframs Tochter.

Maja Werden war –

Jörg Albrechts Verstand stellte die Verbindungen her, im Bruchteil einer Sekunde, nun, da sämtliche Objekte im Raum der Ermittlung aus dem Weg waren.

Das schrankgroße Ungetüm, das ihm seit Tagen den Blick verstellt hatte, war ein Ungetüm namens Jörg Albrecht gewesen.

Es war direkt vor seinen Augen geschehen.

Er hätte es sehen müssen und war doch blind gewesen.

Nun erst begriff er, erfasste sämtliche wesentlichen Zusammenhänge in der Spanne eines Lidschlags.

Die wesentlichen Zusammenhänge. Die Zusammenhänge, die auf den ersten Blick zu erfassen waren.

Das Wer. Das Wie.

Noch nicht das Warum.

Nein. Noch nicht das Warum.

Doch etwas war anders als sonst.

Freiligrath betrachtete ihn, dann glitt der Blick des Traumfängers weiter. Nach links. Zu Wolfram.

Albrecht wollte …

Er konnte sich nicht rühren.

Er atmete. Sein Herz schlug. Sein Gleichgewichtssinn funktionierte, sorgte dafür, dass er nicht vom Stuhl fiel.

Die Prozesse des autonomen Nervensystems waren nicht betroffen, doch alles andere …

Panik stieg in ihm auf.

Ihm war klar, dass sein Zustand eine Form von Schock war, doch die Erkenntnis half nichts. Er war gelähmt.

Maja war Lena war Maja.

Doch warum hatte sie …

Unwichtig. In diesem Moment.

Er hatte es nicht sehen können. Hatte nicht erkannt, was er selbst seinen Mitarbeitern mit auf den Weg gegeben hatte, vor zwei Tagen schon:

Jemand, mit dem sie bekannt geworden waren, auf eine Weise, die untypisch war für sie. Die abwich von den Strukturen, die in ihrem Leben für gewöhnlich zu finden waren. Jemand, der keine rechte Beziehung hatte zu allem anderen, sich einer Einordnung entzog.

Vertrauen.

Dieses Geschenk, das Jörg Albrecht wenn überhaupt in homöopathischer Dosis verteilte, an einige wenige, auserwählte Mitarbeiter: Friedrichs, Faber. Früher Ole Hartung.

Maja Werden hatte er es schier hinterhergeworfen.

Er musste nicht fragen, wie sie es gemacht hatte. Es waren dieselben Mechanismen wie bei Ole Hartung und Kerstin Ebert. Bei den anderen Opfern mit Sicherheit genauso. Dieselben Mechanismen und doch jedes Mal anders.

Ihre Augen.

Ihre Augen, diese Augen, die niemals blinzelten.

Ein Augenfehler. Die Aussage von Eberts Sohn. Albrecht hatte sie vom Tisch gewischt, als Hannah Friedrichs den Punkt erwähnt hatte.

Ein Augenfehler. Falls Sie nicht gerade explizit was über Augenkrankheiten haben … Seine eigene Bemerkung zu Wolczyk, als der Doktorand angedeutet hatte, es bestände die Möglichkeit, aus dem Gesicht eines Menschen dessen Krankengeschichte zu lesen.

In diesem Moment hatte Maja Werden die Unterhaltung unterbrochen.

Ein Augenfehler? Es war kein Augenfehler. Es war eine Scharfsichtigkeit, eine Hellsichtigkeit, die die Gabe jeder Kartenlegerin in den Schatten stellte. Mit einer traumwandlerischen Sicherheit erkannte diese junge Frau die Schwächen und Defizite ihres Gegenübers und fand auf der Stelle den Punkt, an dem sie ansetzen musste, die individuelle Sollbruchstelle der Persönlichkeit.

Sie hatte Jörg Albrecht nicht geschmeichelt. Sie hatte ihm Kontra gegeben, gerade am Anfang. Hatte in der Kolloquiumssitzung sein Täterprofil auseinandergenommen, bis eine Lücke entstand, in der sie das Stemmeisen hatte ansetzen können.

Alles andere … Sie hatte seine Sehnsucht erkannt, seine Sehnsucht nach guten Gesprächen …

Gute Gespräche hast du mit Heiner Schultz! Jeden letzten Dienstag im Monat!

Doch Heiner Schultz war keine attraktive junge Frau.

Ich bin ein lächerlicher alter Mann.

Er hatte die Ermittlung gegen die Wand gefahren, weil er ein lächerlicher alter Mann war.

Und er wusste, dass er sich das niemals verzeihen würde.

Der Weidenast.

Diesmal hatte niemand den Weidenast zu ihm herunterziehen müssen. Niemand, dem er einen Teil der Schuld anlasten konnte.

Und doch war der Fehler derselbe gewesen: Vertrauen.

Er hatte der Person vertraut, die im Fadenkreuz einer der größten Ermittlungen stand, die das Kommissariat während seiner Amtszeit erlebt hatte.

Friedrichs … Friedrichs hatte versucht, ihn zu warnen. Sie hatte ihre Skepsis durchblicken lassen, so deutlich sie das wagen konnte bei einem Vorgesetzten wie Jörg Albrecht.

Und er hatte beschlossen, ihre Bedenken nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Sechs tote Menschen.

Jörg Albrechts Schuld.

Horst Wolfram in der Hand des Traumfängers; in der Hand seiner Tochter.

Der Täterin.

Jörg Albrechts Schuld. Seine Schuld allein.

Maja zog ihre Hand ganz langsam aus der Jackentasche.

Sie hielt eine Pistole.

***

«Tut das weh?», fragte ich unfreundlich.

Mein Göttergatte nickte wortlos.

Gut so, dachte ich, wurde aber doch eine Spur vorsichtiger, während ich seinen lädierten Schädel bandagierte.

Wir hatten uns in einen abgelegenen Teil des Domparks zurückgezogen, gleichzeitig nur wenige Schritte vom Brennpunkt des Geschehens entfernt. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich heute Abend vor den Türen der geschlossenen Abteilung noch irgendwas ereignen sollte. Das Sonderkommando hatte seine Scheinwerfer wieder ausgeschaltet und sich erneut im Gebüsch verkrochen, aber der Täter, der sich nach dem Chaos, das wir minutenlang veranstaltet hatten, noch ins Freie wagte, musste schon auf der Suche nach dem Gnadentod sein.

Ein Stück entfernt hörte ich die gedämpfte Nichtunterhaltung zwischen Cornelius und meinem Traumanwalt. Das Verhör. Es war sinnlos, von vornherein. Joachim hatte mir kaum mehr als ein paar Wortfetzen zuzischen können im Würgegriff der Beamten: … muss mit dir reden … das Video … Sie zwingt mich … bitte … musst mir vergeben …

Sie?

Madame Beatrice.

Seine Lippen hatten sich bewegt, ohne dass ein Ton zu hören gewesen war. Mir war klar, dass er nichts davon gegenüber Cornelius wiederholen würde. Ein Joachim Merz kannte seine Rechte, und auch dem schlaksigen Kommissar musste längst klar sein, dass er keine Möglichkeit hatte, den Anwalt festzuhalten.

Schließlich hatte sich Merz nichts zuschulden kommen lassen.

Weit mehr als aus seinen Worten hatte ich das aus seinem Blick begriffen. Aus der Art, wie er mich angesehen hatte.

Er war meinetwegen gekommen, einzig und allein. Er hatte sich entschuldigen wollen. Das Video … Natürlich hatte er mit den Videos zu tun, mit der Aufnahme aus dem Park in Braunschweig genauso wie mit den heimlichen Filmereien im Fleurs du Mal. Und doch ging weder das eine noch das andere auf sein Konto. Er selbst war erpresst worden. Die Chefin des Schuppens hatte ihn zwingen wollen, über mich an Informationen zu kommen.

Wir hatten es gewusst, von Anfang an. Deshalb hatte der Chef schon Ole Hartung ins Fleurs du Mal geschickt: weil dort Erpressungen liefen. Doch unsere Mordserie …

Sie hatte nichts damit zu tun.

Joachim war nicht unser Täter. Kein Stück.

Woher er gewusst hatte, wo ich mich aufhielt: die einfachste Sache der Welt – ein Anruf auf dem Revier.

Den echten Täter hatten wir mit unserer Scheinwerferaktion verscheucht.

Wobei der eigentliche Grund vor mir auf einer Parkbank saß, ein Häuflein Elend. Cornelius hatte einiges gut bei mir, dass er dieses Häuflein fürs Erste mir überlassen hatte.

«Was hast du dir nur dabei gedacht?», murmelte ich.

«Was glaubst du denn … Autsch!»

Er hatte den Fehler gemacht, den Kopf zu drehen, während ich mit einer Sicherheitsnadel hantierte, um die Bandage festzustecken.

«Lass mich raten», seufzte ich. «Du wolltest mit mir reden?»

«Da war ich nicht der Einzige, was?» Er sah zu mir hoch, mit vorgeschobener Unterlippe. Trotzig, wie ein sehr, sehr großes kleines Kind. Gleichzeitig sah er einem Piraten ähnlicher denn je mit seinen Kriegsverletzungen.

Ich breitete die Arme aus. «Dennis … Was soll ich sagen?»

«Du liebst ihn?» Er senkte den Blick. «Du willst mich verlassen?»

Mir war schwindlig. War das derselbe Mann, der in Ruhe mit mir hatte reden wollen, zu Hause in Seevetal?

«Dennis, ich weiß wirklich nicht … Ich … Nein, ich denke nicht, aber …» Einatmen. Ausatmen. «Dennis, es geht doch so nicht weiter! Wir beide machen uns doch was vor. Ob es jetzt Merz ist oder … die Gunthermann oder …»

«Iris?» Er kniff die Augen zusammen. «Was hat die damit zu tun?»

«Oder die Blondine mit den dicken Möpsen!», knurrte ich. «Oder sonst wer!»

«Blondine?» Er starrte mich an. Fassungslos.

Eine Fassungslosigkeit, die kein Mensch spielen konnte.

«Der …» Auf einmal hatte ich ein sehr, sehr merkwürdiges Gefühl im Magen. «Der rote Sportwagen», sagte ich. «Ich habe neben euch an der Ampel gestanden. In Bahrenfeld.»

«Was?» Er schüttelte sich. «Wann?»

«Elfter Mai.» Die Antwort kam automatisch. «Vor zwei Jahren. Mittags, zehn nach eins.»

«Du …» Wie lange kannten wir uns? Siebeneinhalb Jahre. Einen solchen Gesichtsausdruck hatte ich noch nie zu sehen bekommen. «Frau Verhoorn», murmelte er. «Sie hat das Penthouse in Eimsbüttel gekauft, das wir drei Monate lang nicht loswerden konnten. Ich hatte noch nie in einem Ferrari gesessen, also hat sie mich eingeladen. – Du denkst, ich hatte was mit …» Wieder dieses verständnislose Schütteln, das durch seinen gesamten Körper ging. «Selbst wenn ich jemals auf die Idee gekommen wäre! Die Frau ist erstens verheiratet und zweitens fünfzehn Jahre jünger als ich! Was denkst du denn, was ich …»

Ich war erstarrt. Zu keiner Bewegung fähig.

Konnte ihn nur anstarren, während ich spürte, wie sich etwas in mir regte.

Du kannst nie wieder in den Spiegel gucken. Nie. Wieder.

«Hannah …» Mühsam stütze er sich auf die Lehne der Parkbank und stand auf. Er verzog das Gesicht. «Hannah, du denkst, ich hätte was mit irgendwelchen Weibern? Lies es von meinen Lippen: Ich – liebe – dich! Sonst nichts. Sonst niemanden. Ich weiß, ich stecke viel zu viel Zeit in den Job, aber diese Agentur – wir haben uns das aufgebaut, Gunthermann und ich. Und im Moment ist es verdammt schwierig, solche teuren Immobilien loszuschlagen. Aber ich würd doch nie … nie …»

Er streckte die Hand nach mir aus.

Ich wollte sie beiseiteschlagen, weil ich …

Weil es einen Punkt gibt, an dem man sich einfach selbst nicht mehr erträgt.

«Hannah», murmelte er und zog mich an sich.

Ich wusste, dass Cornelius nur ein paar Schritte entfernt war.

Und Joachim Merz.

Jeden Augenblick konnten die beiden um die Ecke kommen.

Doch jetzt, in diesem Moment, wollte ich einfach nur … Heulen? Mich an Dennis’ Schulter werfen?

Einfach nicht mehr nachdenken. Einfach nur noch …

Standing on a beach with a gun in my hand

Das Geräusch war so weit weg.

Ich wollte es nicht zur Kenntnis nehmen.

Staring at the sea, staring at the sand

Dennis ließ mich los.

«Das ist dein Diensthandy.» Leise. «Bitte geh ran! Es … es tut mir leid, wenn ich dir das Gefühl gegeben habe, ich würde deinen Job nicht ernst nehmen. Ich … Ich bin sehr stolz auf dich und …» Er holte Luft. «Bitte geh ran!»

Meine Kehle war wie zugeschnürt.

Das sind die Dinge, die ich dir sagen wollte.

Sagen muss.

Sagen werde.

«Ja?», krächzte ich ins Handy. «Nils?»

«Äh, nein …»

Ich kannte diese Stimme von irgendwoher. Von weit, weit weg.

«Hier ist, äh, Jonas Wolczyk. Wir haben uns gestern …»

Verdammt! Dein Job ist wichtig! Reiß dich zusammen!

«Ja», murmelte ich. «Der Freund von Frau Werden.»

«Sie ist nicht meine …»

«Herr Wolczyk», flüsterte ich, «das ist ein etwas ungeschickter Moment zum Plaudern. Wenn Sie mir einfach sagen würden, womit ich Ihnen helfen kann?»

Und woher Sie meine Nummer haben. Aber die Antwort saß sowieso gerade mit dem Traumfänger beim Kaffee.

«Ja, äh … Ich wollte eigentlich mit Herrn … also Herrn Hauptkommissar Albrecht sprechen. Aber der geht nicht ran. Er hatte gemeint, wenn mir noch was einfällt, sollte ich ihn einfach anrufen. Also, wahrscheinlich meint er das natürlich immer noch. Denke ich. Und wenn er nicht rangeht, dann sollte ich …»

Nie wieder, schwor ich mir. Nie, nie, nie wieder nimmst du einen Psychologen in Schutz.

«Dann raus mit der Sprache!», brummte ich. «Ich geb’s ihm weiter.»

«Ja.» Ein Räuspern. «Das dachte ich mir schon. Also, was ich ihm sagen wollte: das Timing. Er meinte ja, das wäre das entscheidende Element in der Ermittlung. Als wir die Aktentasche des Professors gefunden haben, wissen Sie? Dass der Täter genau berechnet hätte, wie lange Professor Möllhaus noch le… leben konnte in diesem Sarg. Sodass wir nur ganz, ganz knapp zu spät kommen würden.»

«Ja», murmelte ich. «Das ist richtig.»

Ich hatte erhebliche Zweifel, dass ich selbst aus einer popeligen Aktentasche dermaßen weitgehende Schlüsse gezogen hätte. Doch ich kannte die Gabe unseres Herrn und Meisters, auf der Stelle zuzugreifen, wenn irgendwo noch ein Kreuz rumstand, das er sich auf die Schultern laden konnte.

«Also …» Ein Seufzen. «Also, was ich mich gefragt habe: Es war doch sieben Uhr früh, als wir ins Institut gekommen sind. Verstehen Sie?»

«Ja?»

Schweigen.

Sieben Uhr früh … Die Information war in meinem Hirn angekommen. Wolczyk schien zu erwarten, dass sie dort irgendwas auslöste. Einen Denkvorgang im Idealfall.

Also wartete auch ich. Und wartete.

Und wartete.

Ich kniff die Augen zusammen.

«Sieben Uhr früh ist ziemlich früh, oder?», fragte ich ins Handy.

«Genau, ziemlich richtig früh sogar. Ich meine … die meisten von uns an der Uni sind eher Nachtmenschen. Und am Abend vorher hatten wir dieses Kolloquium bis kurz nach zwölf. Also, normalerweise wäre ich jedenfalls nicht vor elf oder so im Institut aufgetaucht. Gut, beim Professor weiß man das nie … oder wusste man nie, als er noch lebte. Weil er ja nicht geschlafen hat.»

Nicht geschlafen?

«Aber jedenfalls …» Ich glaubte das Achselzucken zu hören. «Na ja, woher hätte der Täter das alles wissen sollen? Dass da jemand auftaucht vor acht oder neun oder sonst wann. Und dass das ausgerechnet Herr Albrecht ist. Ich meine … An sich konnten das nur, na ja …»

Tick. Tick. Tick.

Eine Uhr. Ein Geräusch in meinem Kopf. Ich konnte es wirklich hören.

Die Zeit läuft ab.

«Das konnten nur diejenigen wissen, die an diesem Abend dabei waren», flüsterte ich. «Der Professor, Albrecht, Sie selbst. Wer noch?»

«Äh, alle. Also die Doktoranden. Martin Börker, Claus, Abdul, Katja Gronemeyer … Maja natürlich …»

Stopp!

Maja.

Maja!

In meinem Kopf kam etwas in Gang.

«Ha… Haben Sie zufällig noch irgendwo zusammengesessen hinterher?», fragte ich ins Handy. «Maja und Sie?»

«Maja? Äh, nein. Ich hab sie nach Haus gebracht, wie immer. Ist ja gleich um die Ecke vom Institut.»

Gleich um die Ecke vom Institut.

Ich biss die Zähne zusammen. Eine Idee, eine hartnäckige Idee in meinem Kopf. Doch ich hatte die Frau von Anfang an nicht ausstehen können, und das bedeutete, dass ich doppelt vorsichtig sein musste.

Vorsichtig? Sie befand sich in diesem Moment in einem abgeschotteten Gebäude – gemeinsam mit Albrecht, Horst Wolfram und dem Traumfänger! Der finstere, unbekannte Täter, für den wir uns die Beine in den Bauch standen, hatte sich nicht blicken lassen. Stattdessen Joachim Merz. Und mein Ehemann.

Der Täter, der von außen kommen musste, wie Cornelius mir den Gedankengang unseres Chefs referiert hatte. Die Personalien sämtlicher Stationsmitarbeiter waren per Computer abgeglichen worden.

Aber Maja Werden war keine Mitarbeiterin!

Trotzdem ging sie auf der Station ein und aus.

Und schrieb ihre Doktorarbeit über Insassen in Sicherungsverwahrung.

Über Männer wie Max Freiligrath.

«O mein Gott», flüsterte ich.

«Frau Friedrichs?»

«Herr Wolczyk …» Meine Gedanken überschlugen sich. Konnte der Mann mir noch irgendwie helfen?

Könnten Sie sich eventuell vorstellen, dass Ihre Nichtfreundin in Wahrheit eine psychopathische Serienmörderin ist?

«Danke für den Anruf», murmelte ich. «Ich glaub, das war wichtig.»

Und legte auf.

«Ist was nicht in Ordnung?» Dennis sah mich unbehaglich an.

«Frag mich, was in Ordnung ist», murmelte ich.

Kurzwahl. Das Revier.

«Hannah?» Wieder Nils Lehmann. «Ich wollte dich auch gerade anrufen. Sie sind jetzt drin in dem Gebäude …»

«Ist dein Rechner an?»

«Was?»

«Das Rechtspsychologische Institut in Braunschweig! Die müssen eine Internetseite haben! Sag mir, ob es da ein Foto von Maja Werden gibt!»

Er stellte keine Fragen mehr. Ich hörte ihn tippen.

Sekunden verstrichen.

«Ich hab die Seite …» Gemurmelt. «Öffnungszeiten … Aufgaben … Hier, Personal und … Hui, die sieht ja gefährlich aus.»

Stimmt, er hatte die Frau noch nicht gesehen.

«Möglicherweise ist sie das auch», sagte ich. «Nils, ich möchte, dass du dieses Foto ausdruckst und damit auf der Stelle ins Fleurs du Mal zu Jacqueline …»

«Die wird aber arbeiten …»

«Das ist mir scheißegal!», brüllte ich.

Eine deutlich gehobene Augenbraue von meinem Ehemann – die andere war unsichtbar unter dem Turban, den ich ihm angelegt hatte.

«Wenn sie gerade einen Kunden hat, ist der sowieso gefesselt», sagte ich etwas leiser. «Druck das Foto aus! Zeig es ihr!»

Schweigen. Dann: «Du denkst, das ist …» Ein Atemzug. «Catwoman?»

«Druck’s aus!», knurrte ich.

«Nein …» Ein Rascheln. «Nein, Jacqueline hat ein Netbook. Warte, ich ruf sie an! Eine Minute!»

Kriminalhauptmeister Lehmann war offenbar im Besitz der Durchwahl der jungen Dame. In seinem Handy vermutlich.

Murmeln am anderen Ende der Verbindung.

Dennis sah mich aus großen Augen an.

Ich biss die Zähne zusammen und lauschte.

Rascheln.

«Ja.» Knapp. «Sie ist es.»

Ich ließ das Handy sinken.

«Verdammt!», flüsterte ich.

***

«Nun, mein lieber Herr Albrecht», hörte der Hauptkommissar die Stimme des Traumfängers. «Wenn meine Wahrnehmung mich nicht täuscht, haben Sie es nunmehr realisiert. Richtig! Darf ich vorstellen: Ihre Täterin.»

Der Schlag, den die Worte ihm versetzten, kam erwartet.

Jörg Albrecht spürte ihn dennoch.

«Und wieder können Sie sehen, dass ich mein Wort halte», fuhr Freiligrath fort. «Hatte ich Ihnen nicht versprochen, dass wir Ihren Fall vor Ende dieses Abends klären würden? Keine Sorge, zu den Details werden wir noch kommen: Motiv, Gelegenheit, Mittel und so weiter. Für den Moment …»

Er ließ den Blick zur Seite wandern, und im selben Augenblick stellte Albrecht fest, dass er sich wieder bewegen konnte. Er zwang sich, in Horst Wolframs Richtung zu sehen.

Tot. Der graue Mann atmete noch, sein Herz schlug, doch der Hauptkommissar hatte Zweifel, dass jene Essenz des menschlichen Wesens, die man Bewusstsein nennen konnte oder, altmodisch, Seele, bei Horst Wolfram noch vorhanden war.

Der Körper des ehemaligen Ermittlers saß – hing – im Korbsessel.

Doch es war niemand mehr zu Hause.

Jörg Albrecht hatte sich niemals vorstellen können, wie ein Mensch einfach so sterben konnte. Aus Angst. Weil sein größter Albtraum Wirklichkeit wurde.

So also sieht das aus.

Eine Sekunde lang war auch er selbst nichts als ein distanzierter, voyeuristischer Beobachter.

Die Seele stirbt, dachte er. Und der Rest folgt ihr.

Er betete, dass sie bei Horst Wolfram tatsächlich unwiderruflich verloschen war.

«Letztendlich ist es uns tatsächlich gelungen, das Trauma zu beheben», murmelte Freiligrath. «Er musste sich erinnern, das war wichtig. Sich den Menschen ins Gedächtnis zurückrufen, der er an jenem Tag gewesen ist, inklusive all der Ängste, die er wie jedes Individuum in sich trug.»

«Und seine größte Angst …» Albrecht erschrak, als er seine eigene Stimme hörte. Sie klang dünn und brüchig. «Sie wollen mir sagen, schlimmer als eine tote Tochter ist eine Tochter, die …»

«War das nicht Ihr Wunsch, Jörg Albrecht?»

Der Hauptkommissar hob den Blick. Maja sah ihn an, über den Lauf der Waffe hinweg. Diese bemerkenswerten Brauen. Diese Augen, die niemals blinzelten. Dasselbe Gesicht, derselbe Ausdruck, der kein Ausdruck war und doch … unbestimmter jetzt, als wäre Bewegung in die Züge hinter der Maske gekommen, zu schwach noch, um die Verkleidung zu sprengen, aber doch vorhanden.

«Die Dinge, so wie sie in Wahrheit sind», sagte die junge Frau. «Sie scheinen Ihnen nicht zu gefallen.»

«Maja.» Es kostete ihn unendliche Mühe, den Namen auszusprechen.

Es war nicht ihr Name. Die Frau, die diesen Namen trug, hatte niemals existiert.

«Ja, ich habe diese Menschen getötet», sagte sie ruhig. «Ihre Mitarbeiter, die beiden Fernsehleute, den Professor.» Sie hielt den Bruchteil einer Sekunde inne. «Focco Neverding. Und, um Ihrer Frage zuvorzukommen: Ja, ich habe es aus eigenem Antrieb getan. Aus eigenem Entschluss. Nicht um irgendjemandem …» Ein Blick zu Freiligrath. «… einen Gefallen zu tun.»

«Vielleicht sollten wir es so ausdrücken, dass wir in dieser Angelegenheit gleichgerichtete Interessen hatten», schlug der Traumfänger vor.

«Vielleicht sollten wir es so ausdrücken, dass ich die Taten begangen habe», korrigierte Maja kühl. «Wenn Sie etwas wissen wollen, Hauptkommissar, sollten Sie mich fragen.»

Albrecht sah von einem zum anderen.

Waren sie nun verbündet oder nicht?

Das Herz des Menschen ist dunkel.

Freiligrath hatte die Worte in einem besonderen Tonfall gesprochen. Es war ein Code. Daraufhin hatte Maja den Raum betreten.

«Wenn Sie mir …», begann Albrecht.

«Halt!» Freiligrath hob die Hand.

Maja drehte sich halb zur Seite, auf ihrer Stirn erschien eine Falte des Unwillens.

Gefühle. Sie konnte oder wollte sie nicht mehr vollständig unter Kontrolle halten.

Doch auch Freiligraths Augenbrauen zogen sich zusammen, als ob er …

Er lauschte.

Und tatsächlich:

Geräusche waren zu hören, gedämpft durch das jahrhundertealte Mauerwerk. Schritte.

Eilige Schritte, Getrampel. Mehrere, nein, viele Menschen. Stimmen.

Im Obergeschoss? Schon auf der Treppe?

Albrechts Herz fing unvermittelt an zu jagen.

Er sah, wie sich Freiligraths Gesichtsausdruck veränderte und der Psychologe einen Blick mit Werden wechselte.

«Schneller als gedacht», murmelte er. «Los!», zischte er in Richtung Maja.

Die junge Frau warf ihm einen unfreundlichen Blick zu, dann schob sie sich an Albrecht vorbei und verschwand im Gebüsch.

Die Chance kam unerwartet, doch Albrecht erkannte sie auf der Stelle und spannte sich an. Freiligrath war keine drei Schritte von ihm entfernt.

Doch im selben Moment …

***

«Bitte!» Die Gestalt im Pförtnerhäuschen sah uns an, mit einem Gesichtsausdruck, dass sie mir beinahe leidtat.

Beinahe.

«Bitte!», flehte die Frau in ihr Mikrophon. «Ich kann Sie nicht reinlassen, bevor der Doktor …» Sie atmete auf. «Der Doktor!»

Dr. Seidel stürmte mit finsterem Gesichtsausdruck den zentralen Gang der Abteilung hinab, sodass die Schöße seines Kittels hinter ihm herflatterten.

Die Pförtnerin drückte sich in einen Winkel ihrer Loge, als er sich vor das Mikrophon schob und unser Einsatzkommando durch die Panzerglasscheibe anstarrte.

«Was soll dieser Aufzug? Wollen Sie zu Dr. Freiligrath? Wenn Sie einen Haftbefehl …»

«Gefahr im Verzug!», zischte ich. «Machen Sie auf der Stelle die Tür auf!»

«Was?»

«Öffnen Sie die Tür!», brüllte ich und trat einen halben Schritt zur Seite, sodass einer von Cornelius’ Beamten sichtbar wurde, mit gezogener Waffe. «Oder wir öffnen sie.»

Mit versteinertem Gesicht drückte der Oberarzt einen Knopf.

Ein dezentes Zischen, und die elektronische Schleuse glitt auf.

Cornelius stürmte mit seinen Männern an mir vorbei.

Mit kalkweißem Gesicht kam Seidel auf den Gang. «Was zum …»

«Wo ist Maja Werden?»

«Was?» Verblüffte Miene. «Ich habe sie den ganzen Tag noch nicht …»

«Wo geht es zum Keller?»

«Der …» Der Mediziner schüttelte sich, dann deutete er auf einen bräunlichen Streifen, der der Länge des Korridors folgte. «Da …»

Er zuckte zusammen.

Wir beide zuckten. In diesem Moment, von einer Sekunde zur anderen, ertönte ein greller, schriller, schreiender Laut, anhaltend, auf und ab.

Eine Alarmsirene.

Und eine Sekunde später brach die Hölle los.

***

Das Gellen der Sirenen wurde von den Wänden des Kellergewölbes zurückgeworfen. Hall und Widerhall.

Albrecht war zu langsam gewesen.

Das Überraschungsmoment. Im selben Augenblick, in dem er begriff, was geschah, war Maja zurück und trat wieder an Freiligraths Seite, die Waffe abwechselnd auf Wolfram und Albrecht gerichtet.

Der Traumfänger stand auf, in demonstrativer Ruhe.

Er will beweisen, dass er die Situation nach wie vor unter Kontrolle hat, fuhr Albrecht durch den Kopf.

Und er hatte sie unter Kontrolle, voll und ganz.

Wann mochte er damit begonnen haben, sämtliche Insassen der geschlossenen Abteilung auf einen Horror vor Feuer, Feueralarm, der Feuerwehr zu fixieren? Unmittelbar nach seiner Einweisung vermutlich.

Der Hauptkommissar konnte sich das Chaos ausmalen, das in diesen Augenblicken auf den oberen Gängen losbrach.

Ein Plan, seit Jahren vorbereitet, doch es musste einen Grund geben, dass der Psychologe gezwungen war, ihn jetzt so überstürzt umzusetzen:

Friedrichs. Die niedersächsischen Beamten. Auf irgendeine Weise mussten sie erkannt haben, was in den Tiefen der Abteilung vorging.

Ein Stechen in Albrechts Hinterkopf. Hilfe. Hilfe war unterwegs.

«Wir werden nun einen kleinen Ausflug unternehmen», murmelte Freiligrath und nickte dem Hauptkommissar auffordernd zu. «Helfen Sie Herrn Wolfram!»

«Was?»

«Was er erfahren hat, hat ihn retraumatisiert. Aber er kann laufen, wenn Sie ihm helfen. – Maja!»

Die junge Frau trat einen Schritt näher, die Pistole auf Wolfram gerichtet.

«Die Alternative würde ich außerordentlich bedauern», erklärte Freiligrath. «Ich persönlich töte nicht, falls es noch notwendig ist, das ausdrücklich zu betonen. Insbesondere keine kleinen Mädchen. Ehrlich gesagt war ich fast ein wenig enttäuscht, dass Sie das nicht erkannt haben, nachdem Ihnen doch klar war, dass Sie einen Mann der Ehre vor sich haben. Was nun Frau Werden anbetrifft …»

«… kann sie für sich selbst sprechen.» Maja kam noch einen Schritt näher. «Helfen Sie ihm auf! Da rüber!» Eine knappe Bewegung mit der Waffe, über den künstlichen Weiher hinweg, zu der kapellenartigen Ruine, die mit dem Mauerwerk des Kellers verwachsen schien.

Maja tötete.

Sie musste es nicht betonen.

Albrecht zog den älteren Mann aus seinem Stuhl empor. Er gehorchte wie eine überdimensionierte Gliederpuppe und richtete sich auf, doch es war keine Spannung zu spüren in diesem Körper, kein Bewusstsein, keine Bewegung aus eigenem Antrieb. Schritt für Schritt gingen sie einen gepflasterten Pfad entlang zur anderen Seite des Teichs.

Maja war zwei Schritte hinter ihnen. Ihre Waffe, Albrecht wusste es, war nicht auf ihn, sondern auf Wolfram gerichtet.

«Stehen bleiben!»

Freiligrath schob sich an den beiden Männern vorbei ins Innere des winzigen Rundbaus.

Eine Sekunde später war ein zufriedenes Brummen zu hören, über den Sirenenlärm hinweg.

Albrecht wurde vorwärtsgestoßen, Wolfram mit ihm. Ein unangenehmes Geräusch, ein Zug an seinem Arm, als die Stirn des älteren Mannes gegen das Mauerwerk schrammte.

«Verdammt!» Albrecht stützte ihn. Blut lief über Wolframs Gesicht. «Er ist verletzt!»

Maja hob ihre Waffe eine Winzigkeit, den Lauf auf Wolfram, die Augen auf den Hauptkommissar gerichtet.

«Wir schaffen es!», presste Albrecht hervor und fasste den älteren Mann fester.

Wolfram gehorchte, doch Albrecht musste ihm nun jeden einzelnen Schritt weisen.

Das Innere des Kapellenraumes war kaum größer als eine WC-Kabine. Es roch auch ähnlich. Vermutlich einer der wenigen Orte der Abteilung, an dem die verhaltensgestörten Patienten unbeobachtet waren.

Von Freiligrath keine Spur.

Albrecht kniff die Augen zusammen. Erst jetzt sah er einen Schatten, tiefer als die Schatten ringsum, im hintersten Winkel des Kapellenraums. Mattes Metall, funktioneller als das künstliche Draußen des Kellergewölbes. Eine Tür.

Sie stand offen.

Eine Taschenlampe flammte auf. «Bitte schön!» Einladend wies Freiligrath ins Innere.

Ein langgestreckter Gang, Wände, Boden, Decke aus nacktem Beton, über den die Feuchtigkeit sickerte.

«Der große Vorteil von Rettungsplänen ist ihre Flexibilität», bemerkte der Traumfänger. «Im selben Moment, in dem Frau Werden den Alarm aktiviert hat, hat sich diese Pforte geöffnet. – Riechen Sie ihn? Den Atem der Freiheit?»

«Keine Ahnung», brummte Albrecht. «Muss mich erkältet haben. Meine Nase ist dicht.»

Der Gang war eben breit genug, dass die Gefangenen nebeneinander gehen konnten. Freiligrath vorweg, Maja mit ihrer Waffe hinter ihnen.

Wolframs Wunde hörte nicht auf zu bluten. Der Hauptkommissar wusste, dass im Kopfbereich auch harmlose Platzwunden erheblich bluten konnten. Doch bei einem Menschen in einem solchen Allgemeinzustand war keine Wunde harmlos.

Das Rauschen, Tosen, Pulsieren des Wassers war allgegenwärtig. Im Boden, in den Wänden. In der Decke über ihnen.

Im Innern der Flut, dachte Jörg Albrecht. Und der Sog trägt uns auf die Staumauer zu.

Doch sie würden sie nicht erreichen.

Mechanisch machte der ältere Mann jeden Schritt Albrechts mit, doch der Hauptkommissar spürte, dass er mit jedem Meter schwächer wurde.

Wir werden es nicht schaffen, dachte er. Ganz gleich, wo sie mit uns hinwollen.

Wir werden es nicht schaffen.

***

«Bitte … Bitte! Frau Bergheim!»

Es herrschte Chaos auf allen Seiten.

Dr. Seidels Backenbart zitterte. Sein Blick hatte sich an einer einzelnen Patientin festgesogen, die einen halbherzigen Versuch machte, sich vom Tumult fernzuhalten, der auf den Fluren losgebrochen war. Ich glaubte die alte Dame wiederzuerkennen, die wir am ersten Tag im Fernsehraum gesehen hatten.

«Feuer! Feuer! Feuer! Feuer!»

Ihre Lippen standen nicht still, ihr Blick war gehetzt, ging hierhin, dorthin.

Roh wurde sie von anderen Patienten angerempelt, die sie beiseitedrängten, auf uns zustürmten, alle mit demselben panischen Ausdruck in den weit aufgerissenen Augen, dem geflüsterten, gezischten, gebrüllten Wort: «Feuer!»

… bis sie gegen die Mauer des niedersächsischen Eingreiftrupps prallten, der langsam, viel zu langsam den Flur hinab vordrang. Seidel und ich waren ihm mehr als zwanzig Schritte voraus.

«Ganz ruhig, Frau Bergheim!» Beschwörend fixierte der Mediziner die Frau. «Ganz ruhig! Es ist alles in Ordnung.»

Mit halb ausgebreiteten Armen kam er näher.

Interessante Taktik.

Könnte sogar klappen, dachte ich. Wenn sie ein Pferd oder eine Kuh wäre.

Doch ich wäre ihm dankbar gewesen, wenn er sich an einen der kräftigeren Patienten gehalten hätte.

Ein vierschrötiger Kerl in Bomberjacke nahm gerade zum dritten oder vierten Mal Anlauf gegen Yawuz Cornelius. Bis zu diesem Moment ohne Erfolg.

Wir kommen zu spät!

Der Gedanke hämmerte durch meinen Kopf, kein echter Gedanke in Wahrheit. Keine Zeit, keine Luft für echte Gedanken.

Freiligrath.

Der merkwürdige Tick, den sämtliche Patienten in Sachen Feuer und Feuerwehr zu haben schienen. Ich hatte auf der Stelle begriffen, was hier vorging und warum.

Um uns vom Keller fernzuhalten.

Eine neue, letzte Teufelei des Traumfängers, effektiv wie all seine Spielchen.

Was ging in diesen Augenblicken im Keller vor? Bilder schossen durch mein Hirn, eins schlimmer als das andere.

Die beiden Täter in einem Raum versammelt: Freiligrath, der seine Opfer an ihrer eigenen Angst zugrunde gehen ließ, und Maja Werden, unsere Mörderin.

Und die beiden Beamten, die mit vierundzwanzig Jahren Abstand die Ermittlungen geleitet hatten.

Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, darüber nachzugrübeln, was genau das alles miteinander zu tun hatte.

Was ich wusste – spürte –, war, dass die Zeit ablief.

Dass wir es nicht schaffen würden, weil die Beamten unmöglich mit Gewalt gegen die Insassen der Psychiatrie vorgehen, geschweige denn einen Schuss abfeuern konnten – und sei es nur zur Warnung.

Seidel war noch immer mit der alten Frau beschäftigt. Weiter hinten im Gang konnte ich eine Reihe pastellfarbener Kittel ausmachen, die bei anderen Patienten ähnliche Manöver versuchten, mit ähnlichem Erfolg.

Und noch weiter hinten eine schattenhafte Öffnung, die vom Hauptkorridor abzuzweigen schien. Der Kellerabgang.

Unerreichbar

Ich biss die Zähne zusammen.

Ein Blick über die Schulter.

Keine Chance, mich mit Cornelius zu verständigen.

Warum auch immer es Seidel und mir leichter fiel, uns gegen den Strom durch den panischen Haufen der Patienten zu drängen – vielleicht, weil der Traumfänger ihnen obendrein noch einen besonderen Hass gegen Polizeiuniformen eingeimpft hatte …

«Seidel!»

«Bitte … Ganz ruhig …» Fürsorglich legte er der alten Dame den Arm um die Schulter.

«Gibt es einen anderen Weg in den Keller?», brüllte ich ihm zu.

«Ganz ruhig, Frau Bergheim …» Blinzelnd sah er zu mir auf. «Nein», murmelte er. «Leider nicht. Höchstens …» Eine Veränderung auf seinem Gesicht. Überraschung. Entsetztes, plötzliches Begreifen.

«Höchstens die Notausgänge.»

***

Tosendes, brüllendes Wasser.

Sturzbäche, die aus Öffnungen in der Decke und den Wänden in die bodenlose Tiefe rauschten, einen Hexenkessel stiebender Gischt, eingefasst von senkrechten Betonwänden.

Eine einzelne hölzerne Planke führte über den brodelnden Abgrund hinweg auf die andere Seite der unterirdischen Kaverne, wo ein schattenhafter Hohlweg eine Fluchtmöglichkeit versprach.

«Die alte Zisterne der Klosteranlage», erklärte Freiligrath, der den schmalen Steg bereits passiert hatte und an einer niedrigen Betonbrüstung lehnte. «Für gewöhnlich wird sie heute nicht mehr gefüllt, doch im selben Moment, in dem der Feueralarm ausgelöst wurde, haben sich die Schleusentore geschlossen.» Er hob die Schultern. «Löschwasser. Man kann nie genug davon haben. Irgendwie unheimlich, finden Sie nicht?»

Jörg Albrecht war am Eingang der Kammer stehen geblieben, unfähig zu jedem weiteren Schritt. «Das können Sie unmöglich …»

Ein feines Lächeln. «Oh, ich hatte in den vergangenen Jahren ausreichend Muße, mich in die Materie einzulesen. Die Anstaltsbibliothek ist in dieser Hinsicht hervorragend ausgestattet. – Was allerdings Ihre Frage betrifft: Nein, speziell für Sie konnte selbst ich das nicht gesondert vorbereiten. Doch zuweilen ergeben sich erstaunliche Koinzidenzen, die wir mit all unserem Bedürfnis nach einer logischen Abfolge von Ursache und Wirkung nicht zu durchschauen vermögen.»

Der Hauptkommissar spürte den Druck der Pistolenmündung in seinem Rücken. Unerbittlich schob sie ihn vorwärts, Horst Wolfram mit ihm.

Schritt für Schritt dem rauschenden Wasser, dem Tod in der Tiefe entgegen, Meter um Meter. Wasser, brüllendes Wasser, die Luft erfüllt vom kalten, nassen Tod.

«Frau Werden?» Max Freiligraths Stimme. «Erinnern Sie sich? Wir beide haben eine Vereinbarung.»

Sie wird nicht reagieren!

Der bohrende Druck des Pistolenlaufs, stärker, noch einmal stärker, dann …

Dann wurde die Waffe zurückgezogen.

Zwei Schritte trennten die Gefangenen vom Rand des Abgrunds.

«Umdrehen!» Maja.

Zentimeterweise gehorchte Albrecht, wandte sich um. Seine Finger waren wie Eis, suchten die Brüstung, fanden sie im selben Moment, in dem Wolfram an seiner Seite zu Boden sank.

Maja stand drei Schritte entfernt.

Es war ein Schock.

Jörg Albrecht fühlte sich zurückversetzt, vierundzwanzig Stunden nur, und doch schien diese Erinnerung einem anderen Leben anzugehören:

Die Weinpinte in der Braunschweiger Altstadt. Die Lichter und Schatten der kleinen Öllampe, die auf dem Gesicht der jungen Frau Bewegung vorgetäuscht hatten, wo keine sein konnte.

Es war genau dasselbe. Oder? War es tatsächlich dasselbe? Waren es Reflexionen der Notbeleuchtung auf dem wirbelnden Wasser, die den Eindruck von Bewegung erschufen, oder ging tatsächlich etwas vor auf diesen ewig ungerührten Zügen?

«Maja?», fragte er leise.

Das Wort genügte, um den Bann zu brechen. Ein Lidschlag – und die Maske saß wieder perfekt.

Nichts als sein Tod stand in ihren Augen zu lesen.

Der Hauptkommissar spürte das wirbelnde Rauschen, mit dem sich das steinerne Bassin mit brausendem, strudelndem Wasser füllte, Zoll um Zoll.

Die Rollen waren perfekt verteilt.

Max Freiligrath erfreute sich an Jörg Albrechts größter Angst.

Maja Werden tötete.

«Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis, Frau Werden.»

Albrecht sah über die Schulter. Freiligrath lümmelte auf der Brüstung, sicher und unerreichbar auf der anderen Seite des Abgrunds.

«Und ich kann Ihnen versprechen, dass Sie es nicht bereuen werden, meine Liebe», versicherte der Traumfänger. «Die Informationen, die ich – so denke ich – Herrn Albrecht schuldig bin, dürften auch für Sie nicht vollständig ohne Interesse sein. Die Frage der Wahrnehmung, die ich schon verschiedentlich angesprochen habe, stellt das Kernelement unseres gesamten gemeinsamen Falls dar. Auf allen Seiten.»

Er sah den Hauptkommissar an. «Nehmen wir Sie, Herr Albrecht. Warum haben Sie Frau Werden zu keinem Zeitpunkt verdächtigt? Die Antwort ist simpel: Nach Ihrer Wahrnehmung waren Sie selbst es, der diese junge Dame in den Fall gezogen hatte. Ursache und Wirkung: Nachdem Ihr Bewusstsein Frau Werden einmal auf Seiten der Ermittler eingeordnet hatte, war die Alternative schlicht nicht mehr denkbar.»

Ein nachdenklicher Blick auf das Tosen in der Tiefe. «Was nun jenen Tag in der Elbmündung betrifft: Der Wellengang war, zugegeben, nicht ganz so dramatisch wie hier, aber doch eindrucksvoll genug.

Stellen Sie sich die Szene vor!

Die Männer auf dem Kutter der Küstenwache: Sie beobachten, wie ein kleines Mädchen im roten Anorak ins Wasser stürzt, die grauen Wellen über ihm zusammenschlagen. Ihre Wahrnehmung läuft nun durch den Schwamm ihres Bewusstseins, der aufgedunsen ist von der Summe ihrer Erfahrungen: Ein kleines Mädchen, das von einem bösen Mann ins Wasser geworfen wird, muss ertrinken. Die Möglichkeit, dass dieser böse Mann dem kleinen Mädchen eine Schwimmweste unter den roten Anorak gezogen hat, blenden sie vollständig aus.

Bemerken sie nichts davon, dass das Mädchen nicht versinkt? Nun, bedenken Sie, Herr Albrecht: Die Sicht ist erheblich eingeschränkt angesichts der hohen Dünung draußen auf dem Wasser. Was eine halbe Seemeile entfernt geschieht, ist in diesem Chaos nur unter Mühe auszumachen. Die Wahrnehmung wird unzuverlässig.

Und so erliegen die Männer auf dem Kutter angesichts der Boote, die sie doch selbst per Notsignal herbeigerufen haben, einer schicksalhaften Fehleinschätzung. Sie kommen überhaupt nicht auf den Gedanken, dass man sich auf einem dieser Boote im Voraus über die genauen Strömungsverhältnisse informiert haben könnte. Dass man das kleine Mädchen womöglich längst an Bord genommen hat, während ringsum die Suche noch läuft. Sie blenden die Möglichkeit aus, dass sich auf diesem Boot Mitarbeiter des bösen Mannes befinden könnten, die …»

«Mitarbeiter?»

Freiligrath hob eine Augenbraue. «Offiziell natürlich Beschäftigte der Neverding Holding. Allerdings Angehörige eines kleinen Kreises von Mitarbeitern, deren Schulungsprogramm ich persönlich entworfen habe. Ein sehr effektives Programm, wie ich hinzufügen darf, weil es in einer sehr frühen Lebensphase einsetzt, in der der menschliche Geist noch aufnahmefähig ist.»

Ein schmerzhaftes Pochen in Albrechts Schädel.

Neverding passt nicht ins Bild.

Sie haben Neverding vergessen.

«Die Kinderheime», murmelte er. «Die Waisenhäuser. Sie haben diese Kinder …»

Der Traumfänger hob beschwichtigend die Hand. «Immer nur einige wenige, die sich in unseren Tests als vielversprechend erwiesen haben. Und in den letzten Jahren aus nachvollziehbaren Gründen natürlich nicht ich persönlich, sondern besonders zuverlässige …» Er hob die Schultern. «Das System ergänzt sich selbst, könnte man sagen. Die meisten Probanden sind heute selbstredend mit Tätigkeiten im Interesse der Neverding Holding betraut. Sie können sich vorstellen, dass ein Mann wie Focco Neverding angesichts des wachsenden Konkurrenzdrucks in seiner Branche besonderes Interesse an absolut loyalen Mitarbeitern hat. Ich korrigiere: hatte. Und er war es schließlich, der unser Projekt all die Jahre finanziert hat. Andererseits aber sind einige meiner frühesten Probanden mittlerweile selbst zu fähigen Psychologen herangewachsen, auf die ich mich blind verlassen kann.»

Ein Nicken zu Maja.

Albrechts Arme stützten sich auf die Brüstung.

Lass ihn reden! Lass ihn um dein und Wolframs Leben reden!

Gib die richtigen Stichworte – und hör zu, während der perverse Mechanismus des Falles sich vor deinen Ohren entwickelt.

Hör zu – aber achte nicht auf Freiligrath! Achte auf Maja!

Maja war die Täterin. Maja hatte die Waffe. Maja tötete.

Und jetzt gab es keinen Zweifel mehr: In ihren Blick war Bewegung gekommen. Sie hörte zu und bemühte sich, das Gehörte mit dem Schwamm ihres eigenen Bewusstseins überein zu bringen.

Welche Informationen waren neu für sie? War es vor allem die Art und Weise, wie der Traumfänger sie wiedergab, im Plauderton, während er sich in seiner eigenen Genialität sonnte?

Vergiss Freiligrath!

Freiligrath atmet seit einem Vierteljahrhundert gefilterte Luft und ist schon vorher nicht bei Verstand gewesen.

Maja. Maja hat die Waffe, und Maja ist erschüttert.

Wenn ihr eine Chance habt, Horst Wolfram und du, dann ist es Maja.

«Sie haben dem Kind eine Gehirnwäsche verpasst», stellte Albrecht fest.

«Warum nur …» Mit gerunzelter Stirn betrachtete ihn Freiligrath. «Warum nur klingt dieses Wort so vorwurfsvoll aus Ihrem Mund?

Habe ich Ihnen nicht aufgezeigt, wie unzuverlässig unsere Wahrnehmung ist, wie irreführend unsere Erfahrungen und Erinnerungen?

Die Dinge so zu sehen, wie sie sich in Wahrheit verhalten, Herr Albrecht. Diese Dinge zu erkennen: Das und nichts anderes ist das Ziel meines Programms. Es sieht keineswegs vor, junge Menschen zu seelenlosen Monstern zu erziehen.

Vielmehr macht es sie vertraut mit – Tatsachen. Wer sorgt sich wirklich um mich? Wem liege ich wirklich am Herzen? Unsere Probanden haben ausgesprochen glückliche Erinnerungen an ihre Kindheit in den Einrichtungen der Neverding-Stiftung.

Eben weil vielen von ihnen auch die andere Seite bekannt ist: Vernachlässigung. Misshandlung.»

Eine wohlberechnete Pause.

«Pures Desinteresse.

Oder wie würden Sie solche Eltern einschätzen? Einen Vater, der den oberflächlichen Augenschein als Tatsache akzeptiert, sich verkriecht, um sich im Schmerz um seine eigene verwundete Seele zu ergehen?

Anstatt zu suchen.

Lena – Maja – ist im Wissen um solche simplen Wahrheiten aufgewachsen.»

«Wissen Sie …»

Plötzlich sprach Maja. Und ihre Stimme klang fremd.

«Wissen Sie, wie selten es vorkommt, dass ein Mensch, der in der Nordsee ertrinkt, einfach verschwindet?»

Der Hauptkommissar spürte ihre Augen auf sich.

«In der Tat.» Freiligrath nickte. «Äußerst selten. In aller Regel wird der Körper früher oder später irgendwo angeschwemmt.»

Der Hauptkommissar schüttelte sich.

Überflüssig, noch einen Gedanken an den Mann zu verschwenden.

«Maja …» Albrecht richtete seine Augen auf sie.

Die Maske auf ihrem Gesicht war im Begriff zu zerfließen. Gedanken, Gefühle, widerstreitende Empfindungen, abzulesen wie durch poliertes Glas.

Verwundet. Verletzt.

Er sah ihren Seitenblick, sah, wie sie Freiligrath anschaute.

Unsere Probanden haben ausgesprochen glückliche Erinnerungen an ihre Kindheit in den Einrichtungen der Neverding-Stiftung.

Vermutlich hatte sie die tatsächlich.

Doch es war unübersehbar, in welcher Weise der Traumfänger über die Mechanismen seines großen Plans geplaudert hatte – und wie Maja Werden jetzt darauf reagierte.

Manipulation, dachte Jörg Albrecht.

Nein, gezwungen hatte Freiligrath keinen Menschen. Zwang übte er genauso wenig aus, wie er log. Und doch war nun, nach vierundzwanzig Jahren, alles so gekommen, wie er es die ganze Zeit geplant hatte.

Für das Opfer.

Und die Täterin.

Spielfiguren Maximilian Freiligraths. Betrogen, der eine wie die andere.

Die Frau, die Ole Hartung, Kerstin Ebert und all die anderen Menschen getötet hatte. Nicht in einem Akt der Selbstverteidigung. Nicht im Affekt. In einem Monate, Jahre vorbereiteten Plan. Einem Feldzug der Rache für etwas …

«Maja, Sie können unmöglich glauben, dass der Wahnsinn, den dieser Mann redet, die Wahrheit ist!»

Sie sah ihn an. Öffnete den Mund.

Die Waffe war noch immer auf Jörg Albrecht gerichtet, doch sie zitterte in ihrer Hand.

Es war gespenstisch.

Dieses Bild. Das Bild ihres Gesichts, auf dem niemals auch nur die Andeutung eines Gefühls zu lesen gewesen war: Es veränderte sich, in einer Geschwindigkeit, dass Albrecht davon schwindlig wurde.

Ja, er hatte all das schon einmal gesehen.

Aber nicht gestern Abend in der Pinte.

Es war kaum eine halbe Stunde her, dass Horst Wolfram aus seiner jahrzehntelangen Totenstarre erwacht und zu den Lebenden zurückgekehrt war – um ins Angesicht seiner größten Angst zu blicken.

Hatte Maximilian Freiligrath nicht damit gerechnet, dass genau dasselbe noch einmal geschehen könnte?

War es ihm gleichgültig gewesen?

Ist es tatsächlich dasselbe?, dachte Jörg Albrecht. Das Erwachen einer Schlafenden? Das urplötzliche, schockartige Begreifen?

Die Muskeln an Majas Hals spannten sich an, als sie versuchte, zu sprechen.

«Wa…»

«Was Frau Werden zum Ausdruck bringen möchte …»

«Halten Sie den Mund!», knurrte Albrecht in Richtung Freiligrath.

«Was …», flüsterte die junge Frau. «Was ist das? Wahrheit

***

«Diese verdammte kleine Ratte!», flüsterte ich.

Ja, Freiligrath war eine Ratte. Eine Ratte, die sich niemals in die Enge treiben ließ, immer einen Ausweg fand.

Und die sich in bester Gesellschaft befand, falls der Traumfänger tatsächlich hier unten unterwegs war.

Die Diode an meinem Schlüsselbund fing nicht mehr als winzige Ausschnitte der roh behauenen Wände des Tunnels, der unregelmäßigen Decke oder des Bodens ein, wo sich hier und da Dinge türmten, über deren Herkunft ich nicht so genau nachdenken wollte.

Doch sobald ich den Lichtkegel bewegte, sah ich das Huschen am Boden, schattenhaft.

Ratten.

Nein, Ratten waren nicht meine persönliche größte Angst. Aber in Sachen Ekelfaktor waren sie verdammt weit oben.

Die Wände waren mit einer glibberigen Feuchtigkeit bedeckt. Ich gab mir alle Mühe, sie nicht zu berühren, während ich mich Schritt für Schritt vortastete, alle paar Meter stehen blieb und lauschte.

Ich hörte Wasser rauschen, aber es war unmöglich zu sagen, aus welcher Richtung.

Vor mir, irgendwo vor mir.

Die Notausgänge hätten dringend mal wieder überprüft werden müssen, hatte Seidel gemurmelt – oder eher gebrüllt, über das Chaos in der Abteilung hinweg –, als er mir den Einstieg gezeigt hatte.

Falls es irgendwelche Verzweigungen gab, sollte ich mich abwärts halten; dann müsste ich unterhalb der künstlichen Wasserfälle im Dompark wieder herauskommen.

Ja, das sei der Weg, den Freiligrath genommen haben müsste, über die Zisternenkammer. Ja, das sei der einzige Weg nach draußen.

Glaubte er sich zu erinnern.

«Verdammt!», flüsterte ich.

Das dumpfe Echo ließ mir die Haare zu Berge stehen.

Ich war bereits an einem halben Dutzend Verzweigungen vorbeigekommen.

Cornelius. Ich hätte mich irgendwie zu Cornelius und seinem Kommando durchkämpfen müssen, selbst wenn das wertvolle Minuten gekostet hätte. Wir hätten uns hier unten verteilen können, und außerdem …

Außerdem waren die Männer und Frauen des Einsatztrupps bewaffnet.

Im Gegensatz zu mir.

Selbst wenn ich durch pures Glück über den Traumfänger und die anderen stolperte …

Seine Gefangenen. Seine und Majas Gefangenen.

Wenn sie noch am Leben waren.

Schließlich hatte unsere Täterin ihre Opfer nicht mit ihrem bösen Blick getötet.

Diesem bösen Blick, der selbst dem kleinen Raoul aufgefallen war.

Wie hatten wir so blind, so unglaublich blind sein können!

Wobei mir klar war, dass die Vorwürfe, die ich mir machte, ein Nichts waren gegen die mentale Selbstgeißelung, der sich unser Herr und Meister mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in diesen Minuten unterzog.

Vorausgesetzt, er war noch …

Ein Geräusch!

Ich erstarrte augenblicklich, die Diode auf den Boden vor mir gerichtet.

Dreck. Feuchter, klammer, stinkender Schlamm. Zentimeterdick. Hier war in den letzten Monaten, wenn nicht Jahren, kein Mensch langgekommen.

Und doch hörte ich Stimmen.

Ich holte Luft und ließ das winzige Licht verlöschen.

Dunkelheit.

Ich spürte die Enge des Tunnels. Meine Blindheit ließ ihn enger werden, als er ohnehin schon war. Erstickend, ohne Luft, von allen Seiten.

Wie ein Sarg. Wie Professor Möllhaus in seinem Sarg.

Reiß dich zusammen, Friedrichs!

Licht. Ein entfernter Schimmer von Licht, unendlich weit weg, so undeutlich, dass ich mir nicht sicher war, ob ich ihn mir nicht nur einbildete. Es dauerte Sekunden, bis ich daran glauben konnte.

Das Licht war wirklich, und die Stimmen …

Nun, da mich nichts mehr ablenkte, schienen sie deutlicher zu werden.

Mit äußerstem Widerwillen tastete ich nach der schmierigen Wand und schob mich vorwärts, zentimeterweise.

Die Stimmen …

«Halten Sie den Mund!»

Das war Albrecht!

Die Antwort konnte ich nicht verstehen, doch die Stimme, selbst wenn sie kaum mehr Ähnlichkeit hatte mit der Stimme, an die ich mich erinnerte.

Maja Werden.

Ich wagte nicht zu atmen. Der Lichtschimmer, jetzt direkt vor mir, aber verschwommen, wie durch einen Duschvorhang, nein, durch das Rauschen der Dusche selbst.

Ein Schritt …

Mein Fuß! Der Boden war glitschig, spiegelglatt wie die Wände. Auf einmal hatte ich keinen Halt mehr und keuchte, als ich hart auf den Boden schlug und noch ein Stück nach vorn rutschte wie auf einer abschüssigen Rampe.

Ich krallte mich fest, in den Wänden, irgendwo.

Wasser! Rauschendes, stürzendes Wasser, direkt vor mir – unter mir.

Ein Vorhang aus stiebender Gischt, dahinter undeutlich eine Kammer im Gestein, notdürftig erhellt.

Eine Hölle brodelnden Wassers unter mir, Gestalten.

***

Was ist das? Wahrheit?

Die Pistole in der Hand der Psychologin zitterte, richtete sich mal auf Albrecht und mal auf den Mann, den bisher nur Maximilian Freiligrath ausdrücklich als ihren Vater bezeichnet hatte.

Sie schien tatsächlich auf eine Antwort zu warten.

Jörg Albrecht schwankte.

Die plötzliche Hilflosigkeit der jungen Frau war unübersehbar.

Ihm war klar, dass er sich nur äußerst unvollkommene Vorstellung von dem machen konnte, was man in den Freiligrath-Neverdingschen Anstalten mit den Kindern angestellt hatte.

Es war eine jener Situationen, über die Joanna und er sich nächtelang Streitgespräche geliefert hätten. Joanna hätte sein Mitleid eingefordert – ultimativ –, und Jörg Albrecht hätte widersprochen.

Er musste an den Dialog mit Maja denken, heute Morgen, auf der Fahrt zum Bahnhof. Die junge Frau hatte darauf bestanden, dass es böse Menschen nicht gäbe.

Keine Schuld. Einzig Kausalitäten, Abfolgen von Ursache und Wirkung.

Sie hatte unrecht.

Maja Werden war nicht mehr das Kind, das der Willkür von Freiligraths Helfershelfern ausgeliefert war. Sie war eine Frau von Ende zwanzig. Sie hatte ein Studium hinter sich, bei Hartmut Möllhaus, den Albrecht nach seiner allzu kurzen Bekanntschaft mit dem Professor als einen Mann einschätzte, der ein Auge darauf hatte, dass seine Studenten sich mit Fragen von Ethik, Moral und Gewissen auseinandersetzten.

Möglich, dass es die junge Frau erschüttert hatte, als Max Freiligrath im Augenblick ihres scheinbaren Sieges das gesamte Ausmaß der Manipulation ganz trocken eingestanden hatte. Möglich, dass es ihr schlicht nicht klar gewesen war.

Doch das machte keinen Unterschied.

Wenn es überhaupt einen Unterschied gab, etwas, das Jörg Albrechts Antwort beeinflussen konnte, dann waren es die Folgen der einen oder anderen Erwiderung.

Sie würde ihn töten. Alles lief darauf hinaus, dass sie ihn und Horst Wolfram töten würde, ganz gleich, was er antwortete.

Aber vielleicht gab es ja doch noch eine Chance. Eine Möglichkeit, Maja Werden nach dem Mund zu reden? Und Freiligrath? Er hatte sich vorgenommen, den Psychologen nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen, doch war es nicht möglich, dass er noch immer Macht über Maja besaß?

Beiden zugleich also? Wenn sie das Gefühl bekamen, tatsächlich auf ganzer Linie gesiegt zu haben? Albrecht war sich sicher, dass zumindest dem Traumfänger dieser Triumph mehr bedeuten würde als die Leiche des Hauptkommissars am Grunde einer alten Klosterzisterne.

Und doch. Die Wahrheit.

Jörg Albrecht hatte keine Wahl.

Mir selbst, dachte er, bin ich die Wahrheit schuldig.

«Wissen Sie …» Er fuhr sich über die Lippen. «Wissen Sie, warum ich Psychologen verabscheue?»

Wenn er geglaubt hatte, im wirren Blick der Frau eine Reaktion hervorzurufen, hatte er sich getäuscht. Nur Freiligrath, auf seiner Seite des Abgrunds, hob die Augenbrauen.

«Wahrheit», erklärte Jörg Albrecht. «Was die Wahrheit ist, das versuche ich seit dreiundzwanzig Jahren herauszufinden – und länger. Immer wieder aufs Neue. Man ruft mich in eine leere Wohnung, und dort liegt der Körper einer Frau, die Kehle mit einem Messer durchgeschnitten.

Ich weiß, dass irgendjemand dieses Messer geführt haben muss, und meine Aufgabe besteht nun darin, herauszufinden, wessen Hand das gewesen ist.

Bisher …» Er zögerte. «Bisher ist mir das jedes Mal gelungen, und selten sieht das Ergebnis am Ende einer solchen Ermittlung so aus, dass man Freudensprünge machen möchte. Es kann sein, dass diese Frau ein Martyrium hinter sich hat. Dass ihr eigener Ehemann sie jahrelang geschlagen, geschändet, ihr unaussprechliches Leid zugefügt hat, bis es hier, auf dem Fußboden dieser leeren Wohnung, schließlich geendet hat.

Eine bittere Wahrheit – aber eine Wahrheit. Ein Ermittlungsergebnis, das ich dem Gericht übergeben kann.»

Maja rührte sich nicht.

«Und dann kommen die Gutachter», fuhr er fort. «Die Psychologen. Und sie fangen an, das Leben sämtlicher Beteiligter umzukrempeln wie eine alte Socke. Das Opfer. Der Täter. Der gesamte Bekanntenkreis. Es wird nicht in Frage gestellt, wessen Hand es war, die das Messer führte, nein. Stattdessen sucht man nach Erklärungen.

Irgendjemand kommt auf die Idee, sich die Kindergartenzeit unseres Täters vorzunehmen, und stellt dabei fest, dass ihm die anderen Kinder immer die Bauklötze weggenommen haben. Wenn man es recht überlegt, mit dieser frühkindlichen Prägung – ist unser Täter nicht in Wahrheit ein Opfer?

Oder aber Ihre Kollegen finden genau das Gegenteil heraus: Unser Täter war es, der sich schon in der Krabbelgruppe die Legosteine der anderen Kinder unter den Nagel gerissen hat. Ist die Kindergärtnerin eingeschritten? Die Eltern? Die Jugendfürsorge? Nein! Das arme, hilflos-aggressive Kind hat niemals Hilfe bekommen. In Wahrheit … ist der Täter ein Opfer?»

Hatte der Blick der jungen Frau sich verändert?

Es spielte keine Rolle. Jörg Albrecht konnte und wollte sich nicht mehr bremsen.

«Sie wollen wissen, was die Wahrheit ist? Dieser Mann hier, Horst Wolfram, war davon überzeugt, dass Sie tot sind! Ja, möglicherweise hat er sich etwas zu schnell davon überzeugen lassen, weil er Dinge, die für einen Menschen überhaupt nicht zu ertragen sind, nicht länger ertragen konnte und einfach den Wunsch hatte, mit ihnen abzuschließen. Ja, möglicherweise hätte er berücksichtigen müssen, dass irgendwie noch eine entfernte theoretische Chance bestand, dass Sie am Leben sein könnten, und sei es auf der Umerziehungsfarm eines Irren. – Ja?»

Ganz langsam löste er sich von der Brüstung, den Blick auf den Pistolenlauf gerichtet.

«Verstehen wir uns? Ja? – Sie hatten eine schwere Kindheit, richtig? Und irgendwelche Menschen haben Ihnen etwas eingetrichtert, das ihnen selbst ein Kerl mit krankem Hirn eingetrichtert hat? Und deshalb mussten Sie bedauerlicherweise töten?»

Sie sah ihn an, ihr Blick unbestimmt, die Pupillen – sie schienen zu schwimmen, sie …

Sie blinzelte.

«So what!», knurrte Jörg Albrecht. «Los! Schießen Sie mich über den Haufen, und diesen Mann dazu! Ich kann Sie nicht daran hindern. Aber wenn Sie wirklich die Wahrheit hören wollen: Sie haben keine Entschuldigung! Sie sind kein Opfer, Sie sind eine Täterin

Ihre Augen. Er sah eine einzelne Träne, die sich langsam aus dem Winkel des rechten Auges löste und über ihre Wange rann.

«Wir alle haben die Wahl», sagte er. «Jede Minute, immer wieder. Einem wird sie leichter gemacht, dem anderen schwerer, aber wir haben die Wahl! Andere Menschen haben weit Schlimmeres durchgemacht als Sie und sind nicht zu Mördern geworden!»

Er schüttelte den Kopf und winkte ab.

In den allermeisten Fällen gelang es ihm, den Menschen, mit denen er zu tun hatte – auch Tätern –, ein gewisses Mindestmaß an Respekt entgegenzubringen. Doch in diesem Fall …

Ein rhythmisches Klatschen ertönte.

Max Freiligrath lehnte auf der Betonbrüstung der Zisterne wie einer der beiden Greise aus der Muppet-Show und schlug in Zeitlupe die Handflächen ineinander.

«Nein, wie eindrucksvoll! Nein, wie hemmungslos und hoffnungslos pathetisch!»

Jörg Albrecht holte Luft …

Und im selben Moment lenkte ihn etwas ab.

Eine Reflexion weit oben nahe der kuppelartigen Decke der Felsenkammer, wo einer der Sturzbäche in die Tiefe donnerte. Eine Reflexion, die … anders war.

Ein Stromstoß fuhr durch Albrechts Körper.

Wir sind nicht allein!

Cornelius! Das Kommando!

Warum schießen sie nicht?

Sieh nicht hin!

Denk nicht darüber nach!

Sie werden kommen – oder nicht.

Doch jetzt bringst du das hier zu Ende!

Jörg Albrechts Blick wandte sich zu Freiligrath. «Wenn die Wahrheit pathetisch ist, Dr. Freiligrath, bitte, dann bin ich pathetisch. Wenn es pathetisch ist, ein Falsch und ein Richtig zu benennen, ein Schwarz und Weiß – dann bin ich pathetisch. Wenn die Alternative darin besteht, alles und jedes zu rechtfertigen, zu entschuldigen, die Wahrheit so lange in einen grauen Brei von Kausalitäten und Wahrnehmungen zu tunken, bis kein Schwarz und Weiß mehr zu erkennen ist. Bitte, dann bin ich verdammt froh, pathetisch zu sein!»

«Mein lieber Herr Albrecht!» Ein Funke blitzte in den Augen des Traumfängers. «Wirklich! Ich bin beeindruckt! Wenn ich geahnt hätte, dass dieser Versuchsaufbau Sie zu derartigen rhetorischen Leistungen ermuntert …»

Und so weiter und so fort.

Die wenigsten Menschen, erinnerte sich Jörg Albrecht, waren in der Lage, die Prozesse des Denkens und des Redens gleichzeitig zu bewältigen.

Max Freiligrath hatte vor ungefähr einem Vierteljahrhundert einmal einen Gedanken gehabt – einen auf mörderische Weise originellen Gedanken –, von dem er seit diesem Zeitpunkt zehrte.

Nicht viel Neues dazugekommen seitdem, dachte der Hauptkommissar. Stattdessen eine Menge heiße Luft und eine Verliebtheit in seine eigene Fähigkeit, die Dinge hinter den Dingen zu erkennen, die es ihm unmöglich machte, zu sehen, was offensichtlich war.

Maja Werdens Pistole zielte auf Jörg Albrechts Stirn, der Finger am Abzug.

Die junge Frau musste den zweiten Arm zu Hilfe nehmen, um ihre Hand am Zittern zu hindern.

Ihr Blick huschte unstet zwischen Albrecht und dem reglosen Wolfram hin und her.

Kein bewusstes Denken. Majas bewusstes Denken war gefesselt.

Albrecht und Wolfram.

Alles andere war unsichtbar – für sie wie für Maximilian Freiligrath.

Jörg Albrecht glaubte die Blicke zu spüren, die Blicke des Beobachters in seinem Versteck.

Warum schießt er nicht?

Eine Eliteeinheit, Männer und Frauen, die ausgebildet waren für Einsätze im Personenschutz, bei Geiselnahmen.

Männer und Frauen, die wussten, wann der finale Rettungsschutz gerechtfertigt war.

Verflucht, auf diese Entfernung hätten sie Maja die Waffe aus der Hand schießen können!

Es gab nur eine Erklärung.

Es war keiner von Cornelius’ Beamten, der sich dort oben verbarg.

Es war Hannah Friedrichs. Unbewaffnet.

Freiligrath schwafelte. Albrecht ließ den Blick nicht von ihm, löste sich aber von der Brüstung, um Maja ebenfalls im Auge zu haben.

Maja. Maja und die Pistole, zitternd, vor seinem Gesicht.

***

Mein Magen gab Geräusche von sich, die in meinem Tunnel, der sich als Einmündung einer unterirdischen Kanalisation entpuppt hatte, widerhallten.

In diesem Moment war ich dankbar für das Donnern, mit dem das Wasser in die Tiefe stürzte.

Ich starrte hilflos auf die Szene.

Minutenlang hatte ich einfach nur mit offenem Mund verfolgt, wie unser Herr und Meister zuerst Maja Werden und dann dem Traumfänger den Kopf gewaschen hatte.

Er hatte sich von der Brüstung gelöst und stand nun zwei Meter vor der Frau, die ihre Pistole auf seine Stirn gerichtet hatte.

Seit neun Jahren arbeitete ich für diesen Mann.

Und war noch nie so stolz darauf gewesen wie in diesem Moment.

Schmerzhaft biss ich die Zähne zusammen.

Hatte Albrecht mich gesehen? Wusste er, dass ich hier war, zum Zuschauen verdammt? Ich war mir nicht sicher. Jedenfalls ließ er sich nichts anmerken.

Doch sobald er das tat, war er tot, das musste ihm so klar sein wie mir.

Verdammt, Friedrichs, tu was!

Mein Herz raste.

Was konnte ich ohne Waffe tun?

Ich konnte Werden ablenken.

Doch würde die Frau auch nur eine Sekunde zögern, auf alles zu schießen, was ihr nur entfernt verdächtig vorkam? Und Ausweichen war nicht.

Mir war klar, dass sie nicht vorhatte, Albrecht und Horst Wolfram gehen zu lassen. Wobei ich Zweifel hatte, dass Wolfram noch gehen konnte. Ich konnte nicht erkennen, ob das zusammengesunkene Etwas noch atmete.

Verdammt, du musst was tun! Wenn du nichts tust, sterben sie auf jeden Fall!

Freiligrath quasselte noch immer. Jörg Albrecht schien ihm zuzuhören, doch ich war mir sicher, dass es in Wahrheit hinter seiner Stirn arbeitete.

Ein Ausweg. Irgendwas, das er tun konnte – das wir tun konnten.

Für den Bruchteil einer Sekunde veränderte sich etwas an ihm. Nein, er sah nicht in meine Richtung. Und doch war es deutlich.

Er weiß, dass du da bist.

Ich konnte nicht sagen, woher ich es wusste, aber ich wusste es.

Er hat keine Chance.

Du bist seine Chance!

***

Es war Friedrichs.

Er hatte sie nicht gesehen, aber er wusste es.

Wusste sie, dass er wusste?

Machte das einen Unterschied?

Friedrichs war unbewaffnet.

Wenn sie …

«Herr Albrecht?»

Dem Hauptkommissar gelang es nicht, sein Zusammenzucken vollständig zu unterdrücken.

«Ist es möglich, dass Sie mir überhaupt nicht mehr zuhören?»

Für einen Lidschlag bewegte sich Freiligraths Blick misstrauisch nach oben, und Albrecht war sich sicher, dass er exakt die Öffnung erfasste, in der sich die Kommissarin verbarg.

Doch schon richtete er sich wieder auf Albrecht, um dann wie zufällig zu seinem eigenen Handgelenk zu wandern.

«Es ist allmählich an der Zeit», murmelte er. «Ich bin mir nicht sicher, ob Sie Ihre eigene Mannschaft mitgebracht haben oder hiesige Beamte, aber wenn sie schon im Gebäude sind, dürfte ihnen dieser Teil des Plans früher oder später aufgehen. – Liebe Frau Werden?» Ein fragender Blick in Richtung Psychologin. «Ich denke, wir sollten uns allmählich auf den Weg machen.»

Maja … Sie zwinkerte. Sie hörte gar nicht mehr auf zu zwinkern, seitdem Jörg Albrecht den Stab über ihr gebrochen hatte. Der Hauptkommissar konnte verfolgen, wie die Gefühle in ihrem Kopf miteinander kämpften.

Doch er war unfähig, den Stand des Gefechts zu bestimmen.

Er straffte sich. Nein, er würde nicht um sein Leben betteln.

Es gab da eine Ader in seinem Innern, die das nicht zuließ. Eine Sokrates-Ader vielleicht oder eine Heiner-Schultz-Ader.

Möglicherweise auch schlicht eine Jörg-Albrecht-Ader. Das, was ihn ausmachte.

Doch andererseits …

Er musste an Joanna denken und, ja, an Friedrichs.

Soviel ich weiß, ist es genau das, was unser Rechtssystem von dem in den Vereinigten Staaten unterscheidet. Bei denen landen die Leute auf dem elektrischen Stuhl. Bei uns haben sie eine Chance, ihre Schuld zu büßen. Sich zu ändern.

Eine Chance, dachte er. Böse oder nicht: Eine Chance verdient jeder Mensch.

«Maja», sagte er und suchte ihren Blick. «Sie können sich immer noch entscheiden. Ich bin mir sicher, dass das Gericht die besonderen Umstände Ihres Falls berücksichtigen würde, und …» Er holte Luft. «Ich würde für Sie aussagen.»

Sie betrachtete ihn. Ihr Blick flatterte, hatte Mühe, sich auf ihn zu richten. Tausend Gefühle in diesem Blick: Schmerz, Hass, Reue und irgendwo … irgendwo der Schimmer einer verzweifelten Hoffnung. Eine Hoffnung worauf?

Vergebung, dachte er. Erlösung.

Mit einem Mal eine ruckartige Bewegung, als ihre Gestalt sich straffte.

«Gehen Sie auf die Brücke!», zischte sie. Ein knappes Nicken zum Boden. «Nehmen Sie ihn mit!»

Diesmal zuckte er nicht. «Ich könnte mich weigern.»

«Und ich könnte Ihnen in den Magen schießen. – Ihnen und … diesem Mann. Glauben Sie mir, ich weiß, wo das Schmerzempfinden am stärksten ausgeprägt ist.»

Albrecht schloss die Augen.

Ja, er glaubte ihr.

Sie hatte sich entschieden, und der Hass hatte sich als stärker erwiesen als alles andere.

Es war bedeutungslos, auf wen er sich in Wahrheit richtete: auf ihn, auf ihren Vater, auf Maximilian Freiligrath – oder auf sich selbst.

Es war ihre Entscheidung, ihm auf diese Weise Ausdruck zu geben.

Albrecht ging in die Hocke. «Herr Wolfram?» Er streckte dem älteren Mann die Hand entgegen.

Wolfram rührte sich nicht.

Albrecht tastete nach dem Hals des Mannes, der Schlagader …

«Aufstehen!» Maja kam einen Schritt näher. «Lassen Sie ihn!»

Der Hauptkommissar richtete sich auf.

Für Wolfram war es das Beste so.

«Los!» Der Lauf wurde um einen Zentimeter gehoben.

Auf seinen Magen gerichtet, wie versprochen.

Jörg Albrecht nickte und drehte sich um.

Ein Durchlass in der Brüstung. Die Planke lag vor ihm, vier, fünf Meter lang. Auf der anderen Seite stand Freiligrath, der irgendetwas sagte.

Albrecht hörte nicht hin.

In der Tiefe donnerte die Flut.

Ich sollte Angst haben, dachte er.

Ist es nicht seltsam, dass ich nichts fühle als ein leichtes Bedauern?

Wenn es einen Sinn hätte, dachte er. Für David Martenberg hätte es einen Sinn gehabt.

Doch so …

Er hob den Fuß.

Und mit einem Mal war sie doch da: die Angst.

Die brodelnde, gierige Tiefe unter ihm. Das Wasser.

Verdammt!

Friedrichs war da! Er wusste, dass sie da war!

Doch sie hatte keine Waffe.

Was sollte sie tun? Was konnte sie ohne Waffe tun?

Es gelang ihm nicht, sich eine Lösung auszumalen, beim besten Willen nicht.

Er konnte nicht … Nein, er konnte nur eins tun:

Vertrauen, dachte er.

Nichts auf der Welt hätte schwerer sein können.

Wir alle haben die Wahl, dachte er, und gegen seinen Willen verzogen sich seine Mundwinkel.

Einem wird sie leichter gemacht, diese Wahl, dem anderen schwerer, aber wir haben die Wahl!

Und bei jedem von uns sieht sie anders aus.

Vertrauen wir.

Er setzte den Fuß auf die Planke.

Standing on a beach with a gun in my hand

Hart und blechern tönte es, ein dumpfer Hall in der Kuppel.

Staring at sea, staring at the sand

Albrecht fuhr herum.

Maja Werden war für eine Sekunde abgelenkt.

Albrecht warf sich auf sie, griff nach ihrem Arm, bekam ihn zu fassen, glitt ab.

Ein Schuss. Schreie.

Maja Werden stieß ihn von sich. Er stolperte zurück. Die Tiefe, die Tiefe unter ihm.

Etwas, das seinen Kopf traf und –

Dunkelheit.

***

Ich sah sie.

Von weitem. Aus der Distanz.

Ich konnte mich nicht erinnern, in welchem Zusammenhang, aber hatte Jörg Albrecht nicht irgendwas erzählt, dass man die Wahrheit eigentlich nur auf diese Weise erfassen kann: aus der Ferne? Als Unbeteiligter?

Ganz unbeteiligt war ich nun nicht.

Der Klassiker wäre ein Stein gewesen, den man irgendwo möglichst weit weg gegen die Wand wirft. Der älteste Trick der Welt.

Leider hatte ich gerade keinen zur Hand.

Und – on a beach with a gun, mit der Pistole am Ufer – es passte einfach perfekt zur Situation.

Jedenfalls war ich immer noch nah genug dran, um mitzukriegen, was passierte.

Mein Handy segelte durch die Luft. Der Sound des Klingeltons füllte die Felsenkammer.

Jörg Albrecht warf sich auf die Frau.

Ich sah, wie ihr die Waffe aus der Hand fiel, war mir aber nicht sicher, ob er es mitbekam.

Sah, wie er stolperte, einen ungeschickten Schritt machte, mit dem Kopf gegen die Brüstung knallte und leblos zusammensackte, während Werden sich mit Mühe fing, selbst halb auf die Brücke taumelte. Sah, wie Freiligrath die Augen aufriss, einen Schritt nach vorn machte …

Er war nicht der Einzige.

Horst Wolfram hatte wie tot an der Brüstung gekauert.

Wir alle hatten ihn für tot oder so gut wie tot gehalten, der Traumfänger und sein Geschöpf eingeschlossen, da bin ich mir sicher.

Doch er war nicht tot.

Ich sah ihn, sah die Pistole in seiner Hand, sah …

Ich schrie.

Doch der Schuss hatte sich schon gelöst, traf Maja Werden von unten in die Kehle. Martin Euler sollte später feststellen, dass die Kugel den Austritt nicht ganz geschafft hatte, sondern in der Schädeldecke stecken geblieben war. Eine Verletzung, die nicht auf der Stelle, aber doch innerhalb weniger Sekunden tödlich gewesen sein muss.

Sekunden.

Ich habe viel darüber nachgedacht.

Manchmal können Sekunden entscheidend sein.

In diesem Fall dürften sie exakt ausgereicht haben, dass Maja Werden, als sie einen unfreiwilligen Schritt machte, in die Tiefe stürzte, in die Hölle brüllenden Wassers …

Dass das, was vierundzwanzig Jahre lang wie die Wahrheit ausgesehen hatte, am Ende doch noch Wahrheit geworden ist.

Dass Lena Wolfram am Ende doch noch ertrunken ist.